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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Zwischen Irakkrieg und Freihandelszone, Lula und Hugo Chavez

(Ein Reisetagebuch "von unten" zum Weltsozialforum 2005, mit Vergleichen zu 2003 und zum ESF, brasilianischem Alltag, einem seltsamen Fußballturnier, und vor allem: Gesprächen mit GewerkschafterInnen aus Indien, Vietnam, Panama, Argentinien, Uruguay, Venezuela und Ghana und diesem und jenem...)

Die Abreise

Es ist Dienstagmorgen, 8.45 Uhr am Terminal JK von Belo Horizonte (BH), dem Busbahnhof für Charterbusse. Abfahrt! Die eigentlich für 7 Uhr geplant war... Die Karawane: 5 Busse des Sozialforums des Bundestaates Minas Gerais (MG), 250 Menschen, die Hälfte aus der Hauptstadt BH, die anderen aus dem Rest von MG - einer Fläche etwa von der Grösse Frankreichs. Es gibt noch 1 Bus des Gewerkschaftsbundes CUT (die Beziehungen sind irgendetwas zwischen gespannt und tiefgefroren) sowie 2 der Bundesuniversität von MG, der UFMG (die Beziehungen sind ausgesprochen freundschaftlich). In typisch deutscher Pünktlichkeit warteten wir seit 6.30 Uhr - aber andere, wie Silvano (23), erwerbsloser Bauarbeiter aus der nördlichen Armutszone des Jequitinonha-Tals von Minas haben schon 12 Stunden Busfahrt hinter sich... Insgesamt sollen, nach Übersicht der Forumsorganisatorin Dirlene etwa 1.200 Menschen aus Minas nach Porto Alegre unterwegs sein - fast doppelt so viele wie 2003.

Vor uns liegen etwa 1.900 Kilometer - geplant sind 29 Stunden (der Linienbus braucht 28), das sollte reichen, um bei der Auftaktveranstaltung "presente" zu sein. Irrglaube, wie sich herausstellen wird. Der Bus-Koordinator Vicente (46) gibt die Regeln bekannt: Kein Alkohol, kein Tabak, ab 22 Nachtruhe. Die Abfahrt hat sich so lange verzögert, weil Angemeldete nicht kamen, Unangemeldete aber zuhauf. Die Listen sind aber, wie immer bei Charterfahrten jenseits der Bundestaatsgrenzen, längst bei der Verkehrspolizei, und es dürfen laut Vorschrift nur 4 pro Bus verändert werden...Es gibt halt wenige Länder, die so viele Vorschriften haben wie Brasilien, was Mensch als Kurzbesucher meist nicht merkt, weil sie in der Regel irgendwann (meist: einfallsreich) umgangen werden. Vicente schreibt mit seiner Mannschaft gerade die freie Software für die (PT) Präfektur von BH. Er war Anfang der 90er Jahre eine zeitlang nationale Berümtheit: Als leitender Ingenieur hatte er die internen Dokumente veröffentlicht, die die Privatisierung des Stahlunternehmens Usiminas in einem ganz anderen Licht zeigten, als die Regierungspropaganda. Die Privatisierung wurde ausgesetzt und er wurde für 4 Jahre erwerbslos...Zeit, die er nutzte, sich erfolgreich für den Anschluss der (einflussreichen) Ingenieursgewerkschaft an die CUT einzusetzen.

Lucinda (48), die Grundschullehrerin aus BH, die eine Sitzreihe vor uns sitzt erzählt, dass sie jüngst in Deutschland war: im früheren Sozialismus sagt sie, bei einer sehr netten Familie aus Chemnitz, die leider völlige USA-Fans seien. Die Beteiligung an einem LehrerInnenaustausch bezahlt sie in Raten ab - LehrerInnen beziehen hierzulande etwa 4 Mindestlöhne - etwa 1.100 Reais (R$), wobei (rund) 1 Euro 3,50 R$ wert ist. Ihre Lehrergewerkschaft wird auf dem nächsten Kongress das künftige Verhältnis zur CUT bestimmen - wichtiger aber sei die bevorstehende selbe Entscheidung der Universitätsdozenten-Gewerkschaft ANDES (mit 70.000 Mitgliedern eine der grossen in der CUT), die gegen die geplante Universitätsreform der Regierung Lula ist, weil dies der Weg der weiteren Privatisierung sei (im Gegensatz zum Gewerkschaftsbund)... Aus der PT ist sie gerade, nach 15 Jahren, ausgetreten.

Beitrag zur Klassenanalyse an der Raststätte

Nach ungefähr 5 Stunden Fahrt - Mittagessen ist angesagt. Die BuskoordinatorInnen gehen Essenspreise aushandeln. Denn etwa die Hälfte der MitfahrerInnen haben angegeben, dass sie nicht in der Lage sind, mehr als 5 R$ für eine Mahlzeit auszugeben. Nichts zu machen - der Manager ist nur zur Senkung von 1,90 auf 1,70 pro 100g in Selbstbedienung vom Buffet zu senken, also weiterfahren, denn das erscheint absurd teuer. Noch einmal ca 20, zeigt sich an der nächsten Raststätte, bei der die Preise erheblich niedriger liegen, haben sich Kochplatten mitgebracht, da machen sie sich was für ungefähr 1,50 die Mahlzeit. Zu denen gehört auch Robert (20) aus dem Armenstadtteil São Lucas, der zwar abends an der Uni studiert, wie so viele aber tagsüber arbeitet - als Praktikant bei der Präfektur für einen Mindestlohn (R$ 260).

Später werden sich noch solche Sachen herausstellen wie: etwa 10 Prozent der TeilnehmerInnen der 5 Busse sind erwerbslos, dh ohne Einkommen ausser "bicos" (schwarze Gelegenheitsarbeit). Und etwa ebensoviele waren noch nie an einem Strand - bei der Länge der brasilianischen Küste und der Tatsache, dass "praia" in Wirklichkeit - vor Fußball - Volkssport Nummer 1 ist, ein Zeichen bitterer Armut. Und auch das: Die alte These, der Rassismus in Brasilien zeige sich vor allem an der Tatsache "je ärmer desto dunkler" stimmt (ausser im Süden des Landes, wo es auch viele weisse Arme gibt).

Brücke? Welche Brücke?

