letzte Änderung am 11. April 2003

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»3D-Perspektiven«

Nicholas Bell* zur Situation von Migranten in der europäischen Landwirtschaft

Im letzten express hatten wir im Schwerpunkt Arbeit & Migration über die neue UN-Konvention zu den Rechten von Migranten sowie über das Verhältnis von Arbeitsrecht und Aufenthaltserlaubnis berichtet.

Mit dem folgenden Redebeitrag von Nicholas Bell, gehalten auf der von der Österreichischen Liga für Menschenrechte am 29./30. Oktober 02 organisierten Konferenz »Grenzen und Migration« in Wien, beleuchten wir die z.T. katastrophale Situation von Migranten in der EU-Landwirtschaft. Mittlerweile unternimmt die EU den Versuch, diverse nationalstaatliche Regelungen zur Arbeitsmigration zu »harmonisieren«, etwa durch Vergabe einer (Arbeits-) Aufenthaltserlaubnis nach der Maßgabe, dass eine Arbeitsstelle innerhalb von drei Wochen nicht von einem EU-Bürger oder einem in der EU lebenden Ausländer besetzt werden kann (FR, 13. Februar 03).

 

In den letzten zwei Jahren hat das European Civic Forum[1] umfassende Studien zur Ausbeutung von Migranten in der europäischen Landwirtschaft durchgeführt. Dabei hat sich herausgestellt, dass es unmöglich ist, Fragen der Migration – gleichgültig ob legale oder illegale – zu untersuchen, ohne diese im Kontext eines Arbeitsmarkts zu sehen, in dem gewisse ökonomische Sektoren von der Existenz unterbezahlter und ausgebeuteter Arbeitskräfte abhängen, von denen die meisten keine Papiere besitzen und migrantischen Ursprungs sind.

Alle europäischen Regierungen wissen sehr genau, dass die in den 70er Jahren getroffenen Entscheidungen zur Beendigung der meisten Formen legaler Immigration Migranten in die illegale Ökonomie getrieben haben. Arbeiter in den Textilwerkstätten des »Sentier«-Bezirks von Paris oder in den Gewächshäusern Andalusiens erscheinen nur in der öffentlichen Debatte als »klandestin«. Jeder weiß, dass es ihrem Schweiß und ihrer Arbeit zu verdanken ist, dass europäische Konsumenten in der Lage sind, Obst, Gemüse oder Kleidung zu lächerlich niedrigen Preisen zu kaufen. Die Behörden sehen weg, verweigern die Legalisierung von Migranten und willigen damit in die allgemeine Verschlechterung von Arbeitsbedingungen ein.

Diese 3D Jobs – schmutzig, entwürdigend und gefährlich (»dirty, degrading and dangerous«) – finden sich im Baugewerbe, in der Heimarbeit, im Reinigungs-, Textil-, Hotel- und Restaurantgewerbe und in der Landwirtschaft... In der letzten Zeit sind neue Tätigkeiten hinzugekommen, einschließlich hochqualifizierter Arbeiten am unattraktiven Ende des Spektrums der Neuen Technologien, Computer reparieren bei Nacht etc.

Patrick Taran, Chef der Migrationsabteilung der ILO, spricht von der »gütigen Toleranz einiger Staaten hinsichtlich armseliger Arbeitsbedingungen und Nicht-Regulation – Verhältnisse, die irreguläre Arbeit anziehen. Solche Toleranz scheint in einigen Ländern alles andere als offizielle Politik zu sein, um kaum noch Produktivität versprechende ökonomische Aktivitäten, die trotzdem für Beschäftigung, Exportprodukte etc. sorgen, aufrecht zu erhalten«.

Der französische Anthropologe Emmanuel Terray schildert ein besonders schlagendes Bild dieser Situation. Für ihn »basiert diese Ökonomie auf illegaler Arbeit« und repräsentiert eine Form von »délocalisation sur place« – eine schwierig zu übersetzende Redewendung. Es meint grundsätzlich so etwas wie »sofortige Umsiedlung«. Deshalb haben Industrien und ökonomische Sektoren, die nicht in Dritt-Welt-Länder transferierbar sind, wo Arbeitskosten sehr niedrig sind, einfach Niedrig-Lohn-Arbeiter in Form illegaler Migranten importiert.

