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Updated: 18.12.2012 15:51
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Sweet cacophonia?: Das dritte Europäische Sozialforum ging in London zu Ende

Gliederung:

Sweet cacophonia! An Stimmenvielfalt mangelt es nicht auf dem diesjährigen European Social Forum (ESF) in London. Zwei Großveranstaltungen werden, aus unterschiedlichen Gründen, gestört oder gesprengt. Und um die Abschlussdemo am vorigen Sonntag gibt es im Vorfeld anhaltenden Streit: Die britische Socialist Workers Party (SWP, dogmatisch-trotzkistisch) wollte eine totale Ausrichtung der Demo auf "No to Bush" sowie "Troups out of Iraq". Dagegen war im Laufe der ESF-Vorbereitungsplena beschlossen worden, auch eine explizite Kritik an der europäischen Sozial- und Außenpolitik in den Aufruf und Titel der Demo aufzunehmen. Auf den Plakaten, die durch die Briten verklebt wurden, findet sich dieser Aspekt aber nicht wieder. Zahlreiche Gruppen haben mit einem solchen Verhalten seitens der SWP jedoch gerechnet, und ihr eigenes Demomaterial mitgebracht. Der "Antikapitalistische Block" wirbt gar explizit damit, dass bei ihm "nicht am richtigen Platz sei, wer nur Bush und nicht auch den Kapitalismus in der EU kritisieren will".

Schon bei der Eröffnung, am Donnerstag abend, zeigten die Veranstalter sich überfordert oder überrollt: 900 Leute passten in die Halle im Stadtzentrum von London, wo man sich einschreiben konnten, aber 6.000 standen vor den Türen im plätschernden Regen und machten ihrem Unmut Luft.

Auch wenn einige Fraktionen wie die, stark in der Vorbereitung präsente, britische SWP es sich erhofft hatten: Die Teilnehmerschaft an der europaweiten Debatten- und Austausch-Versammlung lässt sich nicht so einfach für eine "Linie" vereinnahmen. Nichtsdestotrotz sind natürlich diverse Parteien und politische Gruppen präsent, darunter auch einige skurrile Sekten. Den größten Lacherfolg verzeichnet ein Grüppchen von Maoisten der "Weltbewegung der Volkswiderstände". An ihrem Stand prangen Plakate in grellem Gelb: "A better world is possible: Look to Nepal ­ a better world in birth", heißt es dort mit Bezug auf die maoistische Bauernguerilla im Himalayastaat. Junge Franzosen lassen sich davor fotographieren und schütteln sich vor Lachen.

Insgesamt sind an die 20.000 Menschen angereist, die sich gleich mit diversem Infomaterial eindecken können: Die Landminenkampagne wirbt für ein Produktions- und Exportverbot dieser Waffen; Flüchtlings- und Asylgruppen protestieren gegen die Unmöglichkeit für "illegale" Einwanderer aus der ganzen EU, zu dem Forum auf der britischen Insel anzureisen; Bürgerrechtsgruppen berichten von Plänen zur Einrichtung zentraler Datenregister; Prekärengruppen vertreiben preisgünstige Videos über die Kämpfe von "intermittents du spectacle" in Frankreich, streikende McDonald-Beschäftigte oder "Korea Telecom Workers".


Ein kleiner Streifzug durch die Themenpalette des ESF: Vom Irak (und seinen Gewerkschaften) zur europäischen Gewerkschaftslinken


Freitag morgen auf dem ESF: Von nebenan hört man den Redner einer anderen Versammlung agitieren, der die Teilnehmer der eigenen Konferenz fast übertönt. Die meisten Veranstaltungen im Alexandra Palace, dem riesigen Kongresszentrum im Norden der britischen Hauptstadt, sind nur durch provisorische Stellwände in halber Raumhöhe voneinander abgetrennt. Nebenan geht es um andere Themen, um die "Organisierung migrantischer Arbeiter" etwa oder um "Bürgerrechte und den Krieg gegen den Terrorismus".