Mittwochmorgen 1.30 Uhr - der Bus stoppt plötzlich. Stau. Vor etwa einer Stunde ist - rund 30 Kilometer vor Curitiba, der Hauptstadt des (reichen) Bundesstaates Paraná - eine Brücke samt einem LKW plötzlich eingestürzt. Der Fahrer ist tot - und wie bei der Abfahrt beten viele im Bus ein Vaterunser. Ob unsere Seite befahrbar ist, müssen die Ingenieure der "Defesa Civil" (vergleichbar dem THW, aber direkt der Armee angegliedert) herausfinden. Um 10 Uhr wird die Brücke freigegeben - und wir haben nach Plan noch ca 15 Stunden. Eröffnungsveranstaltung abgeschminkt. Auf der Autobahn - alte Bekannte aus Deutschland, und ausser diesem Treff werde ich in diesen ganzen Tagen gerade noch 2 mal mit deutscher Zunge reden (ausser hundertmal vorzusagen was so wichtige Wörter wie "filha da puta" wahlweise auch "hijo de puta" auf deutsch heissen...) Wenn solch ein Brückeneinsturz im Nordosten stattfände, würden alle wieder nur sagen, na ja, der Nordosten eben - aber auf der Autobahn zwischen São Paulo und Curitiba, in der reichsten Ecke des Landes ist es Thema selbst für TV Globo, auch wenn die Leiche keine Interviews gibt. Und damit natürlich Grund zur Beunruhigung bei den daheim gebliebenen - mit anderen Worten, beim nächsten Halt: Telefonorgie. Der Busfahrer Claudio (34) sagt, wenn uns etwas passiere, gehe das auf seine Kosten: Der Bus gehört ihm, Kontraktfahrer des Tourismusunternehmens. Den Beifahrer hat er wiederum engagiert...

Und es passiert: Zwar nicht uns und auch nicht viel, aber einem Bus des Konvois platzt ein Reifen. Passiert ist nichts, aber eine weitere Stunde Verspätung. Da ist es dann auch egal, wenn wir abends noch einen schnellen Abstecher zum Strand machen, denn auch in unserem Bus sind drei MitfahrerInnen, die noch nie da waren.

Schlaftrunken weiss ich es gar nicht mehr ganz genau: ich denke es war gegen 3 Uhr morgens, vielleicht auch 4 Uhr, als wir am Busbahnhof von Porto Alegre (POA) ankommen. Etwa 43 statt 29 Stunden hat das ganze gedauert - hätte auch nach dem fernen Belém gereicht. Und für diejenigen, die ins Jugend-Zeltlager gehen oder ins Matratzenlager, wie ich und die meisten, ist es noch lange nicht zu Ende: sammeln, weiterfahren, suchen, klingen, registrieren, Plätzchen finden für die Schlafmatte. Nach zwei Nächten im Bus auf die Matte in der Turnhalle einer Grundschule gesunken, die statt der geplanten 250 mehr als 400 Menschen beherbergt, und von 6.30 bis 8 Uhr geschlafen. Ausser einem Platz und je zwei Duschen für Männer und Frauen, sowie einem bewachten Eingangstor gibt es keine weiteren "Leistungen" - zum Preis von 10 R$ pro Nacht nicht eben das Billigste. Da sind die etwa 160 aus unseren Bussen, die mit in diese Schule gekommen sind, ausgesprochen unzufrieden. Denn 2003 hat das Forum von MG das brasilianische Sozialforum in BH organisiert, das waren etwa 50.000 Menschen und alle öffentlichen Schulen waren kostenlos geöffnet. Die Rektorin erklärt uns: Das Komitee des Forums hat die Schlafplatzfrage an ein Tourismus-Unternehmen ausgelagert, das den Grossteil der täglichen 10 R$ kassiert. Grummeln...

Forum now!

Donnerstagvormittag am Gasometer: Was alle kennen - Programm wälzen. Meine Leitlinie: Nichts deutsches und auch eher nichts brasilianisches. Gewerkschaften und informeller Sektor (inklusive allem, was dazu gehört, wie Migration etc): vielleicht ist den Menschen anderswo ja mehr eingefallen, als in Deutschland (was nicht viel zu sein braucht) oder auch in Brasilien (erwerbslos gleich raus - so schreibt es das Gesetz vor, und die CUT Gewerkschaften halten sich dran, so oder so).

Am Nebentisch sitzen drei Oberschülerinnen aus São Paulo, die - wie viele ihres Alters- aus Neugier, Interesse und Ferienwunsch gekommen sind. Weiter daneben: Vietnamesen. Echte sozusagen, die nicht wenig bestaunt werden. Da werde ich mit antiquierten Französisch-Kentnissen als Dolmetscher gebraucht - für Tatá (49) den Angestellten der Stadt Montes Claros in MG, auch er gerade aus der PT ausgetreten. Der als 13jähriger an Vietnamdemonstrationen der PCdoB teilgenommen hatte und von daher wie auch ich ein emotional geprägtes Verhältnis zu diesem Land hat. Wer mit den VietnamesInnen an ihrem Stand im zentralen "Solidaritätszelt" gesprochen hat, bekam nicht viel zu hören - politisch gefärbte Tourismus-Werbung nennt es der dritte im Bunde, Ariovaldo (21), Stahlarbeiter aus Ipatinga (der ersten MG-Stadt, die einen PT Präfekten hatte, heute sind es über 80 von rund 800, darunter die beiden grössten), der noch - wie er sagt - PT Mitglied ist.

Diese Tischnachbarn sind weitaus gesprächiger - Vertreter des vietnamesischen Gewerkschaftsbundes (die hier offiziell einen Infostand mittragen, an dem Solidarität mit den Opfern von Agent Orange eingefordert wird). Ariovaldo hat eine Karikatur bei sich - ein US Flugzeug über Vietnam, das Geschäftsleute mit Aktentaschen abwirft - "wir kommen immer wieder" unterschrieben. Das teilt die Geister am Nebentisch deutlich sichtbar. Dass in Vietnam Freihandelszonen eingerichtet sind, dass Nike und Disney und viele andere dort unter heftigsten Bedingungen produzieren lassen, weiss man auch in Brasilien - und fragt, warum. Wie auch gefragt wird, wie es mit zehntausenden VietnamesInnen in Malaysia aussähe. Zuerst: Stille. Dann: Lächeln. Dann die historische Paralelle: Lenins Neue Ökonomische Politik, als das wenig wirksam ist, die schwierige ökonomische Lage. Nachfragen. Hin und Her. Nach ungefähr einer Stunde, bricht es aus einem der Vietnamesen heraus: Er verstehe es auch nicht. Sein Vater und seine Mutter sind im Kampf gegen den USA Imperialismus gefallen sagt er, wofür fragt er, und so fragen viele, sagt er. Denn die Karikatur stimme, nur gebe es keinen Ho mehr und auch nicht seinen General (wörtlich). Heftigste Debatten in einem Geheimcode, der vietnamesisch sein dürfte.