In Terrays Worten: »Was wollen die Neo-Liberalen? Sie wollen eine Arbeitskraft, die so flexibel und unterwürfig wie möglich ist und der es an jeglichem Schutz mangelt. Ausländer ohne Papiere repräsentieren eine total flexible Arbeitskraft, weil man sie rekrutieren oder entlassen kann, wie man will, je nach Auftragslage. Der beste Weg, um zu Produkten mit sehr niedrigen Preisen zu gelangen, besteht darin, die Sklaverei zu verallgemeinern. Die fundamentale Frage ist, ob wir Sektoren akzeptieren, in denen Sklaverei allgemeine Praxis ist oder ob wir uns dagegen wenden«.

Doch zurück zur Landwirtschaft: Anlass unserer Aufmerksamkeit für die dortige Situation waren die grausamen rassistischen Ausschreitungen, die im Februar 2000 in der andalusischen Stadt El Ejido stattfanden.

Die Opfer waren Marokkaner, die – meistens illegal – auf dem 30000 Hektar umfassenden Areal von Gewächshäusern arbeiteten.

Das European Civic Forum entsandte eine internationale Untersuchungskommission, die einen detaillierten Bericht veröffentlichte (s.u. »Ökonomie der illegalen Arbeit«). Diese Kommission erkannte sehr bald, dass die Anwesenheit Tausender illegaler Migranten, die zu nicht akzeptablen Bedingungen dort arbeiten und leben, die Begründung des ökonomischen »Wunders« in Andalusien darstellt. Sie stellen eine sofort verfügbare billige Arbeitskraft für die Erntezeit dar.

15000 landwirtschaftliche Betriebe produzieren bis zu drei Millionen Tonnen Obst und Gemüse, die Hälfte davon wird nach Nordeuropa exportiert, hauptsächlich nach Deutschland. Laut Aussagen des »Büros für die soziale Integration von Migranten« in Almeria sind fast 92 Prozent der Landarbeiter der Region Migranten, 64 Prozent davon Marokkaner. 1998 schätzte das Büro die Anzahl legaler Migranten auf 15000 und die Anzahl Illegaler auf 15000 bis 25000.

Die Stadtverwaltung von El Ejido betreibt eine bewusste Segregationspolitik und ist bestrebt, Migranten von der »Kolonisation« des Stadtzentrums abzuhalten. Die meisten von ihnen leben in alten Hütten, die von der ländlichen Bevölkerung aufgegeben wurden, 55 Prozent von ihnen verfügen über kein Trinkwasser, 57 Prozent haben keine Wasch- und Toilettenanlagen und 31 Prozent keine Elektrizität. Hunderte von Menschen nehmen alte Holz- und Plastikhütten in Besitz. Die Verantwortlichen der Region beziffern die Anzahl von Migranten, die unter unzureichenden Bedingungen leben, auf über 17000.

Diese Migranten haben sich mit unakzeptablen Arbeitsbedingungen, wie etwa mehr als 50°C Hitze in den Gewächshäusern und dem Kontakt mit riesigen Mengen von Pestiziden, abzufinden. Überflüssig zu sagen, sie werden armselig bezahlt. Die Unternehmer wiederum geraten durch Bankkredite, Versorgungsindustrien und Handelsfirmen unter Druck; so versuchen sie durch Einsparungen im einzigen Bereich, den sie selbst kontrollieren – dem der Beschäftigungskosten – zu überleben.

Es ist uns natürlich klar, dass dieses Phänomen nicht nur Spanien betrifft. Die Situation in Almeria ist zweifelsfrei schockierend, aber überall im europäischen Obst- und Gemüseanbau gibt es Missbrauch. Aus diesem Grund hat das European Civic Forum beschlossen, eine Untersuchung auf europäischer Ebene zu starten. Einige Beispiele:

Verkaufspreis unter Produktionskosten

Einige »gangmasters« beschäftigen bis zu 2000 Menschen und machen einen Umsatz von 20 Millionen Euro. Wenn das lokale Arbeitsangebot nicht genügt, suchen sie woanders, insbesondere in Osteuropa. Sie stehen in direktem Kontakt mit Anwerbern in diesen Ländern, die die illegale migrantische Arbeit rekrutieren und »organisieren«. Die Rekrutierten zahlen zwischen 2500 und 4000 Euro für jedes Visum und – meistens – gefälschte Ausweise. Sie haben dann unter grausigen Bedingungen zu arbeiten.

