letzte Änderung am 18. Dez. 2002

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Von Staats wegen

Für eine auf dem Wohnsitz begründete Staatsbürgerschaft – von Paul Oriol

Auf der Ebene der großen Prinzipien ist alles klar. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Es sind die Menschen, die Rechte haben. Die Rechte sollten also den Menschen folgen. Ein Franzose zieht an einen anderen Ort um: Er hat in Marseille dieselben Rechte wie in Bordeaux. Warum ist das nicht auch auf EU-Ebene oder in der ganzen Welt der Fall? Weil die Rechte oft an die Staatsangehörigkeit gekoppelt sind. So sieht das auch die EU, die andererseits die Prinzipien Gleichheit, Solidarität und Allgemeingültigkeit proklamiert.

Staatsangehörigkeit – Staatsbürgerschaft

Dies gilt noch mehr für die politischen Rechte: Die Staatsbürgerschaft ist an die Staatsangehörigkeit geknüpft, und zwar bis zu dem Punkt, an dem beide Begriffe sogar von denen, die Gesetze machen oder kommentieren, so verwendet werden, als wären sie gleichbedeutend. Der Konnex Staatsbürgerschaft – Staatsangehörigkeit gewinnt den Anschein des Unabänderlichen, dabei ist er lediglich historisch und sehr relativ. Seine höheren Weihen erhält er dadurch, dass Staatsangehörigkeit für essentiell, unberührbar und gottgegeben gehalten wird. Dennoch werden in den existierenden Gesetzgebungen der einzelnen Länder zur Staatsangehörigkeit das auf dem Wohnort und das auf der Abstammung begründete Recht auf höchst vielfältige, unterschiedliche Weisen miteinander vermischt. Die mit der Staatsangehörigkeit verknüpften Gesetze variieren in Zeit und Raum nach den tatsächlichen oder unterstellten Interessen der jeweiligen Staaten. Das gleiche gilt für den Konnex zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft.

Bei der letzten Datenerhebung 1999 wurden in Frankreich 3,26 Mio. Ausländer gezählt. Laut Hervé Le Bras wären nach US-Gesetzen »die 510000 Ausländer, die in Frankreich geboren sind, Franzosen. Und nach den Gesetzen der lateinamerikanischen Staaten würde man lediglich auf 638000 Ausländer kommen«. Er hätte hinzufügen können, dass es hingegen laut deutschem Recht (vor der letzten Reform) oder schweizerischem Recht 6 oder 7 Mio. wären! Die ausländische Bevölkerung Frankreichs schwankt also je nach den angewandten Gesetzen zwischen 600000 und 6 Mio.! Dies relativiert die Begriffe des Ausländischen und des Nationalen.

Die französischen Frauen mussten lange warten, bis ihnen der Status der Staatsbürgerin zugestanden wurde. Und zur Zeit des kolonialen Frankreich galten zwar die Einwohner Algeriens als Franzosen, aber ausschließlich die Kolonialherren als Staatsbürger, bis 1870 mit dem Crémieux-Dekret alle Juden von Algier ›eingebürgert‹ wurden. 1940 hob Marschall Pétain dieses Dekret übrigens wieder auf: »110000 algerische Juden sind vom Status des Staatsbürgers in denjenigen des Untertanen zurückversetzt worden.«

Diese ethnizistische Sichtweise beschränkt sich nicht auf bestimmte Regime. In der unmittelbaren Nachkriegszeit empfahl de Gaulle zum Thema Einbürgerung, »die freie Wahl der Individuen den nationalen Interessen in ethnischer, demographischer, professioneller und geographischer Hinsicht unterzuordnen... In ethnischer Hinsicht sollte der Zustrom aus mittelmeerischen und orientalischen Ländern begrenzt werden.« Die ethnische (kulturelle? ›rassische‹?) Begründung der Argumentation tritt hier ungeschminkt zu Tage, wie das auch in Großbritannien mit den »patrials« oder in Deutschland mit den »Aussiedlern« der Fall ist. Beim Zutritt zu einer Gemeinschaft qua Staatsangehörigkeit, qua ›Einbürgerung‹, handelt es sich oft in Wirklichkeit um einen Zutritt qua Ethnizität.

Einwohner haben Rechte

Nicht nur die Staatsangehörigkeit kann Rechte, darunter auch politische Rechte, begründen. Vielmehr spielen in zunehmendem Maße die Arbeit sowie der Ort, an dem jemand lebt, eine Rolle: von den Rechten der sans papiers bis zum Recht auf Erlangung der Staatsangehörigkeit über die sozialen, gewerkschaftlichen und kulturellen Rechte.

Die sans papiers haben Rechte aufgrund der simplen Tatsache, dass sie da sind. Dies sind minimale Rechte, und sie kommen oft nicht zur Anwendung, aber es gibt sie. Die Aussicht eines sans papiers auf Legalisierung seines Status hängt in Frankreich von der Dauer seines (illegalen!) Aufenthaltes im Land ab. Die legale Einwohnerschaft eröffnet auch das Recht auf die Staatsangehörigkeit: So kann man, wenn man sieben Jahre in Belgien gelebt hat, bei Abgabe einer simplen Erklärung die belgische Staatsangehörigkeit annehmen und erhält damit alle Staatsbürgerrechte, was die Anzahl der ›Ausländer‹ sinken lassen wird. Wenn aber die betreffende Person die Staatsangehörigkeit nicht annimmt, werden ihr trotz der sieben Jahre Ansässigkeit im Lande keine, nicht einmal auf die lokale Ebene begrenzte Bürgerrechte eingeräumt!

