letzte Änderung am 2. Juli 2002

LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home -> Diskussion -> Wipo -> Gesundheitswesen -> GSteffen Suchen

Gesundheitsreform aus einem Guss

Günter Steffen*

Im Wahlkampf werden wir von den Parteien mit Schlagworten einer notwendigen Gesundheitsreform nach der Bundestagswahl konfrontiert. Das Warum ist schnell erklärt: Die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung sind zwischen 1991 und 2002 von 12,2% auf durchschnittlich 14,0% angestiegen und die Leistungserbringer, also die Vertragsärzte, Vertragszahnärzte, Krankenhäuser, Pflegebetriebe, Pharmaunternehmen stellvertretend für die Apotheken(um die Ecke) und die sonstigen mediz.Hilfsbetriebe klagen darüber, dass im System zu wenig Geld vorhanden ist! Diese Behauptung ist nicht wahr, weil missbräuchlich Milliarden von Euro ohne Sinn und Verstand rausgeworfen werden, aber die Lobby der Pharmaindustrie, der Ärzteverbände und der Interessenverbände vielfältiger Leistungsanbieter sorgen pressewirksam für eine entsprechende Behauptung, zumal der einzelne Patient sich das auch sehr oft vom behandelnden Arzt in der Praxis anhören muss.("Mein Budget lässt derartige Maßnahmen bzw. Verschreibungen bestimmter Medikamente nicht zu.")

Zu wenig Geld im System? Missbrauch der Milliarden von Euro? "Kann das wahr sein," fragen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, verständlicherweise, weil Sie die harten Fakten natürlich nicht von den Politikern und nicht von den Beteiligten der Ausgabenmaschinerie erfahren. Vor einigen Wochen hat der Krankenhaustag in Hamburg stattgefunden. Da behauptet doch bewusst falsch der Vorstandsvorsitzende, Herr Lohmann, vom größten europäischen Krankenhausträger, dem LBK Hamburg " Das Problem im Gesundheitswesen bestünde darin, dass ein immer größerer Bedarf an Gesundheitsdienstleistungen mit immer weniger Finanzmitteln angeboten werden." Ich behaupte: Je mehr Dienstleistungen angeboten werden, umso intensiver wird die Forderung nach Erhöhung der Finanzmittel gestellt. Mit Gesundungserfordernissen der Bevölkerung hat das nichts mehr zu tun. Nun aber zu einigen Fakten:

Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen sind zwischen 1991 und 2000 um annähernd 43% gestiegen. Im gleichen Zeitraum sind die Löhne und Gehälter der tarifgebundenen Arbeitnehmer nur bis zu ca. 25 % angestiegen. Die Bevölkerungszunahme für den genannten Zeitraum können Sie unbeachtet lassen; diese ist nicht erwähnenswert. Zwischen 1991 und 2000 sind die Ausgabenbudgets der niedergelassenen Ärzte um 45% angestiegen; denn: es sind in dieser Zeit 26% mehr Arztpraxen (in den alten Bundesländern) zugelassen worden. Die Ausgaben für Krankenhäuser sind in dem Zeitraum um ca. 42% und die Arzneiausgaben um 72% gestiegen. In Deutschland besteht die höchste Arztdichte-gemessen an der Bevölkerung- in der Welt. Die Ausgaben für die Gesundheit, gemessen am Brutto-Inlandprodukt lauten im internationalen Vergleich: 2.Stelle Deutschland. Im Ergebnis der gesündesten Bevölkerungen(Vergleich von Sterblichkeitsraten in der Welt) belegt unser Land in der Rangfolge nur einen guten Mittelplatz. Fazit: Durch sehr hohe Ausgaben wird die Bevölkerung nicht gesünder.

Den Missbrauch der Ausgabenverschwendung will ich an ein paar Beispielen deutlich machen:

Jährlich wandern Arzneimittel im Wert von ca. 2 Milliarden Euro in den Müll(1/5 der Packungen waren noch nicht einmal geöffnet). Die Deutsche Röntgengesellschaft moniert, dass etwa 50 Millionen Röntgenuntersuchungen im Jahr überflüssig sind! Die Anzahl der Herzkatheteruntersuchungen ist in knapp 6 Jahren um 250% angestiegen. Jede 5. Ballondeletation wird ohne medizinische Begründung durchgeführt. Überflüssige Krankenhausbetten und lange durchschnittliche Liegezeiten-im Vergleich mit den westlichen Ländern- verursachen unnötige Kosten. Denn: Unnötige Krankenhausaufenthalte können vermieden werden durch intelligente Aufgabenverteilung zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich. Im Arzneimittelbereich sind von den fast 50000 Mittel über 15000 vorläufig(seit vielen Jahren) zugelassen, ohne das bisher die Wirksamkeit vom Pharmaunternehmen nachgewiesen werden brauchte. Die Übergangsfristen sind regelmäßig von der Politik verlängert worden. Sicher müssen auch Verwaltungskosten bei den Krankenkassen anfallen. Aber es ist Missbrauch und Verschwendung der Beiträge, wenn z.B. die großen bundesweiten Ersatzkassen jährlich bis zu 1 Milliarde Euro allein an Personalkosten einsetzen, um auf Mitgliederjagd zu gehen. Die Zielsetzung dieser großen gesetzlichen Krankenkassen ist nicht in erster Linie darauf konzentriert, die Versicherten mit den erforderlichen Leistungen gut zu versorgen oder ausreichend Personal zur Durchsetzung günstiger Vergütungsverträge mit den Leistungsanbietern einzusetzen, nein, die eigentliche Zielsetzung ist die Erhaltung bzw. Ausweitung der Mitgliederbestände. Hier versagen die Aufsichtsbehörden-zu Lasten der Beitragszahler!

Die aufgezeigten Fakten sprechen nun aber nicht dafür, unsere solidarische gesetzliche Krankenversicherung zu beseitigen. Eine Errungenschaft der Arbeitnehmer, die, wenn es nach weit verbreiteter Meinung der Politiker in Berlin - übrigens quer durch alle Parteien, die koalitionsfähig sind- geht, nicht beibehalten werden kann. Allerdings sollte nach meiner Meinung eine Gesundheits-und Strukturreform an Haupt und Gliedern, die nur Vorteile für die Patienten und für das weitere wirtschaftliche Wachstum unserer Gesellschaft haben kann, erfolgen. Was die Voraussetzung ist? Mut der Politiker, neue durchlässige und übersichtliche Strukturen zu schaffen und die immer mehr ausgeweitete Niederlassungsfreiheit der Ärzte, nun endlich auf EU- Duchschnitts-Niveau zurück zuführen. Das hat nichts mit der Einschränkung einer freien Berufswahl zu tun. Ärzte können sich gerne niederlassen, aber dann nicht wie selbstverständlich zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen. Die verbreitete Meinung der Abgeordneten im Deutschen Bundestag, die nicht die inhaltliche Arbeit unmittelbar im Gesundheitsausschuss kennen, sind der Auffassung, es seien ja nun wirklich genügend Gesundheitsreformen gestartet worden, Beitragssatzerhöhungen hätten sich trotzdem nie vermeiden lassen. Der wesentliche Grund dafür – durchgehend für alle Gesundheitsreformen zutreffend- ist doch der, dass nennenswerte Langzeitwirkungen von vornherein wegen der sonst aufgetretenen Konsequenzen für die Leistungserbringer nicht eingeschlossen wurden. Ganz besonders schwachsinnig war die Einführung des sogenannten Kassenwettbewerbs. Eine Begrifflichkeit, die völlig unangebracht war und heute noch Bestand hat. Da sollen sich die einzelnen Krankenkassen im Wettbewerb befinden, nur weil die Beitragshöhe –natürlich absurd wegen der sehr unterschiedlichen Leistungsabforderungen - verglichen wird. Ein reines Arbeitgebergeschenk in den 90er Jahren, weil natürlich viele betriebseigenen Krankenkassen(Betriebskrankenkassen) im Schnitt nicht die leistungsaufwendigen Ausgaben haben, sind sie einfach in der Beitragshöhe niedriger als AOKn, DAK, Barmer usw. So sind die Arbeitgeberanteile natürlich auch niedriger. Diese gesellschaftspolitische Ungerechtigkeit wurde auch von der Schröder-Regierung (wen wunderts) nicht rückgängig gemacht. Liebe Leser, bitte nicht falsch verstehen, niemand hat etwas gegen einen Kassenwettbewerb, dann aber bitte schön ein richtiger Vertrags- und Leistungswettbewerb zwischen den Krankenkassen. Dieser ist solange nicht möglich, solange alle wesentlichen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Fünf gleich sind, weil die Vergütungshöhe für Leistungserbringer –auch ohne Qualitätsmaßstäbe- gleich hoch sein müssen, denn alle Krankenkassen/Verbände haben einheitlich und gemeinsam Verträge nach derzeitigen Recht zu schließen!

Es ist zu befürchten, dass die Politik nach dem 22.September d.J. das solidarisch finanzierte Gesundheits- wesen zumindest aushöhlen, wenn nicht gar beseitigen will. Konkret ist anzunehmen, dass der Arbeitgeberbeitrag für alle Zeiten festgeschrieben werden soll (z.B. 6% für die Krankenversicherung), damit das Finanzierungsrisiko zukünftig einseitig auf die Arbeitnehmer/Versicherten verlagert wird. Eine Entscheidung, die in Zeiten der Globalisierung der Märkte dazu passt. Weiter ist damit zu rechnen, dass die Politiker dann auch Grund- und Wahlleistungen einführen wollen. Es ist zu vermuten, dass die Versicherten bestimmte Leistungen abwählen(nicht finanziert erhalten) können, damit sich der Arbeitnehmer- Beitrag reduzieren lässt. Ein fataler Weg, der hier beschritten werden soll. Wo bleibt die Solidarität mit den wirklich kranken Menschen? Wo bleibt die Solidarität mit den chronisch kranken Menschen in dieser Gesellschaft. Will man nicht zur Kenntnis nehmen, dass alte bzw. sterbenskranke Menschen in den letzten 14 Tagen ihres Lebens mehr als 10 Tsd.Euro kosten. Was soll dann vorher an Leistungen abgewählt werden, so frage ich gesunde und kraftprotzende Politiker der Macht?

Also: Es ist der grundlegend falsche Weg, die Arbeitgeber-Beiträge zu kappen und die Grund- und Wahlleistungen einzuführen. Was wäre das für eine Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft, wenn Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger alle Leistungen in Anspruch nehmen dürfen- bisher ist dieser Personenkreis schon ausgenommen von der Budgetierung bzw. Zuzahlung von Leistungen nach geltendem Recht und Arbeitnehmer ab 1000 Euro Brutto Monatsverdienst haben dann die Unwirtschaftlichkeiten der Ärzte voll über ihre zuständige Krankenkasse als Beitrag- die weiter erhöht werden - zu zahlen. Von zukünftigen jährlichen Beitragssatzsteigerungen ganz zu schweigen.(Diese fallen dann ja nicht mehr für die Arbeitgeber als Lohnnebenkostenerhöhungen an). Daher plädiere ich für den Weg einer durchgreifenden Gesundheitsreform an Haupt und Glieder in der Wirkung, dass die Begriffe Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Qualität notwendiger diagnostischer und therapeutischer Leistungen zur Erreichung der Gesundheit wiederherzustellen oder den Gesundheitszustand zu bessern im Vordergrund zu stehen haben. Dann ist auch die solidarische gesetzliche Krankenversicherung auf Jahre hinaus gesichert. Aber wirkliche Reformen sind gefragt. Wie könnte eine Reform aussehen?

Es ist nur gerecht, wenn alle Arbeitnehmer, also abhängige Beschäftigte, Pflichtmitglied der gesetzlichen Krankenkasse werden. Als Wirkung daraus könnte die heute bestehende Beitragsbemessungsgrundlage von mtl. 3375 Euro(Grundlage der Berechnung des Höchstbeitrages) für die nächsten Jahre festgeschrieben werden.

Streichung aller versicherungsfremden Leistungen. Also Geldleistungen für Haushaltshilfen, Krankengeld wegen Erkrankung des Kindes, Mutterschutzleistungen sowie Schwangerschafts-Abbrüche. Übernahme dieser Leistungen aus dem Steuertopf, da es sich um Familienleistungen handelt. Auch die vollen Mitgliedsbeiträge der Krankenversicherung für die im Erziehungsurlaub befindlichen Mitglieder, die vollen Mitgliedsbeiträge für Studenten und die Einnahmeausfälle der Krankenkassen für Härtefallpersonen sollten aus den Steuermitteln finanziert werden; denn der Beitragszahler im Arbeitsverhältnis hat damit nichts zu tun.

Wegfallen sollten auch die Vergnügungskuren(Vorsorge-Kuren). Nicht zu verwechseln mit den Rehabilitationsmaßnahmen, die selbstverständlich finanziert werden müssen.

Im Mittelpunkt einer Krankenversorgung muss in erster Zuständigkeit der Facharzt für Allgemeinmedizin(Hausarzt) stehen. Zu seiner Beratung und nötiger diagnostischer Abklärungen und ggf. notwendiger Eingriffe sind die Fachärzte (incl.Krankenhaus-Fachärzte) mit Ausnahme der Gynäkologen u. Augenärzte, zuständig. Abgesehen von den Notfällen, hat der Hausarzt – Ausnahme Gynäkologe/Augenarzt – allein die Berechtigung, eine Krankenhausverordnung/Praxisklinik-Einweisung auszusprechen. Niedergelassene Fachärzte sollten berechtigt sein, Eingriffe und kleine Operationen in den sogenannten Praxiskliniken (Höchstaufenthalt bis zu 4 Tg) durchzuführen. Für alle ambulanten Behandlungen sollten Qualitätsleitlinien zur Abklärung und Behandlung unter Federführung der Bundesärztekammer und den Fachverbänden festgelegt werden. Alle Hausärzte sollten auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung an 14 Tagen im Jahr an Pflicht-Weiterbildungen der Landesärztekammern in Zusammenarbeit mit Wissenschaft u. Forschungseinrichtungen teilnehmen.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen in den Bundesländern sollten keine Berechtigung mehr haben, Ärzte zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen zuzulassen, Honorarabrechnungen vorzunehmen oder Wirtschaftlichkeitsprüfungen stattfinden zu lassen. Die Aufgaben sollten übergehen in den Vertragswettbewerb der einzelnen Krankenkassen/Verbände. Die Krankenkassen-Verbände organisieren dann gemeinsam mit den Vertragsärzten u. Praxiskliniken die Notdienste in den Nächten und an den Wochenenden sowie Feiertagen. Die Honorierungen der niedergelassenen Vertragsärzte sollten direkt durch die Krankenkassen erfolgen. Fachärzte für Allgemeinmedizin(Hausärzte) sollten mindestens 20% höhere Vergütungen p.a. im Vergleich der tarifbezahlten Ärzte(BAT I b) im Krankenhaus erhalten.(Mindest-Vertragshonorar). Im übrigen sollte jede Krankenkasse frei sein, in welcher Höhe Honorare den Vertragsärzten vergütet werden.(Vertragswettbewerb)

Im Arzneibereich sollte bei allen zu verordnenden Arzneien die Wirksamkeit strikt nachgewiesen werden. Nur im Rahmen der bestehenden Qualitätsleitlinien sollten zur Erreichung des Behandlungszieles Arzneien verordnet werden dürfen. Der verordnende Arzt(Vertragsarzt) sollte berechtigt sein, Einzelmengen für die individuelle Patientenversorgung als Abgabe von der Apotheke vorzuschreiben.

Bei diesen Punkten will ich es zunächst belassen. Durch diese Maßnahmen könnten jährlich schon über 20 Miard Euro eingespart werden. Selbstverständlich gibt es noch eine Reihe von Maßnahmen, die dem Versicherten nicht weh tun, um weitere 5-10 Miard Euro als Entlastung vom Krankenkassenbeitrag vorzunehmen. Somit könnten Budgets und Reglementierungen entfallen. Allerdings ginge diese Art von Gesundheitsreform zu Lasten der Verbändelobby und der Arbeitsplätze, die heute eindeutig angebotsindiziert bestehen.

Es ging dem Verfasser darum, den Beweis anzutreten, dass die solidarisch finanzierte Krankenversicherung nicht beendet werden braucht und die Einführung von Grund- und Wahlleistungen dann nicht stattfinden müssen, wenn die Politiker mutig die eigentlichen Probleme im Gesundheitswesen beseitigen. Unser früherer Bundespräsident Roman Herzog hat einmal zu den Bildungsfragen gesagt:"Wir leiden am Vollzugsdefizit, nicht an einem Erkenntnisdefizit." Ganz sicher trifft diese Aussage auch für das ausufernde Gesundheitswesen von heute zu.

 

*Der Verfasser war im Vertragsmanagement einer bundesweiten Krankenkasse verantwortlich tätig. Seit dem 1.1.2002 befindet er sich im Ruhestand.
Anschrift: 27809 Lemwerder, Nordseering 29, E-mail-Adresse:guentersteffen@aol.com

LabourNet Germany Top ^