Der Einfluss von Supermarktketten ist enorm. In vielen Ländern kontrollieren sie bis zu 80 Prozent des Marktes, und sie sind es, die entscheiden, was zu produzieren ist. Sie setzen regelmäßig Preise herunter, um mit ihren Rivalen zu konkurrieren und um Kunden anzulocken. Ihre Einkäufer können bei Landwirten zu jeder Zeit nach LKW-Ladungen oder etwa auch nur einzelnen Paletten dieser oder jener Produkte zur sofortigen Lieferung nachfragen. Wenn der Landwirt dazu nicht fähig ist, schaut sich der Einkäufer woanders um.

Die Tatsache, dass von einem Moment auf den anderen ein Dutzend oder mehr Arbeiter für ein paar Stunden benötigt werden, macht es unmöglich, feste Belegschaften zu bilden. Eine Reservearmee von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und illegalen Arbeitern wird benötigt.

Dies ist eine von Europas wenig bekannten Seiten: das verborgene Gesicht unseres Obst und Gemüses, denen der bittere Geschmack moderner Sklaverei anhängt. Und dies passiert noch immer und vor allem auf dem Land, weit weg von den Städten, wo migrantische Zusammenhänge und Menschenrechtsgruppen eher in der Lage sind zu reagieren.

Angebot und Nachfrage: Repressive Kanalisierung

In den letzten Jahren haben europäische Regierungen und EU-Institutionen ihren Kurs in der Zuwanderungspolitik verändert. Nach Jahren stillschweigender Tolerierung wird irreguläre Immigration nun als Geißel, der mit sofortiger Bekämpfung begegnet werden müsse, präsentiert. Vor allem anderen lautet die Antwort darauf Repression – insbesondere gegen Schlepper, denen die Hauptverantwortung für die Probleme zugeschrieben wird. Aber, wie Patrick Taran von der ILO anführt, legen »grundlegende arbeitsmarkttheoretische Überlegungen es nahe, dass die Einführung von Barrieren zwischen einer großen Nachfrage und einem starken Angebot zu einem lukrativen Markt für Dienstleistungen führt, die das Angebot dahin bringen, wo die Nachfrage ist«.

Das Angebot ist enorm: Hunderte Millionen von Menschen weltweit leiden an verzweifelter Armut oder politischer Repression. Und die Nachfrage ist derartig, dass jeder Migrant, der dazu in der Lage ist, das Mittelmeer oder riesige Entfernungen in Asien zu überwinden, und der gewillt ist, furchtbare Arbeits- und Lebensbedingungen zu akzeptieren, weiß, dass er oder sie innerhalb einer Woche eine Arbeit in der »illegalen Ökonomie« finden wird.

Zur selben Zeit streben europäische Regierungen nun die Öffnung neuer Kanäle der Immigration – je nach Bedarf ihres Arbeitsmarktes – an. Dies beinhaltet die Schaffung eines vorübergehenden, saisonalen oder fest begrenzten Aufenthaltstatus. Ein klares Ziel ist die Trennung des Rechts auf eine spezifische Arbeitserlaubnis von jeder Möglichkeit der Erlangung längerfristiger Aufenthaltsrechte in der EU. In der Tat haben solche begrenzten Formen des Aufenthaltsstatus jahrelang bestanden.

Zum Beispiel kamen seit den 1960er Jahren alljährlich mehrere Tausend Arbeiter aus Polen, Tunesien und hauptsächlich Marokko nach Frankreich. Ihr OMI-Vertrag erlaubt ihnen, bis zu sechs oder gelegentlich sogar acht Monate in der Landwirtschaft zu arbeiten. »OMI« steht für »L’Office des Migrations Internationales«, eine halbstaatliche französische Körperschaft, nicht zu verwechseln mit der in Genf sitzenden IOM (International Organization for Migration). OMI-Vertragsarbeiter arbeiten zwar zeitweilig in Frankreich, aber hinsichtlich ihrer Rechte werden sie als in Marokko lebend behandelt. Obwohl sie Sozialabgaben nach den in Frankreich üblichen Sätzen zahlen, richtet sich die Familienunterstützung, die sie erhalten, nach den marokkanischen Abgaben – über fünfmal weniger als die französischen Sätze. Das gleiche gilt für die Rente.