Die beiden älteren, im besten Stile der Vertreter der Avantgardepartei unterstreichen, die Partei müsse ihre Politik den Menschen besser erklären. Das sagt Lula auch, sagt Tatá und ich erwähne bescheiden die Schröderianer. Der jüngere - wenn ich ihn recht verstande habe heisst er Trang, ist 28 und aus Ho Chi Minh-Stadt - sagt, was jeder denkende Mensch angesichts solcher Sprechblasen sagen würde: Was, wenn gerade umgekehrt, die Menschen die Politik sehr wohl verstanden haben und ablehnen? Was im Ausland als der "Widerstand der alten Kader" bezeichnet werde, so Trang plötzlich sehr bered, sei keineswegs nur von diesen. Auf meine Frage hin, was denn eigentlich mit der Gewerkschaft sei, wie es den mit den Arbeitsbedingungen in diesen Sonderzonen bestellt sei, bekomme ich nur von den "Alten" Antwort, die Gewerkschaft sei eben am Aufbau des Sozialismus beteiligt, Trang darf nur noch mit den Schultern zucken, die Diskussion stirbt ab. Als wir gehen, steckt er Ariovaldo einen Zettel mit Telefonnummer und Mailadresse in die Hand...

Ausser der - ausgesprochen nützlichen - Bestätigung der naheliegenden Vermutung, dass es auch in Vietnam "andere" Auffassungen gibt hat das Gespräch nicht viel gebracht: lediglich beteuern wir uns gegenseitig die Wichtigkeit der parteipolitischen Unabhängigkeit von Gewerkschaften - und fragen uns, wo es sie je gegeben haben mag. Gebracht hat dieses Gespräch ausserdem noch eines: Das wir die ersten Termine verpasst haben. Und vielleicht einen Kontakt nach Vietnam.

Komitee-Treff 1

Das Komitee des Sozialforum MG trifft sich jeden Tag um 12.30 Uhr im Solidaritätszelt. In der Regel 30-50 TeilnehmerInnen, wechselnd mit einem harten Kern. Spontanes Diskussionsthema Nummer 1 der Lula-Auftritt (bevor er nach Davos fährt, wie Dirlene jedes Mal sagt, worauf einige stets refrainartig einfallen "...zu seinen Freunden"). Nein: Leicht hat es die PT hier nicht. Minas Gerais ist nach den Kommunalwahlen vom Oktober 2004 die Hochburg der PT - was die Wahlergebnisse angeht. Der Staat ist aber auch - wenn man allen Erzählungen eingermassen glauben darf - die Hochburg der Parteiaustritte. Bis zum Ende der Forumstage treffe ich insgesamt 31 im letzten Vierteljahr ausgetretene AktivistInnen aus zahlreichen Städten von MG und alle mit der Versicherung, im Laufe von 2004 seien vor ihnen schon eine ganze Reihe einst tragender Parteimitglieder ausgetreten. Umso mehr wird jetzt schon Stimmung gemacht: Sonntagabend kommt Hugo Chavez.

Ansonsten - auch im Laufe des Donnerstagnachmittags, bei dem ich bewusst in möglichst viel mal hineinschaue, festzustellen: Bei den Veranstaltungen, die von PT und CUT (mit)getragen werden, sehr viele Parteileibchen - bei anderen eher wenige, oft keine. Nur alle - sagen wir vorsichtshalber: fast alle - Vortragenden kommen in Anzug und Krawatte. Bei 40 Grad im Zelt (nur die Cubaner haben in ihrem ein echtes Wasser/Luft Gebläse) ein echter Opfergang der Amtsträger. Die Landlosenbewegung ist wie 2003 massiv da, wenn auch vielleicht weniger, die Zapatisten sind wenig präsent.

Abend.Schule

In der einen Ecke des Schulhofes kocht Bohnenbrei, Koch ist keiner dabei, Vicente schlussfolgert messerscharf: Panamá. Spaghetti gibt es bei den Mitgliedern des "Nucleo Marxista" von BH - nach brasilianischer Art, nix al dente, nix für mich, trotz der Einladung. Die ArgentinierInnen aber - wie könnte es anders sein - grillen Fleisch. Weswegen diese Kochecke auch am stärksten und am stärksten international besetzt ist. Diverse AktivistInnen des Gewerkschaftsbundes CTA - der der Regierung Kirchner nahesteht, aber nicht so nahe wie die CUT der Lula-Regierung - und Kirchner ist, nach gemeinsamer argentinisch-uruguayischer Auskunft, wie Tabaré Vazquez in Uruguay: Einiges besser als Lula, vieles schlechter als Chavez. Immerhin: Er stellt die Zahlung der Auslandsschuld heftig in Frage, in Brasilien keine Rede davon und die Panamesen berichten, bei einer Umfrage in ihrem Land sei Chavez zum wichtigsten Mann des Jahres gewählt worden. Da die CTA in Argentinien an einer Reihe von Orten und Betrieben noch um ihre Anerkennung kämpft und der Niedergang der CGT der Peronisten noch nicht abgeschlossen ist, ist die CTA auch noch lebendiger als die CUT, die doch immer mehr dem DGB gleicht. Wird auch noch kommen, meinen einige der CTA Reisenden.