Bei uns soll der Frage nachgegangen werden: "Ist Europa eine Alternative zur US-Hegemonie?" Der ägyptische Marxist Samir Amin eröffnet die Runde mit einem Statement, demzufolge die Konkurrenz zwischen Europa und den USA zwar nicht automatisch progressive Perspektiven eröffne ­ es wohl aber möglich sei, Europa mit "einem anderen sozialen Inhalt" und "einer anderen Politik gegenüber dem Süden" zu verbinden. Das wollen die anderen Podiumsteilnehmer nicht so sehen. Der britische Redner Alex Callinicos, Professor für Politikwissenschaft, warnt vor einer Gut-Böse-Einteilung zwischen der EU und den USA: Mit der europäischen Geschichte seien auch der Sklavenhandel und der Holocaust verknüpft, und zu den USA gehörten "nicht nur Bush und christliche Fundamentalisten", sondern auch "die Radical Republicans, die gegen die Sklaverei aktiv waren, und die Bürgerrechtsbewegung". Seine Schlussfolgerung: "Statt für ein soziales Europa sollten wir für eine sozialistische Welt kämpfen".

Einen weiteren argumentativen Schlagabtausch liefern sich Callinicos und Michael O¹Brian vom irischen Anti-War-Movement. Callinicos, der auch der britischen Socialist Workers Party (SWP) angehört, bezieht sich ohne nähere Differenzierung positiv auf alle "Strömungen des irakischen Widerstands", nimmt davon allerdings die Gruppe des jordanischen Islamisten Abu Mussab al-Zarqawi aus; deren "barbarische Akte" seien allerdings vielleicht von Geheimdiensten inspiriert. Dagegen will O`Brian sich explizit nur auf "die säkularen und progressiven Kräfte im Irak" beziehen, nicht aber auf "jene, die dem iranischen Modell nacheifern wollen".

Kurz Hamburger und Cheeseburger hinein schieben, dann gehe ich mir die Debatte der europäischen Gewerkschaftslinken angucken. Annick Coupé von den französischen linksalternativen SUD-Gewerkschaften eröffnet mit einem kritischen Rückblick: Auf dem letztjährigen ESF seien gemeinsame europaweite Aktionstage gegen den Sozialkahlschlag beschlossen worden. Aber nichts sei wirklich passiert. Man solle daher damit aufhören, einmal jährlich die Aktionseinheit feierlich zu beschwören, und endlich konkret zur Zusammenarbeit übergehen. Prompt wird eine Liste ausgelegt, um die Mailadressen zu sammeln. Piero Bernocci assistiert: Es sei höchste Zeit für neue Initiativen in der Arbeitswelt, denn die traditionellen Gewerkschaften stellten ihr Versagen kräftig unter Beweis ­ da sie es nicht vermochten, neben den Kernbelegschaften auch den Prekären gleiche solidarische Perspektiven zu geben, und wegen ihrer Bindung an die Sozialdemokratie. Britische Gewerkschaftslinken berichten von den tiefen Spaltungen, welche die Sozial- und Kriegspolitik Tony Blairs verursache, was neue Kampfperspektiven eröffne. GewerkschafterInnen aus der Slowakei, unter ihnen Zuzana Cirgelova, treten aus dem Publikum ans Mikrophon und berichten über die Vorgänge in ihrem osteuropäischen Land, das sie als ein "Laboratorium" für moderne Ausbeutungsformen und Prekarisierung beschreiben. Besonders österreichische Firmen hätten im Rahmen der EU-Erweiterung die Slowakei als verlängerte Werkbank entdeckt und dort massiv Firmen aufgekauft. Zugleich gibt es in der Slowakei eine ex-offizielle dominierende Gewerkschaft, die im Realsozialismus die staatsnahe "Massenorganisation" (der Partei) darstellte und die organisatorisch das Ende des realsozialistischen Systems überlebt hat. Die slowakischen KollegInnen berichten davon, wie in einer Firma mit 12.000 MitarbeiterInnen die Initiative zur Gründung eine unabhängigen Gewerkschaft ergriffen wurde ­ die binnen drei Tagen mehr Mitglieder zählte als die "offizielle" Gewerkschaft. Nunmehr suchen die slowakischen KollegInnen vor allem internationale Kontakte. (Kontaktmöglichkeiten per Post oder Mail können beim Autor dieser Zeilen in Erfahrung gebracht werden.)