In vielerlei Hinsicht hat ein OMI-Vertragsarbeiter weniger Rechte als ein illegaler Arbeiter. Er kann 25 Jahre lang jedes Jahr nach Frankreich kommen und hat nichtsdestotrotz kein Recht, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, wohingegen ein Migrant, der seit fünf Jahren illegal im Land ist, eine gewisse Chance zur Legalisierung hat.

OMI-Arbeiter protestieren sehr selten gegen Missstände, unter denen sie leiden. Sie wissen, dass es eine Art schwarze Liste gibt und dass jeder, der sich beschwert, im nächsten Jahr keinen neuen OMI-Vertrag mehr erhält.

›Willige O(b)steuropäer‹ statt ›Joghurt-Arbeiter‹

In der Region Lot und Garonne hatten die Obst- und Gemüsebauern im Juli 2001 eine Demonstration unter dem Slogan »Wir wollen polnische Arbeiter!« organisiert. Sie forderten eine Erhöhung der zugelassenen Anzahl von OMI-Verträgen für ihre Region. Der Vorsitzende der lokalen Landwirtschaftsvereinigung erklärte der Presse, »dass die Arbeitsämter meinen, es gibt tausende lokaler Anwärter auf einen Job, dass diese Arbeitskräfte aber nicht unserem Bedarf entsprechen. Sie kommen ein oder zwei Tage und bleiben dann weg, weil die Arbeit zu hart für sie ist. Wir wollen keine Menschen aus der Joghurt-Generation, sondern kompetente, effiziente und verfügbare Arbeiter«.

»Verfügbar« meint, dass sie keine Familie vor Ort haben, dass sie auf dem Hof (schlecht) wohnen und dass sie dazu bereit sind, zehn Stunden am Tag sowie am Wochenende zu arbeiten – dies alles, ohne jemals Überstundenbezahlung zu verlangen.

»Effizient« meint, dass sie jede Anweisung ausführen, weil sie Angst davor haben, nach Hause geschickt zu werden.

Die spanische Kleinbauernvereinigung, COAG (Coordinadora de Agricultores y Ganaderos), hat großes Interesse am OMI-System bekundet, und es besteht die Gefahr, dass es als Prototyp für weitere Länder dienen könnte. Vergleichbare Verträge existieren denn auch in anderen europäischen Ländern:

Deutschland hat dazu beigetragen, Anwerbungsbüros in den Ländern Zentral- und Osteuropas aufzubauen. Es gibt jedoch auch viele private Rekrutierer – was die Tatsache erklärt, dass es ungefähr genauso viele Arbeiter ohne Papiere wie legal Registrierte in der deutschen Landwirtschaft gibt. Über 90 Prozent der Migranten, die auf deutschen Bauernhöfen arbeiten, sind polnischer Herkunft. Sie arbeiten länger als zugelassen und sind unterbezahlt, doch vor dem Hintergrund, dass die Löhne in Polen zehnmal geringer sind als in Deutschland, beschweren sich die Wenigsten. Sie sind nur darauf aus, während ihres Aufenthalts im Land so viel wie möglich zu verdienen.

Durch all diese saisonalen und vorübergehenden Arbeitserlaubnisse errichten und befestigen die europäischen Entscheidungsträger eine unerträgliche Form der Segregation auf dem Arbeitsmarkt. Alain Morice, ein französischer Wissenschaftler, der über Migration und Gesellschaft forscht, formuliert es so: »Man kann sich vorstellen, dass Maßnahmen gegen illegale Arbeiter Stück für Stück, über die Gewöhnung an eine Beeinträchtigung nach der anderen, über die allmähliche Demontage der Arbeitsgesetze, überflüssig gemacht werden – aus dem einfachen Grund, dass der präzise Inhalt des Legalen im Bereich der Arbeitsrechte stark aufgeweicht wird. Wenn man etwa Landarbeit betrachtet, kann man sehen, dass der französische »Code Rural« eine riesige Menge an Beeinträchtigungen beinhaltet, mit denen das positive Arbeitsrecht geschwächt wird«.

Die Konsequenzen werden katastrophal sein, nicht nur für die migrantischen Arbeiter. Europa kreiert eine neue Form der Unterklasse, bestehend aus befristet Beschäftigten, welche sich wechselseitig in einer Art permanenter Rotation um eine prekäre Existenz ablösen, ohne Rechte wie andere Arbeiter zu besitzen. Migranten wird mehr als allen Anderen kein Recht zur Führung eines normalen Lebens mit ihren Familien eingeräumt oder eine gewisse Zukunftsplanung zugestanden.