Interessant ist die Debatte um die Gewerkschaften, die sich in diesem abendlichen Vierländereck abspielt und die sich zu einer Diskussion mit Wortmeldungen auswächst, dass es sich bei allen Unterschieden um die Fragestellung handelt, wie das Verhältnis von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sich entwickelt - im Sinne wachsender Gegensätze nämlich, in Argentinien vor allem zu den radikaleren Teilen der Barrios und der Erwerbslosen, in Brasilien zu den Landlosen, Obdachlosen und Erwerbslosen, die gerade dabei sind eine bundesweite Konföderation zu gründen, die die anderen längst haben. Zeitungen und Flugblätter werden ohne Ende ausgetauscht - lesen geht ja immer besser. Weil die Turnhalle immer noch heiss ist und die Klassenzimmer nicht weniger, wird der Abend lang und länger - erfreulicherweise ist Rio Grande ein Staat, in dem man (unüblich) überall Wein kaufen kann. Und dann kommt, was kommen musste: Der Fußball. Immerhin 9 Weltmeister-Titel sitzen da vereint. Uruguay war früher mal, Argentinien hat sowieso immer nur gedopt gewonnen und die einzigen wahren sind wir - so die BrasilianerInnen geschlossen, was die anderen ganz anders sehen. Also: Fußballturnier. Die 4 Holzbein-Auswahlen werden antreten. (Und natürlich bestreiten Brasilien - in Wirklichkeit Minas Gerais, verstärkt um ein echtes As aus dem fast 3.000 Km fernen Rondônia und einen Dauerläufer aus Sergipe sowie einem deutschen Holzbein - und Argentinien das Endspiel und natürlich sind die Argentinier besser weswegen die Brasilianer gewinnen). Anschliessend und abschliessend: Auftritt Quiroga, regionaler Reggae-Held aus BH.

Die Inder sind gekommen

Nicht nach Deutschland, dass weiss man inzwischen - aber recht rege nach Porto Alegre, viel mehr als 2003 - offensichtlich ja wohl ein Ergebnis von Forum (und Gegenforum) 2004 in Indien. Zwar war überall zu lesen, es seien wenige Asiaten gekommen - und sicher waren es auch im Vergleich zu Europa nicht viele - aber allen Auskünften nach viele viele mehr als vor 2 Jahren. Die Veranstaltung, zu der ich am Freitagmorgen gehe heisst "Informalisation and outsourcing - an emerging challenge for trade unions" und ist von 5 indischen Gewerkschaftszentralen gemeinsam organisiert. Und der NTUI, der im Bildungsprozess befindlichen sechsten Zentrale - es wäre die erste parteiunabhängige Indiens. Indonesien und Thailand sind ebenfalls vertreten und auch die COSATU aus Südafrika - und die ITF (Internationale Transportarbeiterföderation), durch einen Engländer, dessen Namen ich vergessen habe.

Der Vortrag von John John, der die gemeinsame Initiative Labour at WSF 2004 - eine fürs letzte Forum in Bombay gegründete gewerkschaftsübergreifende Initiative - vertritt, ist bemerkenswert. Für die wenigen Europäer wichtig: Die Tatsache, dass ein Drittel aller ArbeiterInnen dieser Welt in zwei Ländern leben, China und Indien. Fast alle Gewerkschaften der "dritten Welt" sagt JJ, wie er von seinem Mitdiskutanten genannt wird, seien nur im formellen Sektor stark und deshalb schwach. Und den europäischen werde es bald genauso gehen, setzt er hinzu und findet meinen nicht nur innerlichen Beifall. Und der Mann kennt sich ziemlich gut aus: Berichtet von Dienstmädchengewerkschaften nicht nur in Indien, sondern auch in Mexico und Brasilien - samt ihren unterschiedlichen Erfolgs(auch: -losigkeits)stories. Von StrassenhändlerInnen und Bauarbeitern, die nie zur Gewerkschaft kommen, wenn sie nicht zu ihnen kommt. Von Tagelöhnern, die man bestenfalls im Stadtteil organisieren kann. Von indischen Frauen, die nach Feierabend ausgebildet, zu CampaignerInnen der Gewerkschaft in den Hinterhof-Textilbetrieben werden, in die kein Mann hineinkommt. Die eine ganze regionale Gewerkschaft ohne eine einzige "Hauptamtliche" organisiert haben, die einige Erfolge hat. Christliche Gewerkschafter aus Belgien, zwei Aktivisten der französischen SUD und ich - das sind die Nichtasiaten, die mitdiskutieren. Mein indonesischer Nachbar - keine Ahnung, was er macht, raunt mir zu, als der Vertreter der indonesischen Gewerkschaft über Verhandlungsmacht spricht "formed by the Friedrich Ebert Foundation", ich weiss nicht ob er recht hat, aber sozialpartnerschaftlich genug redet er, sein Beitrag wird in der weiteren Debatte der ca 40 TeilnehmerInnen keine Rolle spielen. Der ITF Vertreter versucht ausführlich zu begründen, warum die internationalen Gewerkschaften - sprich: der IBFG - in Davos ist, und das nicht etwa bei den Demonstranten, Verständnis findet er hier keines - aber, weil asiatisch "dominiert" ist es die erste Debatte, die ohne Hugo Chavez auskommt. Und auch der COSATU-Vertreter findet wenig Zustimmung, als er zum Thema Migration nur zu bemerken weiss, das habe nichts mit Globalisierung zu tun, denn es kämen ja so viele nach Südafrika, diie keineswegs Arbeitsplätzen hinterherzögen, sondern welche suchten. Regierungslogik, vermute ich, denn Dokumente über Repression gegen MozambikanerInnen (vor allem) gibt es ja nun zuhauf.

Als ich anmerke, ich fände zwar vieles gut, aber könnte mich nun überhaupt nicht damit anfreunden, diese ganzen Entwicklungen "emerging" (heraufziehend) zu nennen, das wäre vielleicht vor 20 Jahren angebracht gewesen und noch hinzufüge in der Frage der Migration könne man auch sagen die Gewerkschaften seien im allgemeinen Teile des Problems nicht etwa der Lösung, finde ich bei einem Teil aus Indien und dem Thailänder Zustimmung, während der COSATU-Mensch mich als seinen Feind ausmacht. Dann melden sich noch Afroamerikaner zu Wort, die die Aussage "Gewerkschaften sind Problem" kräftig unterstützen - aus dem Süden, Mann - natürlich. South Carolina, genauer. Es werden zum Abschluss reichlich Materialien und Adressen ausgetauscht - und zu meiner persönlichen Genugtuung kennen einige die LabourNets, was es einfacher macht.