Am Abend steht mit "End the occupation of Iraq" ein Thema auf der Tagesordnung, das stark im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Doch die Debatte findet nicht statt. Neben britischen und polnischen Vertretern sitzen auch zwei Iraker auf dem Podium, und einer von ihnen ist Subhi Al Mashadani vom Gewerkschaftsverband Iraqi Federation of Trade Unions (IFTU). Die IFTU steht der irakischen KP nahe, die der Provisorischen Regierung angehört. Für einige im Saal steht es schon vor der Debatte fest: Al Mashadani ist ein Verräter und Kollaborateur, den man deswegen besser gleich gar nicht zu Wort kommen lässt. 100 bis 150 Leute von diversen Splittergruppen brüllen deswegen die Diskussionsleitung nieder, während 3.000 Leute zuhören wollen und auf die Stühle steigen. Doch nachdem die Situation mit den Störern eskaliert, entscheidet die Veranstaltungsleitung sich für den geordneten Rückzug. Die SWP, deren Sprecher Alex Callinicos in der morgendlichen Debatte noch ebenfalls im Vorgriff (auf den Abend) von einem "Kollaborateur" auf dem Podium gesprochen hatte, steht dabei auf Seiten derer, die die Debatte stattfinden lassen wollen. Zumal sie auf dem Podium vertreten ist. Lindsay German, eine energische Rednerin, die für die britische Stop the War Coalition (aber zugleich auch für die SWP) spricht, meistert die Situation, indem sie das Gewirr im Saal mit ihrer mächtigen Stimme übertont und eine Rede über Tony Blairs Kriegslügen hält, der niemand im Saal widersprechen wird. Daraufhin wird die Veranstaltung abgebrochen, die somit mit einem Punktsieg für Lindsay German endet.

Am nächsten Morgen verbreitet die britische trotzkistische Gruppe "Workers Liberty", die wesentlich kritischere Positionen (etwa zum Bündnis mit konservativen Moslems und Islamisten) vertritt als die SWP, ein Flugblatt, in der sie die Störungsaktion verurteilt, unter dem Titel: "Let Subhi Al Mashadani speak!" Darin rückt sie die Dinge und die Vorwürfe etwas zurecht: Es stimme, dass die offiziellen IFTU-Vertreter auf dem jüngsten britischen Labour-Kongress gegen die Forderung nach (sofortigem) Abzug der britischen Truppen aus dem Irak eingetreten seien, was die Parteiführung gegen die Anti-Kriegs-Stimmen innerhalb der Labour Party benutzt habe. Das sei, so "Workers Liberty", ein politischer Fehler gewesen. Doch es sei seltsam, dass keinem der britischen Gewerkschaftsführer, die auf dem Labour-Kongress den "dirty job" für die Parteiführung erledigt hätten, um die Dissidenten zum Schweigen zu bringen oder einzulullen, im Rahmen des ESF auch nur der Hauch vergleichbaren Protests entgegen schlage wie dem irakischen IFTU-Vertreter. Ferner gehöre es zum Mindesten, sich die Argumente eines irakischen Gewerkschafters, der unter schwierigen Bedingungen tätig sei, zumindest anzuhören. Schließlich sei bemerkenswert, dass niemand von den Schreiern bei der Veranstaltung zur Unterstützung der irakischen Arbeitslosenunion UUI (Union of unemployed in Iraq) gesichtet worden sei, auf der Geld für eine selbstverwaltete Arbeitslosenkasse im südirakischen Basra gesammelt wurde. Es gebe im Irak diverse soziale Organisationen, auch andere Gewerkschaften, die nicht die Positionen der IFTU bzw. der irakischen KP zur Provisorischen Regierung teilten; dennoch sei auch die IFTU selbstverständlich Bestandteil der dortigen kollektiven Organisationen.

