Gewerkschaften und Globalisierung: Eine andere Einstellung ist möglich!
Lehren aus dem ersten Europäischen Sozialforum
Die Bedeutung des ersten Europäischen Sozialforums (ESF, November 2002
in Florenz) reicht weit über die Tagespolitik hinaus. Das Ereignis als
solches stellt zwar keinen generellen Wendepunkt in den politischen Verhältnissen
Italiens (oder gar Europas) dar. Immer noch befindet sich die ArbeiterInnenklasse
auch in Italien in der Defensive. Aber wichtige Koordinaten wurden
durch das ESF (sowie die Riesendemo vom 9.11.) merklich verschoben.
So erfolgreich und beeindruckend die Demonstration in Genua 2001 (zum G-8-Gipfel)
war, so bot das ESF der globalisierungskritischen Bewegung und der Gewerkschaftsbewegung
doch ganz andere Ebenen des Austauschs und der Weiterentwicklung inhaltlicher
Positionen:
- Vom 6.-9. November sprachen auf insgesamt mehreren hundert Veranstaltungen
Vertreter unterschiedlichster Vereinigungen und Organisationen. Die Großveranstaltungen
hatten zwar weitgehend Kundgebungscharakter, aber das wurde vom Publikum sehr
gerne gesehen. Hier wurden Signale gesetzt, Position bezogen und mit Sicherheit
nicht wenigen TeilnehmerInnen neue Bezugspunkte und Anregungen vermittelt.
Nicht zu unterschätzen ist die Botschaft, die auf diesem Weg über
die in- und ausländische Presse an breitere Kreise weitergegeben wurde
und wird: "Eine andere Welt (ein anderes Europa) ist möglich, und zwar
nicht nur bezogen auf den Neoliberalismus." Selten zuvor liefen so viele Videokameras
auf einer Veranstaltung oder einem Kongress. Es ist anzunehmen, dass quer
über ganz Europa auf Hunderten von Veranstaltungen diese Botschaften
(oder Kundgebungen, wenn man so will) weitergetragen werden.
Aber es war mehr als nur eine Ansammlung von Kundgebungen: Auf Dutzenden von
"kleineren" Veranstaltungen (mit 50 bis 500 Teilnehmern) wurden auch unterschiedliche
Positionen bekannt gemacht, Argumente ausgetauscht, Diskussionen geführt,
Informationen weitergegeben...
- Mensch scheute sich nicht, mit systembejahenden Kräften in den Dialog
zu treten. So konnte eine Vertreterin der EGB-Spitze genauso sprechen wie
etwa Ströbele von den Grünen, der allerdings mit seiner Kritik an
Berlusconi seine Unterstützung der Schröder-Regierung nicht vertuschen
konnte.
- Vorherrschend war jedenfalls das sehr verbreitete Gefühl (das sich
noch erkennbar steigerte, je mehr Menschen im Laufe der Tage ankamen): Wir
führen einen gemeinsamen Kampf und wir sind inzwischen so zahlreich,
dass unser Kampf für eine andere Welt nun besser geführt werden
kann. Wir können was ausrichten! Wir sind eine breite Kraft, auch und
gerade, weil es keine Kluft mehr gibt zwischen "der" Antiglobalisierungsbewegung"
und "den" Gewerkschaften.
- Deutlich überholt sind heute Vorstellungen, nach denen sich z. B. Attac
auf eine "Volksbildungsinitiative" (so ihre "offizielle" Eigendefinition)
beschränken kann. Die Bewegung ist in ihrer überwältigenden
Mehrheit sowohl auf inhaltliche Auseinandersetzungen und Debatten wie auch
auf Aktionen ausgerichtet. Diejenigen Kräfte, die nicht auf beiden Ebenen
wirken, werden keine Rolle mehr spielen. So manche® musste spätestens
in Florenz auch erkennen, dass sich nicht alles um Attac herum gruppiert,
dass ganz andere Kräfte noch mehr auf die Beine bringen und bewirken,
allen voran die linken Gewerkschaften.
- Die Bewegung ist v. a. deswegen nicht mehr zu trennen in "hier die Globalisierungsgegner"
und "da die Gewerkschaften, die nur punktuell gemeinsame Berührungspunkte
haben", weil Teile der Gewerkschaften sich deutlich bewegt haben. Dies wird
nicht zuletzt durch die Kräfteverschiebungen in der britischen Gewerkschaftsbewegung
deutlich. Wenn Patrick Sikorski stellvertretender Vorsitzender der
RMT in Florenz auf einer der großen Veranstaltungen gesprochen
hat, dann war dies in gewisser Weise stellvertretend für insgesamt 16
Gewerkschaften in Großbritannien (ca. 1/3 des gesamten TUC), bei denen
in letzter Zeit oft gegen den erbitterten Widerstand rechter Bürokraten
linke Führungen gewählt wurden.
- Die Beispiele Italien (Cobas, CGIL), Frankreich (SUD) und Spanien (bestimmte
Bewegungen an der Basis der CCOO) zeigen, dass die Gewerkschaften im
Gegensatz zur Sozialdemokratie, die seit vielen Jahrzehnten nicht mehr in
organischer Weise von der ArbeiterInnenklasse abhängig ist sehr
wohl durch Druck von unten auch wieder nach links veränderbar sind. Sie
können wieder zu kämpferischen Organisationen gemacht werden. Aufgabe
der Gewerkschaftslinken muss es jetzt sein, die in Florenz zu Tage getretene
Chance einer politischen Belebung der kapitalismuskritischen Kräfte im
allgemeinen und derjenigen in der Gewerkschaftsbewegung im besonderen zu ergreifen.
