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Die Kapitallogik und ihre Folgen auf dem Prüfstand

Rainer Roth: "Das Kartenhaus": Ein ‚einzigartiges’ Buch über Ökonomie und Staatsfinanzen in Deutschland, DVS-Verlag, 2. Aktualisierte Auflage, Oktober 1999

Rezension von Ulrich Leicht

 

Völlig zu Recht hat das Buch "Das Kartenhaus. Staatsverschuldung in Deutschland" des Frankfurter Fachhochschulprofessors Rainer Roth in seiner 2. aktualisierten Neuauflage von Ende 1999 auf dem Umschlag den erweiterten Titel "Ökonomie und Staatsfinanzen in Deutschland" erhalten. Im Gegensatz zu manch anderen Verpackungen, die nicht halten, was sie versprechen, ist es bei diesem - in seiner Art einzigartigen Kompendien – durchaus gerechtfertigt.

Denn in der Tat hat Rainer Roth ein Buch geschrieben, das mehr als die Staatsverschuldung und ihre Ursachen von allen Seiten beleuchtet, sondern dabei die ökonomischen Verhältnisse dieses kapitalistischen Deutschland umfassender und auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und wichtige Bereiche der Sphären von Staat und Politik in ihren Grundzügen darlegt. Dass der Autor reichlich aus den Unterlagen des Statistischen Bundesamtes, der Ministerien, der Wirtschaftsinstitute und Wirtschaftsverbände, des DGB, der alternativen Memorandum-Wissenschaftler und aus kompetenten Publikationen von A–Z - von Afheldts "Wohlstand für niemand", über Gorz’ "Kritik der ökonomischen Vernunft", Hickels "Standort-Wahn und Euro-Angst", Oggers "Absahnen und Abhauen", Norbert Walters "Ethik + Effizienz = Marktwirtschasft" bis zu Karl Georg Zinns "Die Wirtschaftskrise" - Zahlen, Fakten und Argumente zusammenträgt und für "Praktiker", sozial engagierte Menschen und aktive Gewerkschafter wie z. B. auch mich, gebündelt darbietet, macht dieses, zudem sehr übersichtlich gegliederte Buch, zu einem richtigen Nachschlagewerk.

Dass Rainer Roth das Zahlen- und Faktenmaterial (in angenehm unaufdringlicher, lebendig-konkreter und vielleicht deshalb auch überzeugender Weise) im Lichte der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie zu sezieren, interpretieren und im Zusammenhang zu veranschaulichen weiß, macht das ganze Unternehmen – der Staatsverschuldung, der Krisenhaftigkeit und systembedingten Widersprüchlichkeit und Perversion der kapitalistischen Marktwirtschaft gründlich und ohne Tabus auf den Leib zu rücken - dann noch spannender und auch zu einem einzigartigen Werk systemanalysierender und –kritischer Publikationen hierzulande.

Vielleicht brauchte es des Blickes eines sich radikaler Gesellschaftskritik verpflichtet fühlenden Nicht-Ökonomen aber engagierten Sozialwissenschaftlers in den Reihen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen und Vorsitzenden des Vereins "KLARtext", der sich weder durch "volkswirtschaftliche Weisheiten" noch durch falsche Argumente und Sichtweisen auch in gewerkschaftlichen, wirtschafts-alternativen oder "linken" Kreisen, und manchen Mythen dort, den Blick trüben lässt.

 

Achtung, sie betreten den ökonomischen Sektor ...

Rainer Roth nimmt die Vertreter von Banken, Konzernen und Politiker beim Wort und stellt die Finanzen, die Staatsschulden, ja die bundesdeutsche Ökonomie auf den Prüfstand. Er gibt sich mit keiner der Erklärungen von dieser wie auch von Seiten der Gewerkschaften zufrieden.