Es gibt einen letzten Punkt, den ich anführen möchte und der sich besonders an unsere Freunde, die die Länder Zentral- und Osteuropas repräsentieren, richtet. Ich beziehe mich auf das wachsende und weit verbreitete Phänomen von Migration nach West- aus Zentral- und Osteuropa, mit oder ohne gültige Papiere. Hier – in Westeuropa – verdrängen sie die traditionellen migrantischen Arbeitskräfte, z.B. aus dem Maghreb.

Dies muss sicherlich im Kontext der Erweiterung der Europäischen Union betrachtet werden. Die sozialen und ökonomischen Konsequenzen der Erweiterung, einschließlich der Zerstörung der »kleinen Landwirtschaft« in Ländern wie Polen, wird Millionen von Menschen zwingen, ihren Lebensunterhalt woanders zu erzielen. Dies kann nur von großem Vorteil für die europäischen Arbeitgeber sein, und ich würde ergänzen: für die Politiker. Was ist besser, als eine billige und einfach ausbeutbare Arbeitskraft zu erhalten, die zudem noch weiß und sogar christlich ist?

Staatlich organisierte Anwerbung

Dies ist der wahre Hintergrund der El Ejido-Ausschreitungen vom Februar 2000. Mit den Jahren hatte sich die marokkanische Szene organisiert und mit mehreren Streiks, die die Produktion völlig lahm legten, Erfolg gehabt. Kurz vor den Ausschreitungen hatten sich Repräsentanten der Arbeitgeber in baltischen Ländern nach Arbeitern umgesehen, die die Aufmüpfigen und, um es klar zu sagen, verabscheuten Marokkaner zu ersetzen.

Offener Rassismus und Feindseligkeit stellen das Rezept zur Vertreibung der Marokkaner aus der Region dar. Das ist keine neue Taktik. Sie wurde schon im 19. Jahrhundert auf den Obst- und Gemüseplantagen Kaliforniens benutzt. Jean-Pierre Berlan, ein Wissenschaftler am staatlichen französischen Landwirtschaftsinstitut, hat die Geschichte des »kalifornischen Modells« studiert, das der heutigen Realität in Almeria sehr ähnelt. »Es ist wichtig«, insistiert er, »zu verstehen, dass Rassismus eine wesentliche Rolle in diesem Schema spielt. Es ist notwendig, den Arbeitsmarkt mit verschiedenen Methoden zu spalten, einschließlich Rassismus«.

Ein aufsehenerregender Beleg für dieses Phänomen ereignete sich im Frühjahr 2002 in der andalusischen Provinz Huelva. Jedes Jahr pflücken dort 55000 Arbeiter über einen Zeitraum von drei Monaten Erdbeeren. Anders als in El Ejido sind die meisten von ihnen spanische Tagelöhner. Der Anteil von migrantischen Arbeitern liegt traditionell bei etwa 10000, von denen wiederum die meisten Marokkaner ohne Papiere sind.

2001 starteten die »sans-papiers« eine große Legalisierungs-Kampagne in Spanien. Dies führte dazu, dass insgesamt über 100000 Migranten einen legalen Status erhielten. Darunter waren etwa 5000 Marokkaner, die spezielle Genehmigungen ausschließlich für die Erdbeerernte in Huelva im Jahr 2002 erhielten. Es war ihnen nicht erlaubt, woanders oder in anderen ökonomischen Sektoren zu arbeiten. Zu Saisonbeginn warteten sie alle auf ihren Arbeitseinsatz.

Zu ihrer großen Überraschung sahen sie Tausende junge polnische und rumänische Frauen anreisen. Diese begannen mit der Erdbeerernte und pflückten dabei oft zu einem geringeren Lohn, als ihn die Marokkaner erhalten hätten. Folgendes war passiert: Trotz der speziellen Arbeits-Erlaubnis, die sie den Marokkanern erteilt hatte, beschloss die spanische Regierung, so genannte »Herkunftsverträge« für 6500 Polen und 1000 Rumänen, die meisten von ihnen Frauen, für die gleiche Arbeit anzubieten.

