Doug Henwood:

A daily report from the World Trade Organization summit, Seattle

Quelle: http://www.panix.com/~dhenwood/Seattle
Henwood ist Herausgeber des "Left Business Observer"
Übersetzt von Max Boehnel

Dienstag, 30. November

In den spaeten 80ern hielten Weltbank und IWF eines ihrer Jahretreffen in Deutschland ab. Zweimal innerhalb von drei Jahren finden sie in Washington statt, aber im dritten besuchen die Herren die Hinterhoefe. Die Banker trafen dort auf lebhafte riots. Das Jahr darauf trafen sich rund 10 Menschen zur Gegendemo hinter dem Washingtoner Sheraton ab, wo sich das Jahreshauptquartier befindet, und wurden prompt festgenommen. Die Presse war desinteressiert. Ich habe mich immer geaergert ueber die Unfaehigkeit von Amerikanern, gehoerig Krach zu schlagen.

Bis heute. Frueh Morgens gingen Tausende nach downtown Seattle und hielten die WTO-Delegierten davon ab, sich zu treffen. Eine Gruppe von schwarz vermummten Anarchisten skandierte einen Slogan von immens ideologischer Kraft und Klarheit: "Capitalism ? No thanks ! We will burn your fucking banks !" Im Verlauf des Tages setzten die Cops - zurueckhaltender als die meisten ihrer Kollegen, aber im Vergleich zu Guilanis New York Police Department geradezu Softies - Pfeffergas und Gummigeschosse ein. Aber downtown bleib weitgehend dicht - und die schwarzen Hubschrauber oben drehten weiter ihre Runden. Am spaeten Nachmittag erklaerte der Buergermeister eine Ausgangssperre, und der Gouverneur aktivierte die Nationalgarde. Die Strassen wurden geraeumt, aber die Aktivisten sollen zu diesem Zeitpunkt laengst zuhause gewesen sein und sich auf den naechsten Tag vorbereitet haben. Da Bill Clinton morgen auf der Tagung sprechen soll, ist man offiziellerseits ohne Zweifel entschlossen, den Weg freizuraeumen. Wir werden sehen.

Neben dem Ausnahmerecht war ein Tageshoehepunkt eine massive Labor-Kundgebung mit Demo, beide vom AFL-CIO gesponsert. Die Veraenderung der Rhetorik bei den US-Gewerkschaften in den letzten fuenf Jahren - unglaublich ! Die nationalistische Rhetorik ist weitgehend - aber noch nicht ganz - verschwunden und wurde meist ersetzt durch eine Rhetorik internationaler Labor-Solidaritaet. Gewerkschafter aus der ganzen Welt sprachen, einige von ihnen von ziemlich hitzig. Ein mexikanischer Gewerkschafter lobte die Zapatisten, und ein suedafrikanischer Minenarbeiter nannte Marx beim Namen. Er draengte die Arbeiter der Welt, sich zu vereinen. Und die Menge applaudierte laut. Doch George Becker, Praesident der United Steelworkers of America, klagte, dass "Importe ueber unsere Grenzen geschwappt kommen", und einige Teamsters entfalteten ein Transparent mit der Forderung, die Grenze zur Abschreckung mexikanischer Lastwaegen zu schliessen. Aber Beleidigungen wie diese waren erfrischend wenig.

Ein paar der US-amerikanischen Sprecher klangen richtig militant. Der Praesident der "International Longshore and Warehouse Union" verkuendete stolz, dass seine Leute die Westkuestenhaefen von Seattle bis hinunter nach San Pedro dichtgemacht haetten. Er erinnerte an die Geschichte seiner Gewerkschaft von der Unterstuetzung fuer Salvadorenische Arbeiter und die Docker in Liverpool. Gerald McEntee, Praesident der "American Federation of State, County, and Municipal Employees" draengte uns sogar, "das System zu benennen", das uns unterdruecke, das System, "das alles zur Ware macht, vom Wald in Brasilien bis zur Buecherei in New Jersey", das uns der Profitlogik unterwirft - und das sei das System des "corporate capitalism". Jay Masur, Praesident der Kleidung- und Textilgewerkschaft UNITE !, deklamierte, wir seien "eins", Umweltschuetzer und Arbeiter in der ganzen Welt.