"Die vorherrschenden Erklärungen der Staatsverschuldung werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Sie reißen häufig Zusammenhänge auseinander, um sie nach jeweiligen Sonderinteressen zurechtzubiegen, deshalb werden die Probleme meist nicht zu Ende durchdacht.

Uns geht es im Gegensatz dazu nicht darum, Beweise für vorgefertigte Denkschablonen und Interessen zu suchen. Es geht darum, die realen Verhältnisse schonungslos zu untersuchen und die den Erscheinungen zugrundeliegenden Gesetze wissenschaftlich zu analysieren.

Nur daraus sind praktische Möglichkeiten abzuleiten, die das Problem nicht noch verschlimmern, das sie angeblich lösen wollen." (Aus dem Vorwort)

Nachdem er in seiner Einleitung. das Problem Staatsverschuldung und die gängigen Erklärungen hat Revue passieren lassen und die für die Verfechter einer immer wieder beschworenen "anderen Politik" spannenden Fragen aufgeworfen hat -

"Wieso steigt die Staatsverschuldung, unabhängig davon, ob eine richtige oder eine falsche Politik angewandt wird?
Wie kommt es, dass jede ‚richtige’ Politik bisher zum Gegenteil dessen geführt hat, was sie versprochen hat?
Wie kommt es, dass alle Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ihre Steigerung nicht verhindern konnten? –

schreibt Rainer Roth dort zusammenfassend:

"Allen oben genannten Erklärungen enthalten in verschiedenem Maße richtige Einschätzungen. In welcher Weise, das versuchen wir im weiteren Verlauf zu entwickeln. Aber sie werfen auch viele Fragen auf, die sie nicht mehr beantworten..

Die Analyse bricht meistens dann ab, wenn sie die Sphäre des Politischen verlässt, als würde über der Ökonomie ein Verbotsschild stehen: ‚Achtung, sie betreten hier den Sektor des privaten Eigentums. Für die Folgen weiteren Nachdenkens kommen wir nicht auf’. Wissenschaftliche Arbeit wäre aber von vornherein in ihren Erkenntnissen beschränkt, wenn sie sich die reichweite ihrer Analyse durch Eigentums- und Machtverhältnisse vorschreiben lassen würde." (S. 11)

Nach dieser Maxime verfährt Rainer Roth und stellt, um Ursachen und Folgen ohne Beschränkungen durchleuchten und an den Wurzeln packen zu können die Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie, die zweifelsfrei das gesellschaftliche und politische Leben in diesem Lande bestimmen, anhand von konkreten Daten und Fakten auf den Prüfstand. Und für den vorurteilsfreien Analytiker stellt sich als Grundmechanismus, zu dem auch die Funktionselite des Kapitals steht und den sie bei "Strafe ihres eigenen Untergangs" (Marx) konsequent verfolgt, als sozusagen "Schwerkraftgesetz" der Ökonomie, keineswegs die Befriedigung allgemeiner menschlicher Bedürfnisse und Lebens-Interessen, der Erhalt von Natur und Umwelt dar, sondern die selbstzweckhaften Verwertungsinteressen des Kapitals, die Verwertung des Werts um seiner selbst willen, auch zu beschreiben als "Profitlogik"

 

Die Maxime: dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegentreten

Dieser mehr als die Ökonomie bestimmende Antrieb kapitalistischer Produktionsweise wird in Rainer Roths Analyse und Darstellung vom Sochel der "Heiligsprechung" gestoßen und einem eingehenden TÜV unterzogen.

Der Autor kommt zu dem meiner Meinung nach fundierten, gut belegten und begründeten Untersuchungsergebnis:
Bei der Erklärung der zunehmenden Staatsverschuldung, wie übrigens auch der privaten Haushalte, der massiven Beschneidungen von Renten und Sozialtransferleistungen, der wachsenden strukturellen Arbeitslosigkeit, den Plänen zu Steuer- und anderen sogenannten Reformen, immer stoßen wir auf den Knackpunkt, dass die politischen Konzepte und Sorgen letztlich darum kreisen, wie der "erlahmenden Ökonomie" dem "Standort Deutschland" auf die Sprünge zu helfen und bessere Wettbewerbsbedingungen und –fähigkeit zu gewährleisten sein. Und dabei geht es letztlich und ursächlich darum, die Profitraten zu halten, zu garantieren, ja, Roth beschreibt es eindrucksvoll, als Profitratensubvention aller Art.