Am folgenden Tag betrachte ich die Dinge vorübergehend vom Podium aus: Am Samstag mittag geht es bei einem Seminar im Londoner Innenstadt-Bezirk Bloomsbury um "Globalisierungsdiskurs und extreme Rechte". Neben der Situation in Deutschland, Österreich und Frankreich, wo die extreme Rechte das Thema "Globalisierung" mit eigenen Inhalten ­ Verschwörungstheorien ­ in Beschlag zu nehmen versucht, geht es vor allem auch um die Situation in Osteuropa. Dort ist es Rechtsextremisten teilweise gelungen, selbst in die globalisierungskritische Bewegung einzudringen, wie ein ­ mittlerweile beendeter ­ rechter Übernahmeversuch bei ATTAC Polen zeigt. Wie nötig die Auseinandersetzung bleibt, zeigt der Redebeitrag einer Russin, die unter nationalrevolutionärem Einfluss zu stehen scheint und paranoide Weltverschwörungsthesen verbreitet: Der "NATO-Faschismus" wolle die die Welt beherrschen und deswegen den Leuten "Identity Chips" unter die Haut verpflanzen.

Später geht es im Alexandra Palace um "den Kampf für Demokratie und gegen den Krieg im Nahen und Mittleren Osten". Die Ägypterin Aida Seif el-Dawla berichtet von der harten Repression gegen Anti-Kriegs-Aktivitäten in ihrem Land. Zwei Frauen aus dem Iran, eine Schriftstellerin und die Vertreterin einer regierungsunabhängigen Frauenorganisation, berichten von der Repression im "Gottesstaat", aber auch von der Existenz einer widerständigen "Zivilgesellschaft" und dem notwendigen Kontakt zu westlichen Frauenbewegungen. Beide tragen ein Kopftuch, aber vermutlich aus Sicherheitsgründen, weil ihnen sonst im Iran schlimme Konsequenzen drohen könnten, wenn sie ohne Verhüllung fotographiert würden. Zwei Stunden später jedenfalls treffe ich die beiden Frauen wieder, dieses Mal beide ohne Kopftuch. Und die Anliegen, die sie vortragen, sind durchweg säkular. Gleichzeitig betonen sie: "Unsere Gesellschaft ist erwachsen, wir brauchen keinen Bush, der uns die Demokratie von oben bringt."

Protest gegen Institutionalisierung und Kanalisierung des ESF

Am Abend ist noch eine Großveranstaltung zum Thema "Rechtsextremismus in Europa" angesetzt, die jedoch nachhaltig gestört wird. Denn mehrere hundert Anarchistinnen und Basisaktivisten stören sich daran, dass der Londoner Bürgermeister Ken Livingston als Redner angekündigt ist: Aus ihrer Sicht geht die Institutionalisierung des ESF damit zu weit, zumal das Londoner Rathaus einen Gutteil der Kosten übernommen hat. Livingston taucht jedoch als Redner nicht auf, und so kann das Plenum mit halbstündiger Verspätung doch noch stattfinden.

Die Kritik an der Institutionalisierung des Sozialforums drückte sich ferner auch in der parallelen Abhaltung eines Alternativforums unter dem Titel "Autonomous Spaces" aus, auf dem es thematisch besonders um Überwachungsstaat und um prekäre Arbeit ging. Auch fand am Freitagnachmittag dort ein Forum unter dem Titel "Against the clash" statt, das die These vom "Clash of civilizations" behandeln und demontieren sollte. Dort kam u.a. auch die "Organzisation for the liberty of women in Iraq" zu Wort, die mit der irakischen Arbeiterkommunistischen Partei verbunden ist und linke Kritik sowohl an den Besatzungsmächten als auch an den (bewaffneten und nicht bewaffneten) Islamisten und anderen reaktionären Kräften im Irak übt. Aus rein zeitlichen Gründen, und weil der Mensch leider nicht an drei Orten zugleich sein kann, vermag der Berichterstatter über diese Diskussion leider nichts Näheres zu sagen.