Rechte, die in der Vergangenheit als politische Rechte galten, werden heute auch Migranten, die hier leben, eingeräumt: das Recht auf die Bildung von Vereinigungen, auf die Freiheit der Meinungsäußerung, auf die Demonstrationsfreiheit, auf die Freiheit, sich gewerkschaftlich zu organisieren... Aber der Wohnsitz begründet auch politische Rechte im engeren Sinne, denn in Frankreich sind die Parteien einfache Vereinigungen. Da das Recht, eine Vereinigung zu bilden oder sich einer anzuschließen, in Frankreich für Inhaber und Nicht-Inhaber der Staatsangehörigkeit gleichermaßen gilt, kann auch Letzterer Mitglied oder sogar Vorsitzender einer Partei werden. Aber nicht einmal bei einer Kommunalwahl kann dieselbe Person ihre Stimme abgeben, wenn sie nicht Angehörige eines EU-Staates ist! Genauso steht es in anderen EU-Ländern, die Migranten kein Wahlrecht einräumen, wie z.B. Deutschland und Belgien.

Sein und Handeln

Die Staatsangehörigkeit antwortet auf die Frage »Wer sind wir?« in vielfältiger Weise, denn die Zugehörigkeiten sind ebenso vielfältig: familiäre Situation, Beruf, Religion, Geschlecht, Alter... Dennoch werden Verbindungen zwischen Personen einer (staatlichen) Gemeinschaft allzu oft als Produkt einer mythischen Vorzeit beschworen, und der Hinweis auf gemeinsame Ahnenreihen begründet allzu oft den Rückgriff auf das ius sanguinis (Blutsrecht). So mythisch die hier bemühte Geschichte auf der nationalen Ebene schon ist, auf der europäischen Ebene ist sie das noch mehr.

Die Staatsbürgerschaft gibt Antwort auf die Frage »Wie können wir auf demselben Territorium zusammenleben?« Die Staatsbürgerschaft impliziert ein konflikthaftes, aber egalitäres Verhältnis zu Anderen. Jeder muss die Gelegenheit bekommen, am Aufbau einer gemeinsamen Zukunft mit seinem jeweiligen professionellen, sportlichen, künstlerischen, demographischen... Beitrag zu partizipieren, aber auch an Entscheidungsprozessen. Die Mitwirkung an Entscheidungen ist ein bedeutender Faktor bei der Generierung und Aufrechterhaltung sozialen Zusammenhalts. Oder kann man sich in einer Demokratie eine echte Gleichberechtigung in der Anwendung von Gesetzen vorstellen, bei deren Entstehung die Gleichberechtigung außen vor geblieben ist?

Die EU-Staatsbürgerschaft erweitern, das würde bedeuten, eine auf der Ebene alltäglicher Praktiken bereits existierende Staatsbürgerschaft, die heute schon quer durch die Aktivitäten von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, das Leben in den Wohnvierteln, in den Betrieben, in der Kirche, im Sportverein usw. zum Ausdruck kommt, mit Rechten auszustatten. Mit dieser gelebten Staatsbürgerschaft muss die gesetzliche Staatsbürgerschaft in Übereinstimmung gebracht werden, auch wenn das an mancher Stelle zu Frustrationen führen mag.

Erweiterung nach innen

Die EU-Erweiterung wird die Ausstattung praktisch der gesamten europäischen Bevölkerung mit der EU-Staatsbürgerschaft[1] mit sich bringen. Nur noch Menschen aus Afrika, Amerika und Asien werden »Angehörige von Drittstaaten« sein. Die Diskriminierung wird also noch stärker ethnizistische und rassistische Züge annehmen. Darf man also die Erweiterung nach innen vergessen und die Millionen Menschen außen vor lassen, die hier oft schon seit vielen Jahren leben?

Die Neudefinition der EU-Staatsbürgerschaft steht auf der Tagesordnung der EU ganz weit oben: Im Jahre 2004 wird es eine europäische Verfassung geben. Wenn nichts dagegen getan wird, dann wird die aktuelle Politik dafür sorgen, dass die Diskriminierung durch die Verfassung abgesegnet und damit zementiert wird! Wir haben daher zusammen mit dem European Network Against Racism (ENAR) eine europaweite Kampagne gestartet, und wir schlagen die ergänzende Neufassung von Artikel 17 des Vertrages von Amsterdam vor: »Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats besitzt oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat.«[2]

Die Staatsbürgerschaft löst selbstverständlich nicht alle Probleme. Die Probleme der Frauen, die Probleme der ArbeiterInnen sind von einer Lösung noch weit entfernt.[3] Aber das Recht auf Staatsbürgerschaft einzuräumen bedeutet, den Wohnsitz mit Rechten auszustatten, das Recht auf Rechte anzuerkennen und neue Rechte zu fordern.

 

Aus: Rouge & Vert, Nr. 173, 20. September 2002
Übersetzung: Anne Scheidhauer
Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11-12/02

Anmerkungen:

1) Es sei hier kritisch angemerkt, dass mitnichten »praktisch die gesamte europäische Bevölkerung« mit der EU-Staatsbürgerschaft« ausgestattet wird. Ost- und Südosteuropäische Staaten wie etwa Russland, Türkei oder Jugoslawien, Kroatien bleiben bei diesem (West-)Eurozentrismus außen vor (Anm. d. Red.).

2) Die EU-BürgerInnen sollen ihre jeweilige Staatsbürgerschaft behalten, zusätzlich aber noch mit der so genannten »Unionsbürgerschaft« ausgestattet werden(d. Ü.).

3) Und alle anderen Probleme (Anm. d. Red.).

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