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Walter Riesters Kaffeefahrt an die Börse

oder: So viel Sicherheit in der Rente war nie

Von Andreas Bachmann

Mit den "Schönberger Rentenbeschlüssen" von SPD/Die Grünen, mit denen Union und FDP trotz einiger Mäkeleien gut leben können, wird die sozialpolitische Landschaft in der Bundesrepublik weiter umgepflügt. Während das Abschalten der AKWs in den nächsten Jahrzehnten ausfällt, wird jetzt der Ausstieg aus der solidarischen Rentenversicherung eingeleitet. Die Restlaufzeiten für eine existenz- und lebensstandardsichernde Altersrente werden immer kürzer.

Daran ändert auch die von Riester und Schröder nach einem Gespräch mit der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Engelen-Kefer und dem DAG-Vorsitzenden Issen am 30. Juni angekündigte Veränderung der rot-grünen Rentenpläne nichts. Fahrlässig ist dabei die von der DGB-Vize abgegebene Entwarnung, nach der dem bisherigen Konzept "einige Giftzähne gezogen" worden seien.[1] Realistischer ist da schon Alexander Hage lüken von der Süddeutschen Zeitung, der die Änderungen der Regierungspläne wie folgt einschätzt: "Einer Ablehnung seiner Pläne kommt Riester nun zuvor, indem er sein Konzept ändert, ohne auf die Grundprinzipien zu verzichten."[2]

Nach den ursprünglichen Schönberger Beschlüssen sollte das Nettorentenniveau für den/die StandardrentnerIn langfristig von knapp 70 Prozent auf nominal [3] 54 Prozent (des durchschnittlichen ArbeitnehmerInneneinkommens) sinken. Die darin enthaltene "neue Rentenformel" – das Herzstück der rot-grünen Rentendemontage – basiert auf einem stetig anwachsenden Ab- und Anschlag auf die Sozialversicherungsrenten, der in der ursprünglichen Version bis zum Jahr 2050 über 25 Prozent des heutigen Rentenniveaus gekappt hätte.

In der neuen Variante vom 30. Juni 2000 wird der Planungs- und Offenbarungshorizont dagegen auf das Jahr 2030 begrenzt. Der formal versicherungsmathematisch an die fiktive Rendite privater Vorsorge gebundene Abschlagsfaktor der "Schönberger Beschlüsse" wurde vorerst auf Eis gelegt. Stattdessen wird der Rentenabschlag ähnlich dem "demographischen" Faktor der Union mit dem veränderten Altersaufbau der Gesellschaft legitimiert. Die Ableitungen sind zwar unterschiedlich, das Ergebnis bleibt jedoch gleich: Die Rente wird nachhaltig und etwa in dem in den Schönberger Beschlüssen vorgesehenen Umfang sinken. Im Unterschied zu der Präsentation der rot-grünen Rentenkonzeption soll das Nettorentenniveau im Jahr 2030 nun nicht auf 62 Prozent, sondern nur auf 64 Prozent sinken. So weit hatte das Bundesarbeitsministerium seine ursprüngliche Kalkulation ohnehin schon berichtigt. Die fiktive Rendite privater Vorsorge wurde in einer Alternativberechnung von ursprünglich 5,5 Prozent auf 4 Prozent korrigiert. Die Rentenabschläge würden damit geringfügig abgemildert.

Private Vorsorge bleibt auch in der neuen Variante ein wichtiges Datum und Legitimationsbasis für die Absenkung der Sozialrenten. Künftig sollen z.B. ArbeitnehmerInnen einen Rechtsanspruch auf private Versicherungen durch Gehaltsumwandlung erhalten – die sie allerdings alleine finanzieren. Diese Form der privaten Vorsorge ist nicht nur steuerfrei, sondern entzieht den Sozialversicherungen auch im größeren Umfang Beiträge. Mit Spannung darf erwartet werden, welche großartigen Vorschläge die tarifpolitischen Grundsatzabteilungen der Gewerkschaften aus diesem Kuckucksei entwickeln werden.

Schönrechnen mit und für Walter Riester

Warum war die Entwarnung von Ursula Engelen-Kefer voreilig?

Die zentralen Stellschrauben für das Rentenniveau – Beitragshöhe und Versichertenkreis – werden in der neuesten Variation nicht geändert. Nach wie vor soll der Beitragssatz bis 2025 auf 20 Prozent und bis 2030 auf ca. 22 Prozent begrenzt bleiben. Der virtuelle Erfolg wird vor allem dadurch erzielt, dass mit dem verkürzten Planungshorizont bis 2030 statt bis zum Jahr 2050 der Zeitraum unterschlagen wird, in dem SPD, Grüne und Union die gesetzliche Rente noch rabiater schleifen wollen.