Zusammengehoerigkeit war das Thema der Labor-Demo, nicht nur Solidaritaet zwischen Arbeitern, sondern der organisierten Arbeiter mit allen anderen. Es gab nie dagewesene Konstellationen, z. B. von Teamster-Praesident James Hoffa, der auf derselben Buehne stand wie studentische Anti-Sweatshop-Aktivisten. Es gab Leute von Earth First, die mit Leuten vom Sierra Club liefen, und da war eine Kette der barbruestigen, BGH-freien "Lesbian Avengers", die sich durch eine Masse von Maschinenschlossern schlaengelten.

Trotz der Ausgangssperre fand eine Debatte in der Town Hall statt. Auf der Pro-WTO-Seite befanden sich der Procter&Gamble-Lobbyist Scott Miller (er ist auch Chef der US Alliance for Trade Expansion, einer Exportlobby), der stellvertretende Handelsminister David Aaron und der Wirtschaftswissenschaftler Jagidsh Bhagwati von der Columbia-Universitaet. Gegen die WTO waren John Cavanagh vom Institute for Policy Studies, die indische Physikerin Vandana Shiva und der Verbraucheranwalt Ralph Nader. Miller betete auf ziemlich niedrigem Niveau Unternehmensprogaganda herunter und sagte kaum etwas, was mir im Gedaechtnis geblieben ist. Aaron verbreitete die neue politische Linie der Regierung, derzufolge an den Protesten schon etwas dran sei, und dass Handel "clean, green, and fair" sein solle. Bhagwati war der praeziseste und kluegste von allen: wie die meisten Wirtschaftswissenschaftler ein Anhaenger des Freihandels, aber auch ein Kritiker der freine Bewegung von spekulativem Kapital und ein Fuersprecher fuer groessere soziale Absicherungen. Er argumentierte, hinter den Klagen ueber auslaendische Sweatshops stecke ein grosses Mass Heuchelei, wenn es sie en masse mitten in den USA gibt, ebenso wie Migrationsarbeiter, die unter sklavenaehnlichen Bedingungen arbeiten. Die No-Seite genoss die Sympathie des Publikums. Aaron und Miller wurden zum Unmut der Mehrheit im Publikum mehrmals ausgepfiffen. Doch die WTO-Kritiker enthuellten auch ihre Schwaechen. Gefragt, was passieren wuerde, wenn wir big business "ausschalten" wuerden, sagte Cavanagh richtigerweise, dass Grossfirmen relativ wenig Menschen anstellen. Aber diese Menschen, behauptete er, koennten leicht von kleinen Firmen wieder angestellt werden. Nicht enthuellen mochte Cavanagh, woher wir dann unsere Computer, Telefone und Dieselmotoren bekommen wuerden. Aaron fragte Nader scharf, wie ein Verbraucheranwalt die Verringerung von Importen empfehlen koenne, was geringere Auswahlmoeglichkeiten und heimische Monopole zur Folge haette. Nader, der zu ernsthafter oekonomischer Analyse offenbar nicht faehig ist, behauptete, dass die Reduktion von Oelimporten zugunsten von Energie-Eigenversorgung eine gute Sache waere. So, als laegen die Vorteile von Selbstversorgung oder z. B. von weniger Porno-Importen auf der Hand. Shiva machte die WTO zurecht als Agentur des Imperialismus nieder, aber draengte auf "die Rueckkehr zur nationalen Entscheidungsfindung, die wir kontrollieren". Offenbar ist ihr weder aufgefallen, dass der Nationalstaat selbst ein imperiales Erbe ist. Noch enthuellte sie, wann dieses "wir" jemals die Regierung stellte. Ihr Indien besteht fast gaenzlich aus vertriebenen Bauern. Sie sprach von Indien als Einheit, als waere es nicht aufgespalten in Klassen, Ethnien und Regionen. Ebenso behauptete sie, Handel sei einst durch ethnische Schranken bestimmt gewesen, mit der WTO aber sei die Profitmaximierung eingekehrt. Eine merkwuerdige Version von kapitalistischer Geschichte.