Gewerkschaften in Nord und Süd

Am Samstag abend und zeitgleich mit dem beeinträchtigten Rechtsextremismus-Forum geht es, einige Trennwände weiter, um "Arbeit und soziale Rechte: Kollektive Rechte gegen Prekarisierung, Ausbeutung und Deregulierung". Barbara Radziewicz von der polnischen Arbeitslosen-Union leitet die Diskussion und plädiert für eine verstärkte internationale Zusammenarbeit der Arbeiterbewegung, angesichts der Standort-Erpressung des Kapitals. Die indische Gewerkschafterin Meena Menon plädiert in einem mitreißend vorgetragenen Beitrag gegen ein "Wir gegen Euch", etwa in der Form, dass Gewerkschafter im "Norden" die Arbeiter in den Ländern des "Südens", wohin Produktionszweige ausgelagert werden, als ihre Konkurrenten betrachten. Wenn sie ausschließlich darauf bedacht sind, die Arbeitsplätze der eigenen Klientel im Norden zu bewahren, können die Arbeiter im "Süden" tatsächlich leicht als Gegner erscheinen. Stattdessen laste der Druck, unter den das Kapital die Arbeitskräfte durch systematischen Ausspielen der so genannten Standortkonkurrenz setze, genauso die Arbeiter im "Süden" unter Druck. Deswegen irrten sich auch jene, die beispielsweise in Indien in blinder Euphorie die "Schaffung von Arbeitsplätzen" etwa durch die Auslagerung von Informatik- oder Servicebetrieben (Call centers usw.) begrüßten: Sie übersähen nicht nur die damit oft verknüpfte Arbeitsplatz-Vernichtung andernorts, sondern vor allem auch, "dass hier keine dauerhafte Beschäftigung geschaffen wird: Diese Industrien können weiterziehen, wenn die kurzfristigen Chancen auf schnellen Profit erschöpft sind". Das gehe auf Kosten der Schaffung einer lebensfähigen Nationalökonomie in der "Dritten Welt". Gewerkschaftliche Organisierung unter den Mitarbeitern der Software-Entwickler und Informatikbetriebe sei notwendig, aber bisher oft schwer, "da hier oft die Kinder der Mittelklasse mit Universitätsabschluss eingestellt werden, die ohne Bezug zu kollektiver Solidarität sind, wenn sie auf den Arbeitsmarkt kommen".

Francine Blanche von der französischen CGT berichtet ihrerseits von ihrer Tätigkeit im Konzernbetriebsrat eines multinationalen Unternehmens: In Frankreich würden Arbeitsplätze vernichtet mit dem Argument, sie würden nach Ungarn verlagert. "Aber dann erhalten wir Telefonanrufe aus Ungarn, die uns darüber informieren, dass dort auch Arbeitsplätze abgebaut werden, weil das Produzieren in der Ukraine noch billiger sei. Aus der Ukraine erhalten wir Anrufe, denen zufolge dort ebenfalls Arbeitsplätze vernichtet werden, weil man in Indien noch billiger herstellen könne. Aus Indien wiederum werden wir darüber informiert, dass dort dasselbe passiere, weil China noch billiger sei. Aber wenn wir China am Telefon haben, werden wir davon unterrichtet, dass auch dort Arbeitsplätze abgebaut werden, weil man mit weniger Leuten noch kostengünstiger produzieren könne." Ein Spiel ohne Grenzen, bei dem unter den Arbeitskräften eigentlich nur Verlierer entstehen...