Und ich gehe mit den NTUI VertreterInnen ins Indien Zelt, wo Menschen von den Dalits in ihrem Kampf um Gleichberechtigung ebenso vertreten sind wie VertreterInnen der vielen Opfer von Staudamm- und anderen Wasserprojekten. Und betätige mich als internationaler Koordinator: Denn in unserem Bus aus BH sind auch welche der "Anti-Barragem" Bewegung Brasiliens (die rund eine halbe Million Menschen organisiert hat) und die den gigantomanischen Plan der Lula Regierung, den Lauf des wichtigsten brasilianischen Flusses zu verlegen, heftig bekämpfen. (Ein Plan von der geistigen Qualität des Metrorapid der Koalition SPD/Thyssen). Der wichtigste Fluss Brasiliens, nicht nur, weil an ihm entlang die Erschliessung des Landesinneren geschah, sondern heute noch, ist nicht etwa der Amazonas im fernen Norden, sondern der São Francisco "O velho Chico" - viel grösser als der Rhein, durchfliesst er mehrere Bundesstaaten, bevor er in Penedo (Alagoas) ins Meer mündet - und ist ökologisch unglaublich terrorisiert worden. Aber ihn jetzt verlegen? Also vermitteln, den Kontakt und noch einen finden (bloss nicht ich) der englisch kann. Den weiteren Nachmittag schenke ich mir, nach dem langen Vormittag.

Camarada alemán, atención

Die CUT-Aktiven aus BH, die bei uns (inoffiziell) mitfahren, haben für den Abend - wie auch immer - eine Gesprächsrunde mit drei Venezuelanern von der UNT organisiert - eine Einladung, die ich gerne annehme. Was man der CUT jetzt zugute halten muss: Sie war der einzige grosse Gewerkschaftsbund der ganzen Welt, der die IBFG-Solidarität mit dem alten CTV Verband beim Putschversuch 2002 nicht mitgemacht hat und den Aufbau einer neuen Zentrale in Venezuela, eben der UNT, unterstützt hat. Rafael Herrera, Ortssekretär der UNT würdigt das ganz ausführlich in seiner Einleitung. Und spricht mich an, wie oben angeführt - und meint, wir müssten wissen, dass deutsche Betriebe, wie Siemens und Mercedes eine ganz wichtige Rolle bei der Finanzierung und Unterstützung sowohl des Putschversuchs 2002, als auch aller folgenden Anti-Chavez Kampagnen spielten, und auch bei der Behinderung der Entwicklung der UNT. Da schwant mir schon, was mir immer deutlicher wird und was auch in kurzen Gesprächen auf der Abschlussversammlung deutlich zum Ausdruck kommt: Dass in Deutschland in verschiedenster Hinsicht die ganze Entwicklung in Venezuela unterschätzt wird - wie wichtig sie für Südamerika ist, erlebe ich ja schon seit Tagen live. Ich vermute jetzt mal, ohne alle Bösartigkeit, dass ich, wie viele andere die hier sind, das alles längst nicht so intensiv und ausführlich mitbekommen hätte, wenn ich wie 2003 und die meisten auch 2005 in den Hotels der Innenstadt gewohnt hätte, wo europäische GewerkschafterInnen und NGOler weitgehend unter sich sind und meist nur mit "Betreuern" oder altbekannten Kontakten verkehren. Rafael Herrera und Simon Valdez, die beiden die am meisten reden, wissen viel über die CUT, weshalb ich gefordert bin über Deutschland und deutsche Gewerkschaften zu erzählen, wozu ich ihnen vor allem beteuere, meine Meinungen seien gewiss nicht repräsentativ. Aber Gehälter von Gewerkschaftsfunktionären sind ihnen ein Anhaltspunkt und die Zahl und der Besuch von Mitgliederversammlungen ("was is denn das?") auch. Von VW Abgeordneten haben sie auch schon gelesen. Zum Abschluss sagt Simon, er wolle zu einem Seminar gehen, wo Gewerkschaften und deutsche Firmen in Brasilien und Deutschland verglichen würden - mach das, empfehle ich ihm, danach kannst Du urteilen.

Der Abend, nein: Die Nacht gehört einem einzigen Vorfall. Es ist die Nacht der langen Messer: Generalangriff der Schnaken. Ich bekomme bestimmt 20 Stiche ab und das sind bei weitem nicht die meisten und nachts um drei Uhr beginnen die Panamesen den Giftgasangriff auf den Feind, es fallen alle ökologischen und gesundheitlichen Hemmungen bei fast noch 35 Grad in der Halle. Nach vielleicht einer Stunde haben wir gewonnen, der Feind ist tot und wir schlafen im Giftdunst.

The good, the bad - and (of course) the ugly

Der Gute - das ist Jamie Krvaneda aus Ghana, den treffe ich als wir gemeinsam am ultraheissen Samstagmorgen umher irren, auf Seminarsuche in den zahllosen Zelten, nach E 605 kommt ums verrecken kein E 606 (oder so ähnlich). Tiago aus BH (22), Verkäufer, kommt dazu und dann noch jemand aus Paraguay - Hector (28) Student, ausgesprochen indianische Erscheinung, die Regel in Paraguay. Er kommt aus Ciudad del Este (bei den Iguaçu-Fällen) - hat es also nahe. Nach hiesigen Begriffen. Schliesslich sind wir am Ende neun Versprengte aus 5 Ländern - mit Kamerun ist noch ein zweites afrikanisches Land in unserer ungeplanten Privatrunde. Jamie, 33 ist Hafenarbeiter - gewesen. Auch da wird privatisiert... er war auch aktives Mitglied der Gewerkschaft der Hafenarbeiter - die Hafenarbeiter der damaligen "Goldküste" waren Organisatoren des ersten grossen Streiks in den britischen Kolonien und ihr Idol hiess natürlich Kwame Nkrumah, aber das war Jamies Vater und diese Tradition, so meint er, ist tot. Was ihn beeindruckt zuhause: Die Organisationskraft der Strassenhändler - die waren früher der letzte Dreck, heute werden sie respektiert. Das macht den zweiten anwesenden Brasilianer, Aloísio aus Aracajú (24) ganz aufmerksam: Er ist Strassenhändler (dort "Ambulante", in BH "camelô") und findet, dass sie in Brasilien keinerlei Respekt geniessen nur Verachtung. Hector verdient sich sein Studium - wie wohl jeder in Ciudad del Este - auch mit Strassenhandel (an die busweise angekarrten Paulistaner Hausfrauen) aber meint, da es dort alle machen, kein Problem. Jamie möchte so gerne was über Che Guevara erfahren - und lernt immerhin, dass es ein Cuba-Zelt gibt, wo er gute Chancen hat. Er macht heute, einst notgedrungen, heute gerne, eine Metallerkooperative - Reparateure für alles aus Metall im und am Eigenheim. Sie haben zusamengelegt, um einem die Fahrt nach POA zu ermöglichen - und schwupps, wird er zur Solidarischen Ökonomie entführt, die - im Geleitzug der MST - Präsenz zeigt: meist in aller Stille von der Belegschaft übernommene Firmen. Manchmal auch in weniger Stille.