Wir haben hier in Deutschland sicherlich noch sehr viel zu leisten, was die
Hinterfragung neobliberaler Denkmuster angeht (z. B. dass Wettbewerb was Gutes
sei und deswegen möglichst viel zu privatisieren sei), aber wir dürfen
nicht in statischen Kategorien denken. Gerade jetzt, wo bestimmte Widersprüche
offener aufbrechen und der Widerstand eine gewisse Schwelle überschritten
hat, können Bewusstseinsentwicklungen sehr wohl in Schüben stattfinden.
- Die Bewegung ist nicht nur breiter geworden, sie ist auch inhaltlich deutlich
mehr geworden als eine Antiglobalisierungsbewegung. Dafür ist in der
Medienöffentlichkeit noch kein Begriff geschaffen oder als Etikett aufgeklebt
worden, aber wir sollten uns über die politischen Folgen für diese
(nennen wir es mal Oppositionsbewegung) im klaren sein. Was in Genua zum ersten
Mal erkennbar wurde, und sich in Barcelona, Sevilla und anderen Städten
fortsetzte, ist in Florenz überdeutlich geworden: Je nach Gelegenheit
und Größe der Veranstaltung (z. B. einer Demonstration) kommen
heute wieder Kräfte von sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten zusammen.
Dies soll nicht heißen, dass alle Positionen gleich gut oder in Einklang
zu bringen sind. Aber für die TeilnehmerInnen in Florenz waren und sind
ganz offensichtlich die Gemeinsamkeiten das Wichtigere gewesen. Die optimistische
Stimmung, die Begeisterung war allgegenwärtig, und zwar wegen der TeilnehmerInnenzahl,
aber auch wegen der im Vordergrund stehenden gemeinsamen Positionen, die deutlich
über eine "Globalisierungskritik" hinausgehen.
- Speziell auf den Großveranstaltungen in Florenz wurde sichtbar, dass
kapitalismuskritische Positionen auf einer organisationsübergreifenden,
breiteren Ebene artikuliert werden. Gerade diese Ausführungen erhielten
oft tosenden Beifall. Längst hat die Bewegung die Kritik nur am Neoliberalismus
hinter sich gelassen.
- Es muss aber auch festgehalten werden: In Florenz wurde zwar wiederholt,
ja häufig, auf die Systemfrage verwiesen: Es gehe nicht nur darum den
Neoliberalismus oder gar nur seine extremsten Auswirkungen zu bekämpfen,
sondern darum, das System Kapitalismus insgesamt in Frage zu stellen, weil
es in seiner Natur liegt, dass ständig Raubbau an Mensch und Natur betrieben
wird. Am deutlichsten wurde dies immer wieder an der Kriegsfrage entwickelt,
auch bei Veranstaltungen, die zu anderen Themen oder sehr eingegrenzten Fragestellungen
abliefen.
Was aber noch nicht geleistet wurde, ist die Erläuterung dessen, was mensch
sich denn als Alternative vorstellt, wie diese andere Welt aussehen wird usw.
Nur zu sagen wie so manche RednerInnen es braucht eine Revolution,
wird in den kommenden Monaten und Jahren nicht reichen. Es muss erläutert
werden, was die Grundzüge einer anderen Gesellschaft sind, wie wir dorthin
kommen können, wo heute schon Merkmale definiert bzw. wie in den Kämpfen
ein anderes Zusammenleben sichtbar gemacht werden kann. V. a. auf der Ebene
der Forderungen, die die politische und die Gewerkschaftsbewegung entwickeln,
muss diese Brücke erkennbar werden. Je zusammenhängender ein solches
Programm nennenswerten Teilen der Bevölkerung vermittelt werden kann, um
so größer das politische Gewicht, das in zukünftigen Kämpfen
entwickelt werden kann. Auch hier hat die Gewerkschaftslinke eine gewisse Verantwortung.
- Ein Instrument zur Verbreitung und inhaltlichen Weiterentwicklung der Bewegung
könnte die Bildung eines Sozialforums Deutschland sein, und zwar als
ein breites Bündnis, das die Vernetzung und die Diskussionen fördert,
was aber vor allem gemeinsame, wirkungsvolle Aktionen anstößt und
koordiniert. Die Existenz des italienischen Sozialforums z. B. war einer der
Faktoren, die zum gewaltigen Erfolg des ESF beigetragen haben. Das Bündnis
"Stop the War" in Großbritannien war Voraussetzung für die erfolgreiche
Mobilisierung zur Antikriegsdemo vom 28. September, zu der 400 000 DemonstrantInnen
in London zusammenkamen. Die Nichtexistenz einer vergleichbar breiten Struktur
in Deutschland ist das Gegenbeispiel, das (neben anderen Faktoren) erklärt,
warum bei uns z. B. die Antikriegsdemonstrationen noch nicht sehr beeindruckend
waren.
Jakob Schäfer
Forum Gewerkschaftliche Gegenmacht (Wiesbaden)