Aktionsplan für die kommenden Monate

Am Sonntag schließt das ESF mit einer "Versammlung der sozialen Bewegungen", die den nächsten Aktionskalender beschließt. Im kommenden Februar soll gegen den NATO-Gipfel in Nizza demonstriert werden. Vor allem aber soll es ein gemeinsames Aktionswochenende am 19./20. März 05 geben, mit einer samstäglichen zentralen Demonstration in Brüssel gegen die "Lissabon-Agenda": Vor zwei Jahren beschloss ein EU-Gipfel in der portugiesischen Hauptstadt einen Fahrplan zur "Flexibilisierung des Arbeitsmarkts". Gleichzeitig soll es am Sonntag, 20. März Mobilisierungen zum dritten Jahrestag des Beginns des US-amerikanischen und britischen Irakfeldzugs geben. Wenn sich die beiden Termine zu verschiedenen Themen, aber am selben Wochenende, mal nicht gegenseitig blockieren werden...

Am 2. April 05 wird es europaweit gegen Abschiebungen geben, und die Frauenbewegung des Kontinents soll Ende Mai 05 in Marseille demonstrieren. Das nächste Sozialforum des Kontinents soll ebenfalls in klimatisch angenehmen Gefilden stattfinden ­ im Frühsommer 2006 in Athen.


Versuch einer Gesamtbewertung

Eine Gesamtbilanz muss notwendig provisorisch ausfallen. Denn die Bewertung wird im Endeffekt davon abhängen, was von der geplanten Zusammenarbeit und Vernetzung der sozialen Bewegungen auf kontinentaler Ebene in den kommenden Monaten tatsächlich umgesetzt wird, und was nicht. Die Erfahrung mit dem letztjährigen Pariser ESF und seinem Nachspiel mahnt dabei zur Vorsicht. Ein europaweiter Aktionstag gegen Abschiebezentren und für "illegale" Migranten am 31. Januar 2004 wurde zwar durchgeführt, doch an der Pariser Demonstration an jenem Tag nahmen beispielsweise nur 800 Leute teil; zu vielen Demos zum selben Thema mit "nationaler" oder regionaler Mobilisierung kommen mehr TeilnehmerInnen. Der europaweite Aktionstag gegen den Sozialkahlschlag am 3. April dieses Jahres wiederum wurde in den meisten EU-Ländern ein Flop. Lediglich in Deutschland fanden größere Demonstrationen unter den Fittichen des DGB statt, jedoch mit vorwiegend innenpolitischer Ausrichtung als kreuzbraver Protest gegen die Politik der Schröder-Regierung.

Festzuhalten bleibt, dass der Verlauf des diesjährigen ESF in London insgesamt in einem Punkt positiver zu werten ist, als jener des ESF von 2003: Die enorme räumliche und deswegen auch inhaltliche Zersplitterung vom vorigen Jahr wurde nicht wiederholt. Der größte Teil der Veranstaltungen fand in dem riesigen Kongresszentrum Alexandra Palace statt, so dass sich man vergleichsweise problemlos von einem Themenbereich zum nächsten begeben oder, sofern man wollte, auch "zappen" konnte. Deswegen war es auch überhaupt möglich, den Großteil der TeilnehmerInnen zu Gesicht bekommen - während in Paris und den drei Trabantenstädten, über die sich das vorjährige ESF verteilte, das Gros der Beteiligten irgendwo in Verkehrsmitteln und auf Haltestellen steckte (wenn sie nicht gerade in einer der unzähligen Veranstaltungen anzutreffen waren). Die übrigen Veranstaltungen, die nicht im Alexandra Palace stattfanden, waren über einen relativ überschaubaren Innenstadt-Bezirk in Bloomsbury verteilt und insofern bequem miteinander zu verbinden. Die Entfernung zwischen Bloomsbury und dem Kongresszentrum betrug allerdings auch über eine halbe Stunde.