Ausgeblendet wird zudem, dass die statistische Betrachtung und Berechnung der Nettolöhne als Bezugsgröße des Rentenniveaus radikal geändert wird. Unter anderem werden die privaten Vorsorgeaufwendungen für das Alter aus den Nettolöhnen herausgerechnet. Dieses wichtige Detail wird von der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden nicht erwähnt. So können sich die Bundesregierung und der DGB an einem nur milde sinkenden Nettorentenniveau erfreuen, obwohl die Renten drastisch sinken. Auf diese Weise lässt sich jedoch immerhin mit dem Vorurteil aufräumen, dass Statistik und Buchführung nicht kreativ seien.

Mittlerweile akzeptiert der DGB einen privaten Vorsorgeanteil der ArbeitnehmerInnenhaushalte von 2,5 Prozent vom Brutto einkommen und ist damit nur noch 1,5 Prozent-Punkte von der Riesterschen Rentenformel entfernt, nach der der Abschlag bei den Sozialrenten rechnerisch auf die Rendite privater Vorsorge in Höhe von vier Prozent des Bruttoeinkommens gestützt wird.[4]

Politikwechsel? In der Rente erreicht

Die Skandalisierung der konservativ-liberalen Rentenkürzungen war einer der großen Wahlkampfschlager von SPD und Grünen 1998. "Unanständig", so lautete die sozialdemokratische Klassifizierung der Blümschen Rentenpolitik mit ihrem rentensenkenden "demographischen" Faktor. Die "anständige" rot-grüne Rentenreform gibt indes der Alterssicherung eine stärkere neo-liberale Prägung, als es die alte Bundesregierung durchsetzen konnte:

Ein(e) DurchschnittsverdienerIn (in der Rentendebatte: der "Eckrentner") würde in der Endphase der rot-grünen "Jahrhundertreform" nach 45 kontinuierlichen Beitragsjahren eine gesetzliche Rente beziehen, die nur geringfügig über dem (heutigen) Sozialhilfeniveau liegt. Dieser Effekt wird die umlagefinanzierte gesetzliche Rente weiter diskreditieren und den ideologischen Druck, die Sozialhilfe weiter zu senken, noch verstärken. Der Abstand zwischen durchschnittlichen Versicherungsleistungen und der Sozialhilfe ist faktisch eine der zentralen Größen der herrschenden Rentendebatte.

Wenn wir die statistische Konstruktion des kontinuierlichen Durchschnittsverdieners verlassen und uns die heute typischen atypischen Beschäftigungsverhältnisse vor Augen führen, wird klar, dass viele Menschen mit einer weniger stabilen Erwerbsbiographie (insbesondere Frauen) in die Altersarmut gedrängt werden. Wie ein schlechter Versicherungsvertreter versucht der Bundesarbeitsminister alle Einwände zu zerstreuen. Der Abschlag bei der gesetzlichen Rente soll angeblich durch die Rendite der privaten Vorsorge, die durch die automatische Absenkung der gesetzlichen Rente quasi erzwungen wird, mehr als kompensiert werden. Ab dem Jahr 2008 sollte in der ursprünglichen Kalkulation des Bundesarbeitsministeriums jede(r) ArbeitnehmerIn mindestens vier Prozent des Bruttoeinkommens privat sparen. Dabei unterschlägt der Arbeitsminister eine Reihe von Tatsachen:

1. Den privaten Vorsorgeformen fehlt die soziale Dimension. Keine Privatversicherung und kein Investmentfonds kümmert sich z.B. um die rentenrechtliche Würdigung von Erziehungszeiten oder um das Risiko von Erwerbs- und Berufsunfähigkeit bzw. um eine adäquate Hinterbliebenenversorgung. Die Tarifkalkulation von privaten Renten- und Lebensversicherungen diskriminiert Frauen. Viele ArbeitnehmerInnenhaushalte haben den notwendigen finanziellen Spielraum für Sparrücklagen oder weitere Lebensversicherungen nicht.

