Michael Moore: Die Schlacht von Seattle

7. Dezember 1999

Sie wurden überrascht. Sie hatten gedacht, es werde wie immer, wie es seit Jahrzehnten gewesen ist. Reiche Typen treffen sich, entscheiden über das Schicksal der Welt und fahren dann wieder nach Hause, um weitere Reichtümer anzuhäufen. So war es doch immer.

Bis Seattle.

Am Morgen des 30.11.1999, als sich Regierungsbeamte aus 135 Nationen mit der bisher größten Versammlung von Konzernangestellten treffen wollten, legten Zehntausende von normalen Arbeitern die Stadt Seattle lahm und verhinderten den erhofften historischen und offiziellen Zusammenschluß der politischen und Handelselite der Welt. Es war ein nie zuvor dagewesener Anblick.

Aber so war es. Es war eine beeindruckende Menge von Amerikanern und Kanadiern und Briten und Franzosen etc., und wir standen alle auf den Straßen - Transportarbeiter und Schildkrötenschützer, Großeltern und Angestellte, Obdachlose und Computerfreaks, Studenten und Leute aus Alaska, Nonnen und Jimmy Hoffy Jr., Flugzeugmechanikier und unter Koffein stehende Sklaven von Microsoft. Einige waren professionelle Demonstranten, aber die Mehrheit sah so aus, als sei dies ihr erster Versuch, die verfassungsmäßigen Rechte wahrzunehmen. Es gab keine "Führer", keine "Bewegung", keine Vorstellung, was weiter zu tun sei als die WTO von ihrem Geheimtreffen abzuhalten.

Nur die Anarchisten schienen organisiert. Sie hatten sogar ihre eigene anarchistische Kapelle mitgebracht!

Die große Gewerkschaftsdemo wurde so zahlreich (das passiert eben, wenn so viele Arbeiter nur noch Teilzeitverträge bekommen), daß sie sich in sechs oder sieben Kolonnen teilte und den gesamten Innenstadtbereich von Seattle lahmlegten.

Das Schöne daran war, daß es einfach geschah. Und warum sollte es jemand überraschen? Nach zwei Jahrzehnten des Abbaus, der Lohnstagnation, der abgebauten Gesundheitsfürsorge und der mutwilligen Zerstörung der Mittelklasse mußte da früher oder später was zum Kochen kommen.

Die Reichsten 500 haben sich das selbst angetan. Wären sie nicht so gierig gewesen, wenn sie auch nur bereit gewesen wären, ein winziges Scheibchen des Kuchens abzugeben, dann wäre Seattle wohl nie passiert.

Aber die Reichen entschieden sich, ihren größten Unterstützern ans Bein zu pinkeln -- ihren loyalen Arbeitern, diesen Reagan-Demokraten -- und es gibt keinen fürchterlicheren Anblick als einen Transportarbeiter, der für Nixon stimmte und nun einsehen muß, daß man ihn beschissen hat.

Es war witzig zu sehen, wie die Medien die Schlacht von Seattle darstellten (das Mantra war "gewalttätige Demonstration"), und während bei einem McDonalds und einem StarBucks-Laden die Scheiben eingeworfen wurden, ist die Wahrheit, daß 99% der Teilnehmer keine Sachschäden anrichteten und die Stadt Seattle mit Respekt behandelten. Seattle ist schließlich die einzige Stadt in der Geschichte dieses Landes, die einen Generalstreik durchgeführt hat (1919 weigerte sich die ganze Stadt, auf der Arbeit zu erscheinen). [1 Anmerkungen unten]

Der liberale Bürgermeister von Seattle, der zuerst nicht als Haudrauf dastehen mochte, verlor jedoch seine vornehme Zurückhaltung und ließ seine Polizei Amok laufen. Tränengas und Gummigeschosse flogen auf Großeltern und Nonnen. Alle Bürgerrechte waren ausgesetzt. Sie hatten sogar die Frechheit, den Begriff "no protest zones" zu verwenden. Hey, wir sind hier in Amerika, Kumpel! Seattle mag zwar zu den tollen Städten um den Pazifik gehören, deswegen ist es aber noch lange nicht Singapur.

Am zweiten Tag kam Clinton in die Stadt. Die Proteste wirkten auch auf ihn, so daß er eine schwere Sünde beging - als würde er seinen Einberufungsbescheid nochmal verbrennen. Er änderte seine Haltung völlig und forderte alle WTO-Länder auf, Gesetze zu erlassen, die den Handel mit Staaten verbieten, die Kinder- und Sklavenarbeit verwenden und die Rechte der Arbeiter nicht anerkennen, sich in Gewerkschaften zu organisieren. Boooaaaa ey! Freier Handel ist ja das oberste Heiligtum der WTO (d.h. der Handel darf nicht als Mittel gebraucht werden, um "soziale" Ziele durchzusetzen). Also, daß Clinton sich nun auf die Spitze der Nadel setzte (oder wurde er da raufgescheucht?) und erklärte, daß die Menschenrechte von Arbeitern wichtiger seien als ein paar Mäuse Gewinn zu machen - also, das war wie wenn Papst Paul vom Pferd fällt und Jesus sieht! Da konnte man fast Hunderte von Delegierten in Seattle schäumen hören. Ihr Billy-Boy -- der Politiker, den sie gekauft haben und dem sie bei so manchem Kaffeeklatsch bezahlt haben -- hatte sie verraten. Man konnte fast sehen, wie sie ihre computerisierten Adressbücher zückten und nach der Telefonnummer des "Schakals" fahndeten.

Es war ein beeindruckender Sieg für alle, die von Lohntüte zu Lohntüte leben. Wir schulden diesen tapferen Leuten viel, die verhaftet wurden und den Rest der Woche im Gefängnis zubrachten.

Es bedeutet aber in keiner Weise das Ende des Big Business. Das 1% der Reichsten besitzt immer noch 90% von allem auf der Welt. Das werden sie ohne Kampf nicht aufgeben. Aber sie haben schon mal eine Vorankündigung erhalten, daß Menschen aus allen Lebensbereichen die Schnauze voll haben und nicht aufgeben werden, bis wir eine faire, gerechte und demokratische Wirtschaft haben. In dieser Woche war Seattle das Lexington und Concord einer Bewegung, die nicht aufzuhalten ist. Merkt euch dies, das letzte große und wichtige Datum des 20. Jahrhunderts -- 30. November 1999 -- Die Schlacht von Seattle, der Tag, an dem die Leute genug davon hatten, in zwei Jobs gleichzeitig zu arbeiten, um den Gerichtsvollzieher vom Hof zu halten und beschlossen, es sei an der Zeit, daß der Kuchen mit denen geteilt würde, die ihn gebacken haben.

Euer Michael Moore
http://www.michaelmoore.com
MMFlint@aol.com

[1] Wie ich aus einer anderen mail erfuhr, ist der erste Generalstreik schon 1877 während der Eisenbahnstreiks in Saint Louis gelaufen; der in Seattle war der zweite Generalstreik in den USA, gefolgt von San Francisco 1934. -- catkawin

Translation: ASWAD@anarch.free.de
Quelle: A - I N F O S N E W S S E R V I C E