Die osteuropäischen Frauen sind insofern »ideal«, als sie unterwürfiger sind und nicht protestieren, wenn die abverlangten Arbeitsstunden über den vorher festgelegten liegen. Auch darüber hinaus gab es viele Missstände. Viele der neuen Migranten hatten zehn Prozent ihrer Löhne zur Deckung ihrer Versorgungskosten abzuführen, obwohl dies nicht im Vertrag niedergeschrieben war. Auf der anderen Seite wurde vielen keine Unterkunft zur Verfügung gestellt, und sie hatten in überfüllten Behausungen zu leben.

Diese Umstände führten für die Marokkaner zu einer Situation, die von Armut und Verzweiflung geprägt war, sie standen auf der Straße, ohne Zuflucht, Nahrung und nicht einmal Wasser. Die Situation eskalierte, eine Welle des Rassismus gegen die Marokkaner, die als dreckig, unrasiert und faul angesehen wurden, entstand. 4000 Menschen demonstrierten in Huelva gegen »zivile Unsicherheit«. Zum ersten Mal waren in Andalusien (mit Ausnahme des El Ejido-Progroms) in nennenswertem Umfang Plakate der extrem rechten »Nationaldemokratischen Partei« zu sehen.

De facto spielten die Marokkaner auch weiterhin ihre Rolle bei der Erdbeerernte. Auf der verzweifelten Suche nach irgendeiner Arbeit und an die Region gebunden. Wann immer es einen besonders großen Ernteeinsatz gab oder an Sonn- bzw. Feiertagen konnten die Arbeitgeber auf diese Reservearmee zurückgreifen. Am Ende der Saison stellten die Arbeitgeber mit Befriedigung fest, dass diese eine der bislang profitabelsten war. Sie planen nun, die Anzahl der »Herkunftsverträge« für das nächste Jahr zu erhöhen.

Unterdessen sind viele polnische und rumänische Frauen in Spanien geblieben. Auf der einen Seite streben die Arbeitgeber eine Veränderung ihrer Verträge an, um ihnen die Arbeit in anderen Gebieten der Obst- und Gemüseproduktion – wie etwa in Lerida – zu ermöglichen. Auf der anderen Seite landeten aber auch viele Frauen im Prostitutionsgeschäft.

Dies kann auch sehr ernsthafte Konsequenzen für Länder wie Rumänien haben. Wie die Hermannstädter Zeitung im April 2002 berichtete, verlassen den Ort Sibiu täglich Busse mit Migranten, die sich zur Arbeit in den Westen begeben. Darunter auch Fabrikdirektoren, die zur Erdbeerernte nach Huelva fahren. Dies hat sich zu einem lukrativen Geschäft für die rumänische Regierung entwickelt, die das »Nationale Büro zur Rekrutierung und Anstellung von Arbeitern im Ausland« eingerichtet hat. Für die 961 Erntehelfer zur Erdbeerernte in Huelva erhielt es eine Gesamtprovision von 3,5 Millionen Lei oder 116000 Euro.

Die zivilisierende Kraft des gemeinsamen Marktes?

In Marokko gibt es ein Phänomen, dass man »hrigue« nennt – was buchstäblich »verbrennen« bedeutet. Diese Metapher wird benutzt, um die totale Besessenheit unzähliger Marokkaner zu beschreiben, die egal wie und unter welchen Umständen über das Mittelmeer in die Illusion von Wohlstand und Erfolg emigrieren wollen. Die Brücken hinter sich abbrennen, die Ausweispapiere verbrennen, um eine Rückkehr zu erschweren...

Dies ist das Ergebnis einer verfehlten Politik der »Kooperation«, die eine solche Nord-Süd-Teilung geschaffen hat, dass für viele im Süden die einzige Hoffnung die Emigration und das Arbeiten unter miserablen und inhumanen Bedingungen im reichen Norden ist.

Manchmal kann man sich nur fragen, ob dies nicht eine grundlegende Motivation europäischer Politik darstellt – an ihrer Peripherie Länder in einem Stadium permanenter Krise und Armut zu halten, im Osten etwa die Ukraine, oder im Süden Marokko. So kann man immer sicher sein, eine unterwürfige und unterbezahlte Arbeitskraft zu erhalten.