2. Die Kalkulation der Abschläge bei der gesetzlichen Rente in den nächsten 40 bis 50 Jahren (!) beruht auf einer hypothetischen Rendite der privaten Vorsorge in Höhe von kontinuierlich 5,5 bzw. 4 Prozent. Angesichts eines solch langen Zeitraums ist so viel Vertrauen in die Inflationsresistenz und Stabilität der nationalen und internationalen Kapitalmärkte abenteuerlich. Auch wenn nun anscheinend auf eine formale Anbindung des Rentenabschlags an die private Vorsorge verzichtet wird, spielt die Privatvorsorge nach wie vor eine große Rolle in den herrschenden Rentenkonzepten. Die Altersversorgung aus privaten Versicherungen oder Pensionsfonds ist jedoch schon deswegen nicht sicher, weil es systembedingt zu einem zeitgleichen Entsparungsvorgang kommen wird, durch den die von Walter Riester kalkulierte Rendite auf tönernen Füßen steht. Es liegt auf der Hand, dass ein zusätzlicher Kapitalfonds zur Kompensation der gesetzlichen Rentenkürzungen mit allen damit verbundenen Risiken international angelegt wird. Ein privatisiertes Rentensystem in der Größenordnung, wie von SPD, Grünen und Union vorgesehen, muss seine Erträge außerhalb der nationalen Ökonomie erwirtschaften. Mit anderen Worten: Die (hohe) Rendite muss auch in den Schwellenländern erwirtschaftet werden. Hier tun sich nur schwer auflösbare Widersprüche auf zwischen internationaler Gerechtigkeit und dem Druck, hohe Renditen für die Versicherten und PensionärInnen herauszuschlagen. Dazu kommt noch eine permanente Interessenkollision zwischen den von den Pensionsfonds Abhängigen und den ArbeitnehmerInnen in den Unternehmen, in die Pensionsfonds und Versicherungen investieren. Bisweilen werden diese Gruppen identisch und damit doppelt abhängig vom Arbeitgeber und Unternehmen sein.

3. SPD und Grüne verschweigen, dass die Verteilungswirkung der erzwungenen kapitalgedeckten Parallelrente verheerend ist. Im Vergleich zu einer Erhöhung der Beitragsätze zur gesetzlichen Rentenversicherung oder besser noch einer Verbreiterung ihrer Einnahmebasis ist mit der Teilprivatisierung der Alterssicherung durch die Preisgabe der paritätischen Finanzierung eine drastische Entlastung der Arbeitgeber verbunden. Die private Vorsorge wird von den ArbeitnehmerInnen alleine finanziert.

Die Rente – ein neues Spielfeld für StatistikerInnen und Tarifstrategen

Die Anpassung der Renten an die allgemeine Einkommensentwicklung, eine Voraussetzung für ein lebensstandardsicherndes Rentenkonzept, wird neu geregelt: Die Sozialrenten werden künftig von der Nettolohnentwicklung abgekoppelt. Schon mit der reduzierten Rentenanpassung in den Jahren 1999 und 2000, die auf Grundlage der Preissteigerungsrate des Vorjahres erfolgte, wurde das Rentenniveau dauerhaft abgesenkt. Im nächsten Jahr soll es nun zwar wieder zur nettolohnbezogenen Rentenanpassung kommen. Diese wird aber so umgebaut, dass sie ihren Namen nicht mehr verdient. Nur noch die Veränderung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung wird künftig an die Sozialrentner als Rentenanpassung weitergeben. Durch die statistische Anrechnung der Altersvorsorge außerhalb des Rentensystems bei der Ermittlung der Nettolöhne wird eine Absenkungsspirale festgeschrieben: Die private Vorsorge gerade der "Besserverdienenden", aber auch tarifliche Regelungen zur Altersversorgung wirken sich unmittelbar senkend auf die Sozialrenten aus.

Daher kann es auch keinen tarifpolitischen Befreiungsschlag aus der Rentenmisere geben. Im Gegenteil: Attraktive tarifliche Regelungen oder Vereinbarungen zur betrieblichen Altervorsorge – für eine Minderheit von meist männlichen Beschäftigten – kommen die Beschäftigten in Kleinbetrieben, die meisten Frauen und alle ArbeitnehmerInnen, die ohne nennenswerte betriebliche oder tarifliche Zusatzversorgung in Niedriglohnbranchen beschäftig sind, teuer zu stehen. Außerdem ist bei der derzeitigen tarifpolitischen Praxis absehbar, dass tarifliche Leistungen der Arbeitgeber zur Alterssicherung mit Lohnerhöhungen verrechnet werden. Auch diese Leistungen werden sich außerhalb der umverteilenden gesetzlichen Rentenversicherung – und höchstwahrscheinlich auch als Kapitaldeckungsverfahren – abspielen.

Altersarmut auf Grund gesetzt

Die von vielen geforderte Grundsicherung für GeringverdienerInnen innerhalb des sozialen Rentensystems wurde beerdigt. Übrig geblieben ist die Überlegung, Sozialhilfe für Menschen ab 65 mit etwas weniger Bürokratie und Schikanen zu gewähren. So wird Altersarmut nicht wirklich bekämpft. Doch waren auch die bisherigen Überlegungen zur Sozialen Grundsicherung aus der rot-grünen Koalitionsvereinbarung zu kurz gegriffen. Mit Hilfe eines fairen rentenrechtlichen Ausgleichs von Erziehungszeiten und Phasen sehr niedriger Erwerbseinkommen hätte es für viele Menschen eine bessere Lösung – weil mit robusten Sozialversicherungsansprüchen verbunden – gegeben. Eine Lösung übrigens, die die Arbeitgeber über ihren Anteil am Rentenversicherungsaufkommen hätten mitfinanzieren müssen.

Hohe Lohnnebenkosten – warum eigentlich nicht?

Bei den Kaffeefahrten in diesem Lande, auf denen vielen RentnerInnen häufig genug überteuerte Heizdecken u.ä. angedreht werden, ist der Schaden zumindest überschaubar. Bei Walter Riesters Kaffeefahrt an die Börse ist er es nicht. Die Teilprivatisierung der Alterssicherung ruiniert das im historischen Maßstab und sozialpolitischen Systemvergleich leistungsfähige Umlageverfahren. Dessen sozialpolitische Gestaltungsmöglichkeiten zur Absicherung unsteter Erwerbsbiographien bzw. des rentenrechtlichen Ausgleichs von Erziehungszeiten sind noch nicht ausgereizt. Die ökonomischen Möglichkeiten hinsichtlich der Verbreiterung der Einnahmebasis und des Versichertenkreises sind vorhanden. Was spricht dagegen, die Flucht der Arbeitgeber, vieler Berufsgruppen und gut verdienender ArbeitnehmerInnen aus dem gesetzlichen Rentensystem zu stoppen?

Berufsständische Versorgungswerke wie die der Ärzte und Anwälte gehören wie die BeamtInnen in die allgemeine Rentenversicherung. Über eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und die Berücksichtigung jeder abhängigen Arbeit in der Sozialversicherung durch einen lebensnahen ArbeitnehmerInnenbegriff im Sozial- und Arbeitsrecht kann das Rentenniveau verteidigt bzw. sogar verbessert und gleichzeitig der Anstieg der Beitragssätze (für die ArbeitnehmerInnen) auf ein sehr überschaubares Maß reduziert werden. Scheinbar höhere Lohnnebenkosten stehen dann für ein höheres Niveau an Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit.

Dagegen spricht nichts. Dagegen steht nur der "Standort Deutschland"-Fetischismus, wie er sich im "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" breit gemacht hat. Dort wurde verabredet, dass die Lohnnebenkosten, insbesondere die Sozialversicherungsbeiträge für die Unternehmen, nicht nur nicht steigen dürfen, sondern sogar sinken sollen. Die viel gescholtenen "Lohnnebenkosten" sind aber nichts anderes als die ökonomische Gestalt des sozialpolitischen Ausgleichs in der Bundesrepublik. Nutznießer der rot-grünen Rentenpläne sind die Arbeitgeber im Allgemeinen und die privaten Versicherungskonzerne im Besonderen. Im "Bündnis für Arbeit und Wettbewerb", aber auch durch die 2000er Tarifrunde der IGM, die eine Politik für ältere Beschäftigte außerhalb des allgemeinen Rentensystems zum Programm gemacht hatte, wurde der Systemwechsel in der Alterssicherung politisch vorbereitet und abgesichert.

Ohne einen Bruch mit diesem Bündnis können die Gewerkschaften den Angriff auf das soziale umlagegestützte Rentensystem nicht abwehren. Die relativ eindeutige Positionierung der fünf ver.di-Gewerkschaften vom 27. Juni d.J. gegen die Regierungspläne steht z.B. unvermittelt im Raum, wenn gleichzeitig das Bündnis für Arbeit, das ohne Mandat sozialpolitische Grundsatzentscheidungen für die ganze Gesellschaft trifft, weiter als zentrale Regulierungsinstanz anerkannt wird.

 

Erschienen in der Doppelausgabe 6-7/2000 von express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit - http://www.labournet.de/express/

Anmerkungen

1) Frankfurter Rundschau vom 1.7.2000; Hamburger Morgenpost vom 1.7.2000
2) SZ vom 1.7.2000
3) Die effektive Senkung wird größer sein, weil die Betrachtung dessen was Nettolohn ist, geändert wird.
4) "2,5 Prozent sind für uns die Obergrenze, wenn es nicht zu einer obligatorischen betrieblichen Altersversorgung kommt" (Engelen-Kefer lt. Handelsblatt vom 3.7.2000)

 


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