Der Böse - das ist der Professor aus Florianopolis, der sehr zwingend und überzeugend das neue Venezuela vorstellt - in einem recht kleinen, dafür aber umso volleren Zelt mit ziemlich vielen sehr jungen Leuten und kaum einem PT Abzeichen. Assistiert von VenezuelanerInnen ist seine Bilanz immer zugleich auch bittere Abrechnung mit der PT, der er selbst lange angehörte (und die an diesem Tag mit einem kleinen Manifest eine ganze Reihe von bekannteren Intellektuellen verlassen). Einer der Menschen eben, die laut José Genuíno - PT Oberster - zu jenen gehören, deren Romantik gefährlich ist. Genuíno gehört zu jenen, die realpolitische Feistigkeit mit autoritärer Dreistigkeit gut verbinden und daher dekretieren, sie seien, allem Tun zum Trotze, Links wie eh und je - auf dem 2003 Forum hatte er bereits eine Torte der "Bäcker ohne Grenzen" abbekommen - oder war das José Dirceu der (sozusagen) Kanzleramtsminister oder verwechsele ich jetzt beide? Macht nichts - für beide stimmt beides.

Der Hässliche - das ist Hernan, Offizier der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia. Darf offiziell nicht auf dem Forum sein, wg keine bewaffneten Gruppen - bewaffnete Staaten (brasilianische Menschenrechtskrieger zum Beispiel) dürfen wohl. Meine Freunde vom "Nucleo Marxista" haben mir ein Gespräch mit ihm vermittelt - und er weiss einiges, was in der BRD an Solidarität mit den kolumbianischen Gewerkschaften so gelaufen ist. Zur Waffenfrage sagt er nur: "Als wir sie niedergelegt haben, haben sie 3.000 von uns abgeknallt wie räudige Hunde - das wird nie wieder geschehen". Kann man, was immer auch die Meinung über die Ziele der FARC sein sollte, wenig gegen sagen...Und die ganze Geschichte mit der Coca Produktion (und den von der FARC erhobenen Steuern) versteht wohl eh nur, wer die Bedeutung dieser Pflanze "auf der anderen Seite" des Kontinents, wie man in Brasilien sagt, kennt. Der - erfolgreiche - Ölarbeiterstreik im letzten Jahr, sagt er, könnte eine Wende signalisieren...

Ein lauer Nachmittag

In der Komitee-Sitzung von MG ist wenig los, wenig zu sagen: Als dann die katholischen Landfrauen von MG ihr Lied anstimmen und ihren Tanz tanzen, gehen alle Frauen schon mal rüber - 10 Meter im Zelt. Jede Menge - ausländischer - Fotografen, Männer meist, die oft dann auch noch mittanzen wollen (wenn man schon unter Wilden ist, sagt Julia, die bei uns im Bus mitfuhr...) dürfen sie nicht: Frauentanz, transkulturelle Peinlichkeit oder so. Die meisten MG Anwesenden beschliessen, eine Pause sei nötig. Also die Zeltreihe durchgehen, Ipiranga hoch, Getúlio Vargas rein. Die Pause hat einen Namen: "Point of Beer" - soviel englisch versteht jede/r. Einen Block weg von "unserer" Schule - und damit auch von den anderen. Was bedeutet, dass der Point über und übervoll steckt mit Menschen von Panama bis (tatsächlich) Feuerland. Zwei Peruaner sind auch noch aufgetaucht - von der Lehrergewerkschaft SUTEP und ganz ohne Flöten. Mit Peruanern kann man über alles reden, ausser über Fußball ("die denken doch, wer am höchsten schiesst, gewinnt"). Ich komme ihnen ausgerechnet mit Bayern München zu Hilfe. Und dann sitzen da tatsächlich drei leibhaftige Portugiesen - die nächsten anderthalb Stunden gibt es brasilianische Portugiesenwitze Nonstop. Aber das Thema spitzt sich immer mehr zu : Chavez oder Lula (so fragen es direkt die Peruaner, fast so deutlich auch die Portugiesen). Und weil der Point viel Bier hat - jetzt schon deutlich weniger - wird das alles in Sprechchören und Gesängen entschieden. Schwaches Lalulala-Lulaa, ganz starkes ole,ole Chaveeez, Chavez. Es sind Aktive des PCdoB, die einmal mehr die Rolle der Verteidiger Lulas übernehmen, die PTler bleiben eher still - ein (fast) durchgehendes Bild. PSTU ist auch da, auch PSOL. Lourenço, der Drucker aus Uberlândia (34) nimmt mir die Arbeit ab: "Die PSOL Kameraden wollen einen Leichnam wiederbeleben - lass uns die PT wieder von vorne anfangen. Die PSTU sucht nur einen Anlass, um sich als wahre Avantgarde zu benennen, aber davon gibt es wahrlich viele". Und wer geht morgen zu Chavez - mindestens 120 der ca 150 Anwesenden bekunden die Absicht.

Portoalegrensisches

Porto Alegre - die Stadt, die so lange von der PT (und meist ihrer trotzkistischen Strömung) regiert worden war, nimmt die ForumsteilnehmerInnen ausgesprochen freundlich auf. Auch jetzt: Der Wirt schmeisst eine Lokalrunde. Und betont, alle Läden usw in der Getulio Vargas hätten ihre normalen Preise beibehalten - was keineswegs selbstverständlich ist. Die fliegenden Händler, die Dir in jeder Versammlung ins Ohr schreien, nehmen am Anfang 2.-, dann 1,50 R$ für eine kleine Flasche Wasser (erst am letzten Tag sinkt der Preis auf das normale 1.-). Und natürlich kann man als Forumsteilnehmer nicht in POA sein, und in einer Kneipe in der Avenida Getúlio Vargas, ohne dass über die prägende politische Figur des vergangenen Jahrhunderts diskutiert wird. Der Mann, von 1930 bis 1945 Diktator und bis zu seinem Selbstmord 1954 ab 1950 gewählter Präsident (in den Jahren dazwischen regierte einer "seiner Männer") spaltet bis heute die Geister und der positive Bezug zu dem Mann, der die schöne "Ilha Grande" zum politischen Gefangenenlager machte, findet heute noch, bis in die Linke hinein, Bewunderung - erst recht in POA. Versteht von den anderen anwesenden Lateinamerikanern niemand: höchstens die Argentinier mit ihrem Peron. Aber auch "organisatorisches": die örtlichen Sammler von Recycling-Müll - von denen in der Stadt, und erst Recht auf dem Forum hunderte anwesend sind, arbeiten - werden immer wieder von den zahlreichen organisierten Sammlern "agitiert", die ebenfalls in grosser Zahl da sind, weil sie in den Tagen zuvor einen lateinamerikanischen Müllsammlerkongresss unweit von POA hatten.

