letzte Änderung am 21. Nov. 2002 | |
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Die Gesundheit als soziale Frage umfasst komplexe und verschiedenartige Aspekte. Untersucht man, inwiefern sie durch die Logik des Liberalismus bestimmt wird, erlangt der Bürger die Mittel zum besseren Verständnis dessen, welche Ziele eine eigentlich für die Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung verantwortliche Politik tatsächlich anstrebt sowie welche ernsthafte Klippen für diesen wie für andere Bereiche im Rahmen des "Allgemeinen Abkommens über den Dienstleistungsverkehr" (GATS) der Welthandelsorganisation (WTO) entstehen.
In der Logik des Liberalismus wird das Gesundheitswesen nur als Markt verstanden, wobei Gesundheit und Pflege gerne miteinander vermengt werden: Die Medizinindustrie, die die Haltung der Fachkräfte bestimmt, will uns weismachen, dass das Gesundsein vielmehr das Ergebnis von geleisteter Pflege als etwa von Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen sei.
Es handelt sich um einen verschleiernden Diskurs, der das individuelle Wohlergehen, das Cocooning und die Wunder des High-Tech in den Vordergrund stellen will. Trotz medizinischer Fortschritte war man allerdings nicht imstande, den wachsenden Widersprüchen im Gesundheitsbereich oder der Verschlechterung der Lebensqualität Einhalt zu bieten. Durch Arbeitsflexibilität, Probleme im öffentlichen Verkehr- und Wohnbereich, das Verschwinden des Zusammenhaltens in der Familie und in den Wohnvierteln wird der Alltag erschwert und die Gesundheitsbedingungen betroffen. Man darf nicht vergessen, dass wir deren Verbesserungen vielmehr der Kanalisation als der allgemeinen Impfung zu verdanken haben, was die beachtlichen Fortschritte der Medizinforschung in nichts schmälert.
Das Pflegesystem wird zwar von der Kollektivität finanziert, entspricht allerdings nicht den allgemeinen Gesundheitsbedürfnissen. Durch die Lobby der Medizinindustrie(1), in Einvernehmen mit der Technokratengilde, werden eher die kostspieligsten und lukrativsten Bereiche begünstigt: die Chirurgie, die Radiologie, die Innovation um jeden Preis, die Fachgebiete. Während teure Verfahren allen zugänglich sein sollen, erleben die eher personal- als technologieintensiv Versorgungszweige die Altersheilkunde, die Hauspflege, die Allgemeinmedizin immer mehr Abstriche. Wird die Finanzierung der kostenaufwändigsten Sektoren durch die Sozialversicherung vorbehaltlos akzeptiert, so bedeutet dies die Legitimierung einer Art von Veruntreuung öffentlicher Gelder.
In Frankreich etwa werden seitens der regionalen Krankenhauseinweisungsbüros (ARH), unter dem Vorwand einer sinnvollen Ausnutzung der vorhandenen Mittel, den Privatkliniken die gewinnbringenden Behandlungsmethoden überlassen, während die öffentlichen Krankenhäuser die Bürde der personalintensiven Behandlungen tragen müssen. Die Logik eines solchen Systems kommt am "Gesundheitszentrum" von Carpentras (Südfrankreich) zur vollen Geltung: Einerseits trägt das öffentliche Krankenhaus die Verantwortung für Geriatrie, Infektionskrankheiten und Notfallstation, andererseits befinden sich Chirurgie, Urologie, Radiologie u.a. in Privathänden. Während das öffentliche Krankenhaus dahinsiecht, erfreuen sich die über ihre "bessere Verwaltung" stolzen Privatkliniken eines beachtlichen Profits und ihres an der Börse hoch festgelegten Aktienkurses, was sie allerdings nicht hindert, staatliche Zuschüsse zur Bezahlung des Pflegepersonals anzufordern (2).