Die Gesamtmobilisierung fiel, mit 19.000 eingeschriebenen TeilnehmerInnen, schwächer aus als in Paris (mit rund 50.000 Forumsteilnehmern) und Florenz im November 2002. Das hängt wohl unter anderem mit einem Rückgang der gewerkschaftlichen Mobilisierung zusammen: Präsent waren in London vor allem die jungen TeilnehmerInnen unter 25 oder 30 einerseits, und die politischen AktivistInnen der Linken plus des NGO- und Initiativen-Spektrums andererseits. Die moslemische Teilnehmerschaft (auf die die SWP sehr erpicht war) blieb ihrerseits sehr minoritär. Insgesamt war das Sozialforum in London ziemlich "jung" und ziemlich "rot". Das ist atmosphärisch eher angenehm (sieht man von einigen nervenden Politsekten mal ab), aber reduziert das Spektrum ein wenig.

Gewerkschaften waren aus Großbritannien ziemlich stark vertreten, mit Gewerkschaftslinken aus Großorganisationen wie Unison (öffentlicher Dienst), CWU (Communcation Workers Union) und Transportgewerkschaften. Aus den anderen Ländern kamen dagegen vor allem VertreterInnen von alternativen oder Basisgewerkschaften, wie den französischen SUD oder den italienischen COBAS. Das ist positiv, und es handelt sich dabei um interessante Ansätze; aber im Gegenzug fiel die Mobilisierung aus anderen Organisationen der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung (außerhalb Großbritanniens) eher schwach aus. Bei der sonntäglichen Abschlussdemo wurde ersichtlich, dass etwa aus Frankreich namentlich die SUD-Gewerkschaften sowie die (halb)linke Lehrergewerkschaft FSU mobilisiert hatten, aber die CGT fast völlig durch Abwesenheit glänzte. In Paris hatte die CGT noch Präsenz gezeigt - allerdings war ihr Apparat auch einer der wesentlichen lähmenden, "kanalisierenden" und einengenden Faktoren beim 2003er Sozialforum gewesen. Aus deutschen Landen gab es einen Block von IG MetallerInnen auf der sonntäglichen Abschlussdemo sowie eine Delegation, die hinter einem Transparent "Montagsdemonstrationen Leipzig" lief.

Der relative Rückgang der TeilnehmerInnen-Zahlen allein wäre noch kein Beinbruch, da doch klar sein muss, dass nur eine begrenzte Zahl von Leuten es sich zeit-, energie- und geldmäßig leisten können, regelmäßig quer durch die EU in wechselnde Städte zu reisen. Sofern damit keine "Professionalisierung" und keine Monopolisierung durch hauptamtliche NGO-Funktionäre einhergeht, ist das vielleicht (in bestimmten Grenzen) ein unvermeidbarer Prozess. Von dieser Seite her ist die befürchtete "Institutionalisierung" des ESF bisher so nicht eingetreten, denn dafür war die Teilnehmerschaft im Durchschnitt viel zu jung, um eine "Funktionärsschicht" widerzuspiegeln. Die Gefahr der Institutionalisierung rührt auch allgemein eher von der allzu freundlichen und zuvorkommenden Behandlung durch Kommunalregierungen her, die (wie jene von Paris ebenso wie das Rathaus von London) bereitwillig einen Großteil der Kosten übernehmen. Nicht, dass man die mögliche Finanzierung ausschlagen sollte, die Frage ist nur, wieviel Einfluss man im Gegenzug etwa Fraktionen der Labour Party oder der französischen KP implizit gewährt.

Dass die europäischen Foren nicht ganz so riesig ausfallen (20.000 Anreisende aus der ganzen EU ist auch schon eine stattliche Zahl), ist kein Drama, wenn damit künftig eine größere Ernsthaftigkeit in der längerfristigen Perspektive einhergeht. Das heißt, wenn aus dem bisher doch dominierenden Eindruck eines bunt zusammengewürfelten "Jahrmarkts der Möglichkeiten" allmählich ein ernsthafter und über den Tag hinausreichender Versuch einer Zusammenarbeit "von unten her" wird.