Mittwoch, 1. Dezember

Seattle befindet sich im Belagerungszustand. Cops, in angsterregendes Schwarz gekleidete Paramilitaers und Soldaten der Nationalgarde, die mit nichts anderem als Knueppeln bewaffnet sind, stehen an jeder Kreuzung. Den Tag ueber gab es vereinzelte Demonstrationen, aber nichts kam an das von gestern heran. Die WTO-Delegierten konnten sich treffen, aber niemand achtet anscheinend auf das Offizielle. Der Gipfel erscheint als Fussnote gegenueber dem eigentlichen Ereignis, der Mobilisierung.

Aber nicht alles ist gaenzlich ruhig. Stahlarbeiter und Umweltschuetzer veranstalteten eine gemeinsame Tea Party, indem sie massenhaft Stahl (als Symbol von Importen) und hormonbehandeltes Rind ueber den Pier ins Meer warfen. Einigen jungen Leuten dauerten die Reden zu lang. In Begleitung einiger Stahlarbeiter und Teamsters marschierten sie downtown. Um einer Phalanx Cops, die von rechts kam, auszuweichen, drehten sie nach links ab - ungefaehr Tausend, unter einem Transparent mit der Aufschrift "Capitalism canīt be transformed" - und brachten den Verkehr zum Erliegen. Ein Panzerwagen mit Cops tauchte auf, die Cops sprangen ab und schossen Traenengas sowie Gummigeschosse ab. Die Autos waren mittendrin. Die Cops wurden richtig gemein und erschuetterten das liberale Image, das die Stadt sonst charakterisiert.

Ein Kollege sagte heute, eigentlich bestehe die grosse story heute darin, dass der AFL-CIO es am Dienstag nicht uebers Herz gebracht hat, seine Demonstranten zur Unterstuetzung der jungen Menschen zu schicken, die die Strassen blockierten. Die Belohnung fuer dieses Wohlverhalten sei die Audienz gewesen, die Bill Clinton dem AFL-CIO-Chef John Sweeney gewaehrte. Fuer mich dagegen ist die big story, dass der AFL-CIO ueberhaupt in all seiner offiziellen Kapazitaet hier ist, und dass viele hochrangige Gewerkschafter auf den Strassen sind. Stahlarbeiter - vor allem Streikposten von Kaiser Steel - stellten einen grossen Anteil bei der oben genannten Demo. Ich sah jemand mit einer Teamster-Muetze, der "Fuck the corpos" schrie. Da sist wirklich nicht das Routine-Verhalten der amerikanischen Arbeiterklasse. Wenn Sweeney seine Leute zu den Strassenblockierern geschickt haette, waere das ein vorrevolutionaerer Akt gewesen - ein genuesslicher Gedanke, aber der Realitaet wohl etwas zu weit voraus. Trotzdem gibt es sichtbare Risse zwischen Gewerkschaften und Demokratischer Partei. Und die sollten gelobt und erweitert werden.

Die Bewegung selbst sollte als Teil einer weltweiten Mobilisierung gesehen werden, die mehr und mehr antikapitalistische und weniger bloss antiglobalistische Positionen einnimmt - ein Ergebnis der weltweiten Demos am 18. Juni gegen den G-7-Gipfel und eng verwandt mit der Anti-Weltbank-IWF-Bewegung. Diese Themen der politischen Oekonomie waren vor weniger als 10 Jahren noch ein Fachgebiet von Spezialisten. Jetzt stehen sie im Mittelpunkt von umfangreicher politischer Mobilisierung. Die Demonstranten sagen heute: "Wir haben gewonnen". Das stimmt. Aber es ist unklar, was die Fruechte dieses Sieges sein werden. Auf den ersten Eindruck jedenfalls schmecken sie sehr suess.