"Bahn Card"

Unter Deutschen II

 

"Eine Zugfahrt, die ist lustig..." und die deutsche Bahn verlässlich. Und nicht nur das: Bahnfahren macht auch reich – zumindest wenn es um Erfahrungen mit (zwangs-)teilnehmender Beobachtung und Experimente in Sachen zufallsgenerierter empirischer "Feld"forschung geht.

Gestern im Abteil: Durch Banknachbarschaft bedingte akustische Nahaufnahmen von zwei, wie sich dem Präludium des munteren Gesprächs entnehmen lässt, Krankenschwestern, offensichtlich schwerere Torturen im freitäglichen Berufsschulunterricht und eine sonst schichtweise abgearbeitete Woche hinter sich gebracht habend, jetzt auf dem Weg ins nunmehr wirklich freie Wochenende. Dafür, der Weg ist das Ziel, ausgestattet mit allen Insignien einer modernen Erscheinung: die Freakfrau mit roten Haaren, handgeknüpftem Soli-Armbändchen und Wildlederjacke – wie damals – und das Neo-Grufti-Dämchen mit sorgfältig in die Stirn gelegten geometrischen Figuren aus angeklebtem schwarzen Vorderhaupthaar (hinten eher turmartig aufgetufftes Gebilde à la Doris Day). Zarte 21,5 Jahre auf pisa-artigen Adiletten mit Unterbau aus Michelin-Rohlingen, die sich angeregt über das Top-Thema der Woche, die Green Card, unterhalten. Man ist betroffen. Was da wortweise zunehmend erregt aus dem Munde holder Jugend purzelt, zwingt beobachterinnenseitig zunächst zur fast sekündlichen Revisionsbedürftigkeit des geschätzten Alters der Diskursteilnehmerinnen, führt dann probehalber zur Annahme, einer hard core-Variante des Blauen Bocks beizuwohnen, dessen Farbe allerdings auch schnell ins Braune changiert, und führt schließlich zu der Einschätzung, nicht nur zwei, sondern mindestens drei Zeitschleifen, mehreren Parallel-Universen und einem erheblichen Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum ausgesetzt zu sein. Also dann – Jugend forscht im O-Ton, logische Brüche inclusive:

"Jetzt holense schon irgendwelsche Kanagge hierher, und gebbe dene Geld bis zum Abwinke, und mir kriesche grade mal so viel im Jahr raus wie die innem Monat. Abber wies uns geht, des interessiert doch niemand hier" – "Unn hier hogge die Leut uff de Straas und kriesche kaa Leerstell; des weiste ja, wies bei uns war" – "Abber isch sachs Dir, die sin aach selber schuld, wenn jetzt die annere komme; die sitze doch hier nur uff ihrem fedde Arsch und streische bloos ein und kassiere als ab" – "Haste aach widder rescht, des sin Profis, die mache den ganze Taach nix anneres als wie auszureschne, wie se an mehr Kohle komme" – "Die mache des hier letztendlisch aach kabutt hier. Wenn isch aaner von dene erwische täet, würd isch ihm in die Fress schlaache" – "Und dann wunnerere se sisch, wenn die Leut als aggressiver werdde" – "Abber des Hauptproblem is übberhaupt die Ausländer: wenns kei Ausländer gäb, dann gäb’s auch kei Skins unn so was unn net so viel Gewalt hier. Wenn mer die Ausländer all wegschigge tät, dann wäre hier bloos normale Leut übbrisch" – "Und mir solle als nur’s Maul halde, während die annere abkassiere" – "Du derfst halt in Deutschland nix mehr saache – wesche dene Nazis damals" – "Isch versteh des aach net, dass die als noch die alde Leut wesche damals verknagge tue, wo des doch ganz normal war damals. Des habbe doch alle getraache. So en Achtzischjährische, der kann doch heut werklisch nix mehr dadefür, des is doch unmenschlisch." – "Genau, des war halt die Zeit damals; die habbe halt gemacht, was halt die Zeit war, isch mein, was ihne jemand gesaacht hat unn was se für rischtisch gehalde habbe."

Klappe, Schnitt für diese Szene und Flucht aus dem Abteil beobachterinnenseits wg. Versagen des Anspruchs auf eingreifendes Denken wg. Schock durch Paralyse. Das war kein Witz. Aber leider auch nicht der falsche Film. Und Parallel-Universen sind auch bloß eine schlechte Ausrede, und Zeitmaschinen gibt’s eh nicht.

K.H.

Erscheint in express 3/2000

Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit"
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