In diesem Sinne fände ich es (ein persönlicher Vorschlag sei zum Schluss hin erlaubt) nicht schlecht, wenn künftig eine stärkere thematische Konzentration stattfände. D.h., wenn jedes ESF einen zentralen Themenblock aufwiese, um den herum sich die Debatten strukturiere, ohne freilich deswegen den Austausch zu anderen Themen abzuschneiden oder einzuengen. Vorstellbar wäre etwa, eine zentrale Problematik oder Fragestellung zu wählen, in deren Lichte sich auch die anderen Themen behandeln lassen. Etwa: Wenn ein ESF dem Thema "Prekarität, Prekarisierung von Arbeit" gewidmet wäre, dann ließe sich das Themenfeld "Einwanderungsgesetze" damit ebenso in Verbindung bringen wie viele der internationalistischen Themen, indem man die Diskussion über Solidarität mit bestimmten Ländern gezielt auf die Solidarität mit den sozialen Bewegungen dort orientiert.


Schluss mit den ideologischen Mystifizierungen!

Damit ließe sich auch die stark "identitäre", plakative und mystifizierte Solidarität (mit ganzen Ländern) vermeiden, die oft innergesellschaftliche Widersprüche und Konfliktlinien ausblendet ­ so, als ob die irakische oder palästinensische Gesellschaft einen homogenen Block ohne innere Konflikte oder Debatten darstellten. Tatsächlich mangelte es nicht an Projektionen von Revolutionshoffnungen und an Mystifizierungen an diesem Wochenende. Den übelsten Beitrag lieferte wohl der ehemalige (mittlerweile aus der Partei ausgeschlossene) britische Labour-Abgeordnete George Galloway, der nicht nur Kriegsgegner war, sondern der tatsächlich auch "positiv" mit dem Saddam-Regime verbunden war und möglicherweise in der Vergangenheit von diesem Geld erhielt. Auf der Abschlusskundgebung verbreitete er sich über die "Helden" und "Kämpfer" der irakischen Widerstandshochburg Falluja und gab dabei die neue Parole aus: "Falluja united will never be defeated!" Nun muss man nicht zu den aktuellen Bombardierungen und Kriegsverbrechen der USA im Irak schweigen oder gar ihnen zustimmen, um doch die Rolle islamistischer und dijhad-aktivistischer Milizen und Kampfgruppen in dieser Stadt äußerst problematisch zu finden.

Nicht, dass der Gesamt-Tenor der Abschlusskundgebung auf dem Trafalgar Square am Sonntag gegen 16 Uhr sich auf solche Töne beschränkte. Dort kamen auch die Eltern eines im Irak getöteten britischen Soldaten und der große alte Mann der Labour-Linken, Tony Benn, zu Wort, der aus anderem Holz geschnitzt ist als der autoritäre Demagoge Galloway. Die Faszination für bewaffnete Islamisten dürfte nicht Allgemeingut sein. Dennoch finde ich auf dem Boden ein Exemplar eines Flugblatts, das von einem Khomeini-Portrait geziert wird und für die "Mahdi-Armee" des schiitischen Milizionärs Moqtada as-Sadr wirbt. Da ich nirgendwo Verteiler dieses Flugblatts erblickt habe, ist allerdings zu vermuten, dass es eher unter der Hand verteilt wurde oder dass die Sympathisanten dieser Orientierung jedenfalls recht minoritär waren.

Ein Zurückschrauben der teilweise vorhandenen inhaltlichen Beliebigkeit und eine stärkere thematische Aufeinander-Bezogenheit würden es vielleicht erlauben, solchen Unfug hinauszudrängen. Internationale Solidarität sollte eindeutig als eine mit progressiven und an einer solidarischen Perspektive ausgerichteten Organistionen oder Bewegungen definiert werden. Nicht an allem, was sich bewegt und möglichst laute Explosionen im Irak herbeiführen kann.

Aber das war nur ein Vorschlag, oder vielleicht ein Wunschtraum...

Artikel von Bernard Schmid vom 20.10.04, er hat für das LabourNet besonders die gewerkschaftlichen Veranstaltungen beobachtet…


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