Zurzeit besitzt der Sozialversicherte keinerlei Mitspracherecht: Es hat doch seit 1983 keine echten Wahlen mehr gegeben. Der Verwaltungsrat der Kassen sowie sein gewählter Vorsitzender sind so gut wie machtlos gegenüber der Aufsicht des Staates, der durch einen Krankenkassendirektor vertreten wird, dessen Aufgaben rein kaufmännischer und verwaltungstechnischer Natur sind. Dieser technokratische Verwaltungsapparat ist um so mehr kritikwürdig, als die Pflegeleistungen nachweislich bei entsprechendem politischen Willen - einer breiteren Klientel zugänglich zu machen ist. Als das französische Parlament etwa das Gesetz über die allgemeine Krankheitsversorgung (CMU) verabschiedete, wurde einer ganzen Bevölkerungsspalte ein Grundrecht zugesprochen, von dem sie bis zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen war: arbeitslose Jugendliche, getrennte Frauen ohne Einkommen, Arbeitslose, die keinen Anspruch mehr auf Sozialleistungen besitzen.
Die Krankenversicherung ist zu einer Einkommensquelle geworden, zum Instrument finanzieller Machtpolitik innerhalb von Gewerkschaften, während die relevanten Fragen in den Hintergrund der Diskussion geraten. Sie sollte weniger Gerätschaften als menschliches Handeln, d.h. mit Pflegeaufgaben beauftragten Menschen finanzieren. Das Nichtvorhandensein eines höchsten Ziels "Gesundheit" wirkt sich negativ aus: Die Sozialversicherung müsste positive Praktiken in den Beziehungen zwischen Personal und Patienten fördern und Erhebung und Verbreitung von Daten zur öffentlichen Gesundheitsfrage veranlassen. Für die Krankenkassen ist es unerheblich, welche Anwendung ihre Budgets finden, die Geldverteilung wird doch von den zufällig herrschenden Machtverhältnissen bestimmt. Das Fehlen demokratischer Strukturen innerhalb der Sozialversicherung begünstigt letztendlich die Entwicklung des liberalen Denkens.
Wenn die Sozialversicherung und die Errungenschaften des CMU das Solidaritätsprinzip auch verkörpern, bleibt die Ungleichheit im Zugang zu Pflegeleistungen dennoch bestehen. Durch das Vorhandensein zwei liberaler Sektoren (der eine mit Erstattung der tarifsfestgelegten ,der andere mit überschüssigen, nicht erstatteten Honoraren) und der Privatsektor im Krankenhausbereich entsteht augenfällig eine zweigleisige Medizinpolitik.
Zwei Denkweisen stehen sich hier gegenüber: die Logik der Solidarität und die des Liberalismus. Nach der letztgenannten , auch von Frankreichs zentralen Arbeitgeberverband Medef [die Abkürzung Medefsteht für »Bewegung der Unternehmen Frankreichs«". In: Faule Arbeitslose, an die Arbeit! von Bernhard Schmid, Paris aus: SoZ Nr. 13/00, http://www.euromarches.org/deutsch/00/medef.htm], den konservativen Gewerkschaften und den Privatkassen vertretenen Logik soll die Sozialversicherung abgeschafft und ein "Mindestversorgungspaket" eingeführt werden. Demnach sollen sich also nur noch die Reichsten ihre Behandlungsmodalitäten aussuchen dürfen. Konnte sich die Medizinindustrie durch die langjährige Hilfe der Sozialversicherung zu einer marktstarken Branche entwickeln, so strebt sie heute deren Privatisierung und die Erschließung der Privatkassen an, um den eigenen Markt weiter auszubauen. Die Armen sollen sich mit einem restriktiven Versorgungspaket zufrieden geben, während diejenigen, welche die entsprechenden Beiträge zahlen, Anspruch auf leistungsstarke Pflegearten erheben dürfen. Es wird immer schwieriger werden, arm und zugleich krank zu sein...
Man stellt außerdem fest, dass Sozialversicherungsaufgaben an die Familien übertragen werden. So verbreitet sich immer mehr die Auffassung, die sonst von Krankenschwestern zu Hause durchgeführte und von der Krankenkasse zurückerstattete körperliche Pflege von schwerbehinderten Menschen einen "Luxus" darstelle, den von den Angehörigen bezahlte Hilfskräfte zu übernehmen hätten.
Um die öffentliche Gesundheitsfürsorge abzubauen, setzt die Lobby der Pharmaindustrie ihre ganze Kraft ein. Unter dem Patentschutz, der die armen Länder daran hindert, Medikamente kostengünstiger zu produzieren, beschränken sie sich nicht nur auf die Preis- und Produktionskontrolle von Medikamenten, sondern intervenieren auch noch dadurch, dass sie die verschreibungsbefugten Ärzte in ihren Praxen aufsuchen, Fachzeitschriften finanzieren sowie Tagungen und Konferenzen organisieren.