Denn entgegen auch landläufiger "linker" Meinung diagnostiziert er völlig zu recht und auch empirisch nachvollziehbar, dass mit dem markanten Kriseneinbruch Mitte der 70er Jahre

auch in diesem Lande der langfristige Fall der Profitraten (der Netto-Kapitalrenditen, nicht zu verwechseln mit Profithöhen und/oder Gewinnen) in allen Sektoren (vor allem aber auch im kapitalproduktiven, mehrwertschöpfenden) industriellen Bereich Fakt, und die Klagen der Funktionsträger des Kapitals auch nicht nur "zum Handwerk dazugehörende verfälschende Propaganda", sondern einen realer Hintergrund haben. Fazit:
"Die deutsche Wirtschaft wächst heute nur noch, weil der Staatskredit sie vorantreibt. Da die innere Dynamik weitgehend aufgebraucht ist und dementsprechend die Dynamik des Staates auch, wird die ‚Dynamik’ heute nur noch durch ‚äußere Anstöße’, die Verschuldung erzeugt. Der Kapitalismus in Deutschland befindet sich damit in einem Stadium künstlicher Beatmung durch Kredite" (S. 98)

Wahrlich ein Kontrast zu den gängigen Behauptungen selbst in Kreisen der "mainstream"-Linken und Gewerkschaften, die nie gerne über die Krisenhaftigkeit, geschweige denn die unlösbare, des Kapitalismus reden, und meistens die auch von Roth genauer unter die Lupe genommene und kritisierte Rechnung und Argumentation des DGB vom April 1999 "Die Kapitalrentabiltät der Unternehmen ... ist ausgezeichnet und so hoch wie in den früheren Vollbeschäftigungszeiten Anfang der siebziger Jahre" und "Dem Kapital ging es schon lange nicht mehr so gut wie in den letzten Jahren." gebetsmühlenartig wiederholen.

Auch in solchen Fällen hinterfragt und seziert Rainer Roth genauer, flückt Profithöhe, Netto- und Brutto-Kapitalrendite auseinander und macht deutlich, dass bei tieferer Analyse der Zahlen, eine andere, die realen Verhältnisse nicht verklärende Bewertung, getroffen werden muß:

Es stimmt, die Netto-Profithöhe ist gestiegen Das sagt aber nichts über die Profitrate aus, denn die fällt, insbesondere im industriellen, Bereich, absolut und relativ immer mehr zu Lasten der Banken des Handels und Transportgewerbes. Für die Analyse der Profitrate, des eigentlichen Mehrwerts ist die Bruttorechnung vor Abzug der Steuern entscheidend, für die "Unternehmen wie für die Rechnung des DGB zählt aber nur, was nach Abzug der Steuern netto rauskommt." Das ist zwar auch nicht höher als vor 30 Jahren, aber immerhin Fakt. Der volkswirtschaftliche Preis allerdings ist hoch. Durch massive Vernichtung von Arbeitsplätzen wurde versucht, die Relation von konstantem zu variablem Kapital zugunsten des ersteren zu korrigieren, um dem Fall der Profitrate entgegenzuwirken.