Anti - ALCA Plenum

Der Sonntagmorgen - ein Plenum zum Hauptthema, die erste der zahlreichen Veranstaltungen dazu, die ich besuche (weil die politischen Verhältnisse einfach völlig klar sind). "Brasil de Fato", Zeitung der Forumsbewegung Brasiliens ist voll von Artikeln zur Kritik an der panamerikanischen Freihandelszone. Und João Pedro Stédile, Koordenator der Landlosenbewegung MST, schreibt, redet und organisiert tagaus, tagein gegen ALCA (englisch FTAA - Free Trade Associatioon of the Americas). Das politische Bild dieses Forums wird (zumindest "von unten") auch dadurch geprägt: Ich habe im Verlauf der Tage exakt 57 Menschen gefragt, ob sie den Vorsitzenden der CUT mit Namen kennen - das taten ganze 8. Während alle, restlos alle mich erstaunt ansahen, als ich sie nach dem führenden Kopf der MST fragte - "kennt doch jeder, der Stédile". Weil die MST zwar durchaus ein freundschaftliches Verhältnis zur PT hat, aber das für sie nie ein Grund war, den Kampf um die Landreform einzustellen oder abzubremsen ist sie endgültig an die Stelle der CUT getreten als Referenz der sozialen Bewegungen, der unzähligen Nationalen Föderationen Brasiliens: sei es der Obdachlosen, der Bewohner der (meist: menschenfeindlichen) Anlagen des sozialen Wohnungsbaus, oder der Müllsammler-Kooperativen, oder oder...denn das sind nur die aus MG, die ich kennenlerne.

Und dann das: Was - meist Europäer - immer wieder kritisieren, ist die "Einseitigkeit" der Kritik, vor allem der Latinos, am USA-Imperialismus. Kommt hier - und auch immer wieder spontan - deutlich an die Oberfläche. Ist aber, denke ich ein sehr kompliziertes Problem: Wer sein ganzes Leben unter dem Druck der USA verbracht hat, sieht halt vieles ganz anders. Wie "unsere" Panamesen: Zum berüchtigten 11.September wissen sie nur eines - die Bombennacht von Panama, als die USA ihren Zögling Noriega loswerden wollten und dafür Zehntausende sterben mussten. Das geht auch bei der ganzen Via Campesina so: taucht eine neue Auseinandersetzung auf, wie etwa in Brasilien um Gensoja, so sind die Akteure neben einheimischen Agrarkapitalisten meist eben US-amerikanische Konzerne...

Showdown

Der Sonntag insgesamt aber steht voll in einem Zeichen: Hugo kommt. Über Zahlen wird viel geredet - das meiste ist Spekulation. So hatte man mit 120.000 TeilnehmerInnen gerechnet, aber alle gehen davon aus, dass es deutlich mehr waren. Weil nicht nur das Jugendcamp, sondern auch alle, restlos alle Schulen und anderen zur Verfügung gestellten Gebäude überfüllt waren - und weil in allen Bussen viele waren, die sich - nicht zuletzt wg der Kosten von 12.- R$ für BrasilianerInnen - nicht angemeldet haben. Über Zahlen wird auch bei der Veranstaltung im Gigantinho, der Sporthalle von Internacional Porto Alegre, viel spekuliert - im übrigen schon deshalb ein passender Platz, weil der Verein eine "linke Gründung" ist, aus Opposition gegen den "FC Mussolini" (den gerade abgestiegenen - häme, häme - mehrfachen Exmeister Gremio Porto Alegre). Auf den Plakaten steht 17 Uhr, im Programm 19, aber 18.30 Uhr wird auch gehandelt...2003, als Chavez da war, war er offiziell "unerwünscht" wg keine Regierungsvertreter (was damals schon nicht für Lula und Leute der PS aus Frankreich galt). Jetzt war er offiziell eingeladen, neben der MST (die ihn 2003 schon eigenständig eingeladen hatte, damals zusammen mit den Müttern der Plaza del Mayo aus Argentinien) auch von der CUT.

Also: 15 Uhr dort sein, denn die Sporthalle fasst nur irgendetwas zwischen 12-15.000 Menschen, viel zu wenig, nach aller Stimmung. Als unsere "Busbesatzung" fast geschlossen dort ankommt ist bereits abzusehen: Geht gar nichts mehr. Nur eine Handvoll, die schon um 13 Uhr da war, kommt rein. (Drei davon in die VIP-Zone, auch sowas gibt es auf diesem Forum). Also vor dem Bildschirm vor der Halle rumstehen, rumstehen und teueres Bier kaufen und die schreienden Strassenhändler einmal mehr verfluchen, gemeinsam mit den Abertausenden, die auch nicht reinkamen. Die von mancher Ecke - wie ich finde: absurderweise - kritisierte "Übermacht der BrasilianerInnen" findet sich auch hier wieder. Die allermeisten, mit denen ich im Verlaufe der Tage geredet habe, treffe ich hier wieder - "presente". Da ist auch eine mir unbekannte Medienprofessionelle aus der BRD, die sich (wie wohl noch andere der Zunft) darüber beklagt, die Arbeitsbedingungen seien nicht ausreichend. Niemand hat Verständnis. "Wir haben unsere eigenen Medien" sagt Dirlene knapp.