Während die Bürger in den wirtschaftlich entwickelten Ländern unter dem Einfluss der Pharmaindustrie auf allen Entscheidungsebenen der Krankenpflege leiden, bedeutet diese Politik für ganze Bevölkerungssegmente der Entwicklungsländer das Todesurteil. Die Zielsetzung des Patentsystems ist allgemein bekannt: die Pharmaindustrie will die Entwicklungsländer daran hindern, die nötigen Medikamente in Form von Generika besonders für die Behandlung von Aids selbst herzustellen. Südafrika, Brasilien und Indien, die dies geplant hatten, wurde mit wirtschaftlichen Repressalien gedroht. Erst unter dem internationalen Druck sahen sich die USA gezwungen, ihre Klage gegen Südafrika und dann auch gegen Brasilien zurückzuziehen und im November 2001 bei der Ministerkonferenz der WTO in Doha gewisse Zugeständnisse zu machen.(3)
Wenn vom Gesundheitswesen die Rede ist, geht es um Widersprüche, die in sozialer als auch in pflegerischer Hinsicht systemimmanent sind. Der soziale Versicherungsschutz ist das Ergebnis einer Reihe von Bündnissen und Konfrontationen zwischen dem Staat, den Experten, der Industrie medizinischer Geräte, den Gewerkschaften von Lohnabhängigen und den Bürgern. Nach dem 2. Weltkrieg wurde ein sozialer Kompromiss geschlossen, der sich auf einen bedeutenden öffentlichen Sektor und eine großzügige Sozialgesetzgebung stützen konnte. Die Gründung der Sozialversicherung wurde anfangs von den Ärzten abgelehnt. Erst später, als sie merkten, dass dieser ihnen einen zahlungsfähigen Markt eröffnete, entschlossen sie sich, der Krankenkassen-Vereinigung beizutreten. Die Besonderheit des französischen Gesundheitswesens besteht in der Mischfinanzierung mit zwei Komponenten: einem privaten liberalen System in den Städten, das die sofortige Begleichung der Honorarforderungen vorsieht und daneben einem bedeutenden öffentlichen Krankenhausbereich mit lohnabhängigem Personal. Kostenerstattung besteht in beiden Bereichen.
Die Universitätskrankenhäuser, die Pharmaindustrie sowie die medizinische Geräte herstellende Industrie haben sich zusammengeschlossen, um in den 1960 gegründeten zentralen Universitätskrankenhäusern (CHU) medizinische Wissenschaftsförderung zu treiben. Das ist der Ursprung des sogenannten "medizinisch-industriellen Komplexes". Seit den 80er Jahren haben sich die Verhältnisse schnell gewandelt: Öffentliche Träger ziehen sich aus dem Krankenhausbereich zurück; renommierte und rentable Segmente werden privatisiert, kassenärztliche Kostenerstattungen im städtischen Bereich werden reduziert und ein freies Honorarsystem ins Leben gerufen, das keine Erstattung vorsieht. Daneben werden Maßnahmen zur Kostendämpfung getroffen (die 75%-Erstattung sinkt auf 70%; bei bestimmten, sogenannten Luxusmedikamenten werden nur noch zu 35% erstattet).
Seit Ende des Wirtschaftswachstums sind zwei verschiedene Entwicklungen eingetreten. Einerseits kam es zu einem geheimen Einverständnis zwischen Technokraten, die eine Rationalisierung der Kosten und darüber hinaus eine Rationierung der Ausgaben für die Gesundheitsfürsorge anstrebten und Vertretern, die einer Marktlogik eingeschworen waren ; für diese Kreise ist ein Krankenhaus ein Unternehmen und ein Kranker ein Kunde. Heutzutage ist es leichter, einen PC anzuschaffen, mit dem man die Ausgaben kalkulieren kann, als eine Krankenschwester zu entlohnen. Krankenbetten wurden abgebaut, ohne dass man sich vorher vergewissert hat, ob es dafür an anderer Stelle in der Stadt Ersatz gibt. Das hatte in vielen Bereichen dramatische Folgen, besonders bei der Krankenhausbehandlung älterer Personen und psychisch Kranker.