Aber das hätte's allein auch noch nicht gebracht. Die Gewinnsteigerung ist in diesem Fall gar kein Zeichen von Stärke des Kapitals, sie basiert nämlich nicht auf einer gestiegen Wert- oder Mehrwertschöpfung durch Ausdehnung der Kapitalakkumulation, sondern wesentlich auch aus einer staatlichen Profitraten-Subvention per drastischer Steuerentlastungen nie dagewesenen Ausmaßes. Der Preis ist volkswirtschaftlich wiederum hoch, eine Staatsverschuldung nie gekannter Höhe. Die Wachstumsraten des Volkseinkommens (Unternehmergewinne und Lohneinkommen), aus denen der Staat seine Steuern bezieht, haben sich seit 1970 bis 1997 von 8,3 auf 4,1 % halbiert.

Um dem langfristigen Fall der Profitraten entgegenzusteuern ist die Steuerlast für Unternehmen von gleichbleibend ca 21 % für die Jahre von 1960 bis 1980 auf heute nahezu nur noch 8 % heruntergeschraubt worden. Selbst die Gewinne sind in Zeiten, da der Kapitalismus offensichtlich an seine inneren Schranken stößt, nicht mehr das, was sie einmal waren, Resultat galoppierender Wertschöpfung und Kapitalakkumulation, sondern galoppierender Verschuldung.

Dies ist nur ein Beispiel für die gründliche und anschauliche Vorgehensweise Rainer Roths in seinem Buch. Er nimmt den Leser mit auf die Reise gängiger Argumentationen, um sie dann auch anhand empirischen Materials und im Lichte einer politökonomischen Kritik auf den Prüfstand zu stellen.

Ich habe auch kaum ein so umfangreiches Werk von mehr als 400 Seiten und gespickt mit vielem Zahlenmaterial und Tabellen so übersichtlich und gut lesbar gefunden, wie dieses.

Am Ende der vier Hauptkapitel "Logik des Kapitals als Ursache der Staatsverschuldung" , "Logik des Geldkapitals als Ursache der Staatsverschuldung", "Privatinteressen als Ursache der Staatsverschuldung" und "Internationalisierung (Globalisierung) als Ursache der Staatsverschuldung" finden sich jeweils orientierende Zusammenfassungen.

In einem Extra-Kapital werden die sich gar nicht so feindlichen Brüder "Keynseanismus und Neoliberalismus" genauer beleuchtet, als zwei Seiten einer Medaille des Staatsinterventionismus. Und es fehlt auch nicht der Ausblick und die Hinführung zu einem notwendig anderen System der Produktion und Versorgung der Menschen, das nach geamtgesellschaftlichen Bedürfnisseen und Interesssen, "gesamtwirtschaftlicher Rentabilität" und nicht nach betriesbwirtschaftliher (Kapital)Logik abläuft.

Wahrscheinlich würde ich um diese wichtigen aber schwierigen Fragen des Auswegs und was wir heute tun können und müssen, auch mit Rainer Roth trefflich streiten. Z. B., ob das "Allgemeininteresses" und das Interesse der LohnarbeiterInnen wirklich identisch sind und nur zusammenfinden müssen, Oder ob nicht "konstantes" und "variables kapital" nicht auch nur zwei Seiten einer gar nicht grundwidersprüchlichen (Kapital)Medaille sind, eines sich bedingenden Kapitalverhältnisses und die Perspektive einer nicht profitorientierten Gesellschaft jenseits von Kapital aber auch (Lohn)Arbeit liegen muß.

Dies tut aber der wirklich einzigartigen Analyse und Kritik, die Rainer Roth mit diesem Buch gelungen ist, keinen Abbruch. Einzigartig ist auch der Preis: DM 25 für 450 Seiten.

 

(Ulrich Leicht, Industriebuchbinder, Schichtarbeiter, Betriebsratsvorsitzender, Sprecher IG Medien Dortmund, jetzt auch Mitglied des Bezirksvorstandes Dortmund von ver.di. Verschiedene Artikel in labournet.de.)

Rainer Roth, Das Kartenhaus..Ökonomie und Staatsfinanzen in Deutschland. DVS-Verlag, 2. Aktualisierte Auflage, Oktober 1999

Erschienen in: express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 4/2001


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