Eine Zeitung aus Minas Gerais wird am nächsten Tag schreiben "Chavez - Lula 7:0" darauf anspielend, dass Chavez sieben Mal (deren Zählung) durch Ovationen lange unterbrochen wurde (vom aufflammenden Beifall ganz zu schweigen), was Lula kein einziges Mal passierte. Und Chavez zieht alle Register, tut was fürs Gemüt: Er könne leider kein Portunhol - die Vermischung, mit der hier kommuniziert wird, und noch viel weniger Englisch, aber das brauche man ja wohl auch nicht, wenn im Süden kommuniziert werde. Aber er setzt auch jene politischen Eckpunkte, die hier alle - fast alle - hören wollen. Der Vorsitzende der CUT, Luis Marinho erntet bei seiner Rede ein unglaubliches Pfeifkonzert (ältere LeserInnen mögen sich des Antikriegstages 1979 - glaube ich - erinnern, als DGB Vetter in der Dortmunder Westfalenhalle nieder gepfiffen wurde - das hier war viel heftiger). Der Grund ist einfach: Seine Zentrale unterstützt eine Regierung, die faktisch den ALCA-Prozess mitbetreibt, anderen Regierungen nahelegt, ihre Schulden zu bezahlen usw - und jetzt macht er einen auf Antiimperialismus. Chavez spricht nicht direkt dazu, unterstreicht aber wortgewaltig, dass er bei der OAS Versammlung der amerikanischen Staatsoberhäupter mit seiner Ablehnung des ALCA "alleine geblieben" sei...und erntet massivsten Beifall, als er erklärt, Medikamente dürften nichts kosten, Erziehung auch nicht, wozu es nach den späteren Erzählungen "unserer Leute drinnen" nur im VIP Raum keine Ovation gab. Selbst was er, strategisch-diplomatisch sagt, die Bewegung dürfe Lula nicht alleine lassen, ist ausgesprochen doppeldeutig auszulegen: Hinter jemand stehen kann man auf verschiedene Weise..."Chavez erobert das Forum" titelt eine der Zeitungen aus POA - und führt seine umjubelte Aussage an, es gäbe keinen guten und bösen Imperialismus, sondern nur eben den. Die Gemüter sind so weit oben, dass an schlafen nicht zu denken ist - die "drei Schulen" legen eben noch eine kleine mitternächtliche Spontandemo ums Karrée ein, die ganze Parolenreserven rauf und runter...

Der Abschluss - kein Höhepunkt

Erklärungen werden viele verabschiedet - wir folgen unserer Agenda, sagt der MST-Koordenator. Und: "Jeder hat das Recht, eine Erklärung zu verabschieden. Und jeder hat das Recht sie zu unterstützen - oder nicht". Der Antikriegstag am 19. und 20.März 2005 ist breiter Konsens, die neuen Regularien für die Sozialforen auch. Die brasilianischen und lateinamerikanischen Sozialforen haben sich auf einen neuen "Kampftag gegen ALCA" geeinigt und unendlich viele kleine Absprachen sind getroffen.

Ich denke, die Diskussion um den Sinn des Forums und seine Aufgaben ist überflüssig - vom Standpunkt vor allem der zahllosen südamerikanischen AktivistInnen aus, denen geht es nicht um eine weitere politische Plattform usw: das ist in der Regel Thema der diversen ParteienvertrerInnen, die "festklopfen" wollen, und das macht sie reichlich unbeliebt, das erinnert an die Debatten (die ich aus der Ferne verfolgte) um das ESF in London - sie profitieren kaum oder gar nicht von den Abgängen der PT, was Brasilien betrifft. Kleine Linksparteien in Allianz mit bestimmten Strömungen der Regierungspartei versuchen zu dominieren, vergeblich, was die "unten" angeht.

Die - kleine - Abschlusskundgebung zeigt dies in aller Deutlichkeit. Dominiert von der PCdoB (sozusagen als "PT Vertreter") und der PSTU (als lautstarke Opposition) und von der Forumsleitung ständig "ermahnt" die "Einheit gegen den gemeinsamen Feind" zu wahren, ist - im Vergleich zum Forum insgesamt - eine echte Katastrophe. Von unseren BH TeilnehmerInnen waren ca 30 da, die anderen damit beschäftigt sich von den "Ausländern" zu verabschieden - nicht zuletzt von den bedauernswerten Panamesen. Die Busse nach Rondônia und Amapá sind schon weg.

Kurze Heimreise

Die Heimreise ist - im Vergleich zur Hinfahrt - völlig ereignislos, abgesehen davon, dass die Busfahrer ihre 90 Km Höchstgeschwindigkeit vergessen haben. Schlafen ist angesagt. Am 14.Februar ist Auswertungskonferenz in BH und bis dahin sind alles nur: Meinungen, wie auch in diesem Tagebuch. Aber: Wer behauptet, er könne das - alleine oder mit nur einer Gruppe - "zusammenfassen" dem kann keiner glauben, der da war. Und die Stimmung ist natürlich da: Vieles steht an, freuen tun sich viele jetzt schon auf das Amerikaforum 2006 - welch eine Gelegenheit, Caracas zu erleben.

Als wir - nach nur 28 Stunden - in BH ankommen und ein ganz kleines Bier neben dem Terminal trinken, fragen uns die Menschen dort: "Habt ihr auch Chavez zugejubelt?" und als wir ja sagen, ist die Meinung "der tut wenigstens was" - wie auch am nächsten Tag in meiner Eckkneipe...

Zur Beachtung: Manches mag hier im Zeitenablauf leicht schief sein - es waren extrem kompakte Tage. Die Meinungen sind meine und die der Menschen, mit denen ich gesprochen habe. Und dass das alles nur ein Ausschnitt ist, ist auch klar. Dass zunehmend mehr Aktive aus sozialen Bewegungen sich von politischen Parteien nichts mehr erhoffen bzw erwarten, habe ich keineswegs nur deshalb so oft erwähnt, weil das meiner Meinung nahe kommt (tut es). Sondern vor allem, weil es ein deutlicher Trend ist. Dass ich entlang der "Schiene" Gewerkschaften und informeller Sektor diskutiert und teilgenommen habe, entspricht meiner Aufassung über die Wichtigkeit dieser Frage, wie auch Gewerkschaften und soziale Bewegungen. Viele Erzählungen "zweiter Hand", die spannend gewesen wären, habe ich weg gelassen. Über die Debatten um freie Software - bei der auch Gilberto Gil anwesend war und seine Sachen stehen frei im Netz, wie auch die des unvergessenen Tom Jobim - oder über das "venezuelanische" Echo auf die DGB/CUT/FS Veranstaltung zu deutschen Firmen: "die wollen doch nur an den Tisch der Bosse" - und vieles andere mehr. Wenn der eine oder die andere, die sich durch den Text gequält haben, eine Ahnung davon bekäme, dass sich das WSF von den Menschen und Bedingungen hier aus ziemlich anders ansehen, wäre ich zufrieden. Ich hatte gedacht, es würden eher weniger kommen, als die letzten Male - und habe mich heftig geirrt. Und ich habe, wie angedeutet - und ohne es aufzublasen - die Bedeutung des Prozesses in Venezuela unterschätzt.

Geschrieben am 3.Februar 2005, Helmut Weiss

 


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