Andererseits haben die Reduzierung des Kostenerstattungssätze und die Freigabe der Arzthonorare tiefgreifende Konsequenzen für das Krankenversicherungswesen mit sich gebracht: private Versicherungen verkaufen zahlungskräftigen Kunden Verträge, die Kostenerstattungen beinhalten, die von der Sozialversicherung nicht übernommen werden können.
Die von den privaten Krankenkassen praktizierte "Risiko-Selektion" besteht darin, dass sie junge, gesunde und reiche Patienten anwerben, die sich die ausgefeiltesten Behandlungsmethoden leisten können. Die Aufgabe der Sozialversicherung, oder besser: das, was von ihr noch übrig geblieben ist, besteht darin, sich um die Armen und Kranken zu kümmern, die eine lange, kostenintensive und somit unrentable Behandlung benötigen. Prof. Jean-François Mattei, der neue Gesundheitsminister, hat uns vor kurzem in einem Gespräch, in dem er den letzten Rettungsversuch der "Sécu 4" angekündigt hat, auf das Ende der Sozialversicherung hingewiesen, so als sei es unausweichlich.
Heute setzt der französische Arbeitgeberverband (MEDEF) alles daran, die Zulassung privater Kassen im Bereich der Sozialversicherung herunterzuspielen. Dabei bedient er sich mit Unterstützung der Pharmaindustrie, der medizinischen Fachpresse sowie der Presse, die sich an ein breites Publikum wendet und über Diskussionen paritätisch besetzter Gremien der Sozialversicherung berichtet. Hinzukommt ein intensives Lobbying bei französischen und Europa-Abgeordneten sowie der Brüsseler Kommission.
Hierarchische Probleme und Interessenkonflikte spalten die Ärzteschaft. Manchmal sind es sogar die in der Hierarchie und bzgl. ihrer Einkünfte bestplatzierten Ärzte, die uns glauben machen wollen, dass es ihnen einzig um den Dienst am Kranken geht. Gleichwohl kämpfen sie fast immer für ihre Standesinteressen, ohne sich Gedanken über die Schwierigkeiten anderer und die sachlichen Zusammenhänge der verschiedenen erhobenen Forderungen zu machen. Was haben denn ein Experte für Röntgenbilder und eine Krankenschwester gemein? Oder was verbindet einen Allergologen und einen praktischen Arzt, wenn man ihr Gehaltniveau, ihre Arbeitszeit, den Grad ihrer Erschöpfung und ihren Stress miteinander vergleicht? Selbst die Sozialversicherung ist daran nicht unschuldig, wenn sie bestimmte Kategorien des medizinischen Fachpersonals diskriminiert. So hat sie z. B. den Krankengymnasten und Krankenschwestern eine lächerliche Beihilfe vorgeschlagen, als es um die Digitalisierung der Versicherungskarten (Carte Vitale) ging: sie sollten mit 152 € abgespeist werden; für die Ärzte waren 1372 € vorgesehen.
Die Streiks des medizinischen Personals, die vor kurzem stattgefunden haben, und die Forderungen der Ärzteschaft konzentrierten sich auf die Anhebung der Honorare. Grenzt es da nicht schon an Zynismus, wenn man uns einreden will, dass ein Honorar von 20 € die Probleme ärztlicher Behandlung in einem Augenblick lösen könnte, in dem komplette Abteilungen in Krankenhäusern geschlossen werden, weil die bescheidenen Gehälter der Krankenschwestern nicht mehr bezahlt werden können? Die Presse ignoriert absichtlich alle Initiativen des medizinischen Fachpersonals, die darauf abzielen, dass bessere Arbeitsbedingungen nicht auf Kosten der Solidarität mit der Bevölkerung durchgesetzt werden dürfen.
Ein weiterer Streitpunkt unter Ärzten betrifft die Honorarzahlung sofort nach der Behandlung. Dieses exklusive Verfahren führt dazu, dass sie die Zahl der Beratungen im Interesse ihrer Einkünfte in die Höhe treiben, dass sie die Sprechstunden nach dem Fließbandprinzip abwickeln und dabei viele Medikamente verschreiben und Untersuchungen durchführen.
Die Expertenlobby, die konservativen Gewerkschaften und Standesorganisationen blockieren seit 30 Jahren alle Initiativen, die eine Pauschalierung der Honorare zum Ziel haben. Nur so jedoch kann die Dauer der ärztlichen Beratung, die Ausbildung des Arztes sowie Aspekte der Vorbeugung berücksichtigt werden. Es hat widernatürliche Bündnisse zwischen verschiedenen Angestelltengewerkschaften und konservativen Ärztegewerkschaften gegeben, d. h., um eine gemeinsame Konzeption in Sachen Krankenpflege und sozialer Versicherungsschutz zu vertreten, bedarf es mehr, als nur gemeinsam auf die Straße zu gehen.
Der Staat weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Einerseits "kneift" er aus Angst, einen einflussreichen Berufsstand gegen sich aufzubringen. Andererseits verbindet Politiker in leitender Funktion, Fachärzte in Schlüsselpositionen und Vertreter der Pharmaindustrie auch eine gemeinsame Interessenlage. Alle wollen, dass das System der Krankenpflege den Interessen der Industrie am Besten entspricht. Gleichwohl braucht aber der Staat ein Sicherheitsventil, um den sozialen Frieden mittels einer funktionierenden Sozialversicherung zu erhalten. Dabei sind einige Experten der Meinung, dass das liberale Modell mit seinen vielen isolierten Arztpraxen zur Explosion der Gesundheitskosten geführt hat und folglich durch eine Mischfinanzierung der Arzthonorare ersetzt werden sollte, bei der Honorarpauschalen mit festen Angestelltengehältern kombiniert werden sollen.
Die Schaffung von Bürgervertretungen wurde schon immer von den - in der Zeit von Vichy gegründeten - Ärztekammern blockiert. Diese haben sich von jeher gegen alle Maßnahmen eingesetzt, die im Interesse der Bevölkerung lagen: Hier sei daran erinnert, dass sie sich z.B. anfangs gegen die Schaffung der Sozialversicherung, gegen eine "Teamwork-Medizin", gegen Empfängnisverhütung und Abtreibungsrecht sowie gegen die Versuche bestimmter Ärzte, sich in ihrer Praxis vom Prinzip der Sofort-Honorierung zu distanzieren ausgesprochen haben. Trotzdem haben sich Bürgerinitiativen in Sachen Gesundheit stark engagiert, z. B., im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen (Entfernung von Asbest oder Blei), oder von den Frauen zur Durchsetzung ihres Rechtes auf Empfängnisverhütung und Abtreibung, bei der Auseinandersetzung über die Schweigepflicht der Ärzte und die Digitalisierung persönlicher Daten ; zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die Bürgerinitiativen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Aidskranke zu respektieren und zu versorgen, die Macht der Ärzte anzuprangern und für den Erhalt öffentlicher, von der Schließung bedrohter Krankenhäuser zu kämpfen.
Es ist höchste Zeit, dass an die Stelle der Ärztekammern, die nur die konservativsten Kreise der Ärzteschaft vertreten, lokale Kammern für das Gesundheitswesen ins Leben gerufen werden, in denen die Bürger, das medizinische Fachpersonal, Ärzte, Krankenschwestern, Krankengymnasten etc. mit den Vertretern der Sozialversicherung zusammenkommen.
Vom geplanten Dienstleistungsabkommen GATS drohen zwar noch keine unmittelbaren Gefahren für das System der Krankenpflege, aber bereits heute beeinträchtigt die WTO das Gesundheitswesen dadurch, dass sie Einfluss auf das Preisniveau von Medikamenten und Nahrungsmitteln sowie die Arbeitsbedingungen ausübt. Die Schlichtung von Handelskonflikten geht immer auf Kosten der Interessen des Gesundheitswesens. Das bekannteste Beispiel ist, dank der Aktionen der Confédération paysanne und von José Bové, das mit Hormonen versetzte Fleisch: Da die EU nicht beweisen konnte, dass die Fütterung amerikanischer Rinder mit Wachstumshormonen eine Gesundheitsgefahr darstellt, konnte sie die Einfuhr von amerikanischem Rindfleisch nicht verbieten. Ein Verbot hätte Repressalien in Milliardenhöhe zur Folge gehabt (120 Mrd.$ jährlich in Form überhöhter Einfuhrzölle besonders auf Roquefortkäse). Mit ihrer "Schlichtungsstelle für Streitfälle" (ORD) verfügt die WTO über ein Instrument, welches ihr ermöglicht, Mitglieder "zu bestrafen", die über die Wahl der Einfuhrwaren frei verfügen wollen.
Dagegen ist die Sozialversicherung durch das Dienstleistungsabkommen GATS früh oder spät in ihrer Existenz bedroht. Die Unterzeichnerstaaten haben sich verpflichtet, die Zahl der Dienstleistungsbereiche, die von GATS abgedeckt werden sollen, nach und nach zu erhöhen. Sobald einer dieser Bereiche in das Abkommen aufgenommen ist, treten sofort zwei Bestimmungen in Kraft : die Gleichbehandlung von nationalen und internationalen Dienstleistern sowie die Meistbegünstigungsklausel (ein Handelsvorteil, der einem Mitgliedsland eingeräumt wird muss auch allen anderen zu Gute kommen.) Das heißt, dass ein Staat gegenüber privaten Anbietern von Dienstleistungen in der Krankenpflege seine Zuständigkeit verliert. Der Staat müsste ihnen sogar aus Steuermitteln obendrein noch die gleiche Unterstützung wie dem öffentlichen Gesundheitswesen gewähren. In § 6 des GATS - Abkommens heißt es: gemäß den verschiedenen Pflichtversicherungen darf ein Anbieter, der sich benachteiligt fühlt, gegen öffentliche Subventionen Klage zu führen, weil sie nun Handelshemmnisse darstellen..
Die Sozialversicherung könnte also ohne Weiteres vor die ORD zitiert werden, also vor ein Tribunal, das sich aus nicht gewählten Experten zusammensetzt und dessen Beratungen hinter verschlossenen Türen stattfinden.
Die Aufnahme der öffentlichen Gesundheitsfürsorge in das GATS-Abkommen würde für die Länder, in denen diese fest verwurzelt ist, einen großen Rückschritt bedeuten. Gleichzeitig würde sie andere Länder daran hindern, ein System öffentlicher Gesundheitsfürsorge einzuführen, das nach dem Solidaritätsprinzip funktioniert. Deshalb ist es dringend erforderlich, zu verhindern, dass das Gesundheitswesen, die Krankenpflege, soziale Dienstleistungen sowie die Bereiche "Erziehung" und "Kultur" Teil des Dienstleistungsabkommens der WTO werden, d. h. es darf in diesen Bereichen keine Liberalisierung (weder Angebote noch Anträge) geben.
Über das Gesundheitswesen muss eine politische Debatte geführt werden, die nicht länger ausschließlich von der Interessenlage der Medizin geprägt sein darf. Über die Funktionsfähigkeit und die Finanzierung der Sozialversicherung muss eine wirklich demokratische Diskussion angestoßen werden. Schließlich sollten auf lokaler und nationaler Ebene den Bürgern Rahmenbedingungen angeboten werden, die es den "Kammern für das öffentliche Gesundheitswesen" erlauben, konzertierte Aktionen durchzuführen.
Das aktuelle System der Gesundheitsfürsorge muss reformiert werden. Damit verbunden sind:
Das erfordert:
(1) Zitat Zac Goldsmith in Lécologiste, vol.1 Nr.1, 2000
(2) siehe Beispiel der Klinik Petit Colmoulins in Refusons que la santé soit une marchandise, CCC-OMC, 44, rue Montcalm, 75018 Paris
(3) über den Zugang zu Medikamenten und die N-S Beziehungen. Pratiques, Les cahiers de la médecine utopique, Nr. 9 und das Dossier in Courrier International, Nr. 538, 2001; Bernard Cassen u. Frédéric. F. Clairmont, Globalisation à marche forcée in Le Monde Diplomatique, Dez.2001.
(5) weitere Informationen unter www.wto.org. sowie in den Artikeln von Susan George in Le Monde Dipl. Juli u.Nov.1999, Juli 2000 sowie ihre Veröffentlichung Remettre LOMC à sa place, Attac Mille et Une Nuits, Paris 2001 ; Pratiques Nr. 8, 2000
Kurzbibliographie: Siehe französischen Originaltext !
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