Ein Beitrag in Le Monde Diplomatique vom Juli 2002 beschreibt die Not und Verzweifelung tausender osteuropäischer Migranten, besonders aus der Ukraine, in Portugal, wo sie hauptsächlich in der Bauindustrie arbeiten. Die Ukrainer machen mittlerweile die drittgrößte Migrantengruppe aus, nach den Kapverdiern und den Brasilianern.

Sie verließen ihr Land hoffnungsvoll, aber die meisten haben nur ein Leben bestehend aus Ausbeutung und Angst vorgefunden. Dabei handelt es sich auch um hochqualifizierte Ärzte und Lehrer, die im Baugewerbe hängen bleiben.

Kurioserweise ist Portugal immer noch beides: Land der Emigration und Immigration. 40 Prozent der portugiesischen Bevölkerung leben und arbeiten im Ausland. Noch immer verlassen viele ihr Land, in dem der Durchschnittsverdienst dreimal niedriger als in Deutschland ist, um höhere Löhne zu erzielen. Auf der anderen Seite aber sind die Löhne in Portugal viel höher als in der Ukraine oder Moldawien, so dass die Migrationsbilanz seit 1993 positiv ist und die Immigration aus Osteuropa die aus den früheren portugiesischen Kolonien mittlerweile überholt hat. Es wird geschätzt, dass 45000 osteuropäische Migranten legal in Portugal leben und zwischen 150000 und 200000 ohne Papiere, die meisten von ihnen Opfer verschiedener Mafia-Organisationen.

Die Ukrainer haben insgesamt eine gute Reputation als kompetente und disziplinierte Arbeiter, auch wenn sie praktisch wie Sklaven behandelt werden. Sie scheinen sogar von einer Art »positiver Diskriminierung« zu profitieren. Dies ist wahrscheinlich auch die Ursache der Spannung und der Wut unter afrikanischen und lateinamerikanischen Migranten, die ihren Status noch weiter verschlechtert sehen.

Es ist selbstverständlich bekannt, dass Berlin in großem Umfang von polnischen Firmen, die für die Dauer eines bestimmten Bauprojektes als Subunternehmer deutscher Unternehmer arbeiten, aufgebaut wurde. Ihnen wird theoretisch derselbe Lohn wie ihren deutschen Kollegen gezahlt (aber oft für längere Arbeitszeiten), während Sozial-, Familien- und Rentenzahlungen auf polnischen Abgabenziffern basieren – so sparen die deutschen Unternehmen bis zu 25 Prozent der Beschäftigungskosten.

Beim European Civic Forum versuchen wir diese Entwicklungen, so weit es geht, zu verfolgen. Dies ist nicht einfach, weil vieles definitionsgemäß mehr oder weniger »klandestin« ist und die meisten von denen, die ausgebeutet werden, keine Aufmerksamkeit auf ihre Situation richten wollen. Sie fürchten zurecht, dass die einzige offizielle Antwort ihre Ausweisung sein würde, statt einer Verurteilung der Praktiken ihrer Arbeitgeber.

Wir haben einige Kontakte in Zentral- und Osteuropa und sind an sich entwickelnden Verbindungen mit Or-ganisationen und Personen, die über diese Fragen arbeiten, sehr interessiert. Dies bleibt eines der zentralen Themen, mit denen Europa in den nächsten Jahren konfrontiert sein wird.

 

Übersetzung: Jörg Waschatz
Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/03

Nicholas Bell arbeitet für das »European Civic Forum«. Infos u. Kontakt: Nicholas Bell, Tel. (0033) 492 73 00 64, Fax (0033) 492 73 18 18; email: nicholas.bell@gmx.net, European Civic Forum: 04300 Limans, Tel. (0033) 492 73 05 98, Fax (0033) 492 73 18 18, email: forumcivique.europe@wanadoo.fr, www.forumcivique.org

Anmerkung:

1) Das European Civic Forum / Forum Civique European / Europäisches Bürgerforum wurde in Folge des Zusammenbruchs des osteuropäischen Sozialismus zum Zwecke der Verständigung zwischen Ost- und Westeuropäern Anfang der 90er Jahre gegründet. Es befasst sich mit der Förderung von Bürgerbeteiligung, der Abwehr eines ungebremsten Neoliberalismus und intellektuellen Aktivitäten zur Vermeidung von Konflikten (aus der Selbstdarstellung auf der Seite www.civic.forum.org

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