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Die Ende September 1998 gewählte neue rot-grüne Bundesregierung hatte sich recht schnell auf einen eigenständigen politischen Gestaltungsanspruch der gesundheitlichen Versorgung einigen können. Vermittels des als Sofortmaßnahme verabschiedeten Vorschaltgesetzes sollten kurzfristig diejenigen Weichenstellungen rückgängig gemacht werden, die noch unter der konservativen Regierung durchgesetzt wurden. Grundsätzlichere Veränderungen waren mit dem Gesetz zur Strukturreform des Gesundheitswesens zum Beginn des Jahres 2000 geplant.[1] Die Koalitionsvereinbarungen zur Gesundheitspolitik standen unter der hoffnungsvollen Überschrift »Leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem für alle«. Rot-Grün versprach eine »sozial gerechte Gesundheitspolitik«, die auf dem Solidar- und Sachleistungsprinzip und einer damit verbundenen paritätisch finanzierten Krankenversicherung beruhte. Der Gesundheitsförderung, der Gesundheitsvorsorge und der Rehabilitation wurde ein hoher Rang eingeräumt. Wie für die konservativ-liberale Koalition war die Gesundheitspolitik jedoch auch für die Koalition von SPD und Grünen zuallererst Standortpolitik daher genoss die Stabilität der Beitragssätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von Beginn an höchste Priorität.[2] Zu ihrer Gewährleistung entschloss sich die Bundesregierung unter der neuen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) zu einer strikten Budgetierung der GKV-Ausgaben. Diese Festlegung von Ausgabenobergrenzen und ihre Folgen ob real oder behauptet sollten im Verlauf der Legislaturperiode auf eine zunehmende Kritik stoßen, die sowohl von der Ärzteschaft als auch von den Patienten vorgetragen wurde. Zwischen dem Ziel der Beitragssatzstabilität und dem Ziel einer alles medizinisch Notwendige umfassenden Versorgung brachen Konflikte auf.
Ein zweites zentrales Problem bahnte sich schon bei Fischers Amtsantritt im Lager der Krankenkassen an: Mit den Folgen der seit 1997 wirksam gewordenen Wahlfreiheit zwischen den Kassen kam es zu schweren Verwerfungen.
In einer Zwischenbilanz nach zwei Jahren rot-grüner Gesundheitspolitik konnte diese noch als grundsätzlich ambivalent bezeichnet werