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"Genosse, schämst Du Dich nicht -?"

Gewerkschafter gegen Rentenreform!


Lebhaft ging es zu und energisch, manchmal auch laut, als die SPD-Landesgruppe Bayern am 10. Januar Gewerkschafter und Betriebsräte ins Münchner Gewerkschaftshaus einlud, um mit ihnen über die Rentenreform und die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes zu diskutieren. "Wir hatten nur elf Anmeldungen", sagte ein DGB-Funktionär, "und jetzt das!" Das waren rund 250 Kolleginnen und Kollegen, von denen sich nicht wenige schon weit vor Beginn der Veranstaltung vor dem Münchner Gewerkschaftshaus versammelt hatten, um gegen die Rentenreform zu protestieren.Auf Plakaten erinnerten sie die SPD an ihre Wahlversprechen von 1998:

"Die Kürzung des Rentenniveaus würde viele Renterinnen und Rentner zu Sozialhilfeempfängern machen."

"So darf man mit Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, nicht umgehen."

"Die SPD-geführte Bundesregierung wird die unsoziale Rentenpolitik unmittelbar nach der Bundestagswahl korrigieren."

So hieß es im SPD-Wahlprogramm. Die Kolleginnen und Kollegen stellten auf ihren Plakaten die Fakten der Reform entgegen:

"¡BASTAnte! (Genug!) Keine Stimme für diese Reform!" war also ihre Forderung, und nach dem Protest vor dem Haus zogen sie mit Tafeln und Transparent in den Saal ein, um diesen entsprechend zu schmücken.

Besonders bei den anwesenden Seniorenvertretern von HBV und ÖTV war der Ärger groß. Er ebbte auch nicht ab, als Fritz Schösser, MdB und Landesbezirksvorsitzender des DGB Bayern, versuchte die Reform schön zu rechnen und die Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, dass doch alles gut wäre. Die Kollegen merkten sehr schnell, daß es ein Unterschied ist, ob man von Parität spricht oder von "größtmöglicher Parität" bzw. "Parität auf höchstem Niveau", wie dies Kollege Schösser tat. Parität heißt halbe/halbe und halbe/halbe ist halt nicht angesagt, wenn die Arbeitnehmer in Zukunft 15 % der Beiträge einschließlich der privaten Vorsorge zahlen sollen und die Unternehmer nur 11 %.

Auf den Vorwurf, daß die sogenannte private Vorsorge vor allem den Banken und Versicherungen gut täte, aber ansonsten das Solidarprinzip ausgehebelt würde, verstieg sich der Sprecher der SPD-Landesgruppe zu der Aussage, dass "wir" mit diesem Geld "Möglichkeiten der weltweiten Investition" hätten. Mancher Gewerkschafter rieb sich dabei die Augen, weil das doch heißt, unser Geld für Spekulation und Übernahmekriege zur Verfügung zu stellen, was in der Regel zu Arbeitsplatzvernichtung hier und weltweit führt. Sicher sei die Privatanlage mit Risiken verbunden, gestand Ludwig Stiegler zu. Aber wie kommt er nur darauf, das Risiko, unser Geld zu verlieren, könnte uns locken, die Schwächung der gesetzlichen Rentenfinanzierung zu befürworten, die für Risiken wie Arbeitslosigkeit Ausgleich schafft?

Bei vielen Kolleginnen und Kollegen wurde Enttäuschung deutlich. Enttäuschung darüber, daß sie von der Regierungspartei, die sie vor zweieinhalb Jahren gewählt, deren Wahlkampf sie unterstützt haben, jetzt wesentliche Errungenschaften des Sozialsystems genommen bekommen. Ein Münchner ÖTV-Senior zitierte deshalb auch ein Gedicht von Kurt Tucholsky aus dem Jahre 1923, das den Aufstieg eines Arbeiters in politische Funktionen beschreibt, der sich seiner Herkunft nicht mehr erinnern will, weil er sich einlullen läßt von den Herrschenden. "Genosse, schämst Du Dich nicht -?" fragte Heinz Huber mit Tucholsky. Wenn Fritz Schösser auch richtigerweise feststellte, 1923 sei nicht 2001 - ein beklommenes Gefühl blieb bei den anwesenden Gewerkschaftern, ein Gefühl im Stich gelassen zu werden. Alle Diskussionsredner forderten die anwesenden Abgeordneten auf, den vorliegenden Rentenreformentwurf abzulehnen und insbesondere die Parität und das Solidarprinzip mit aller Macht zu verteidigen.

So ganz ohne Wirkung blieb bei den sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten diese dreistündige Debatte dann doch nicht: Klaus Barthel forderte im Schlußwort die Teilnehmer dazu auf, ihren Unmut nicht - wie teilweise angekündigt - mit Austritt aus der SPD oder Wahlenthaltung zu dokumentieren, sondern sich einzumischen. Das haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Tag allerdings getan - mehr als deutlich!


Jürgen Emmenegger (IG Medien), Marion Fink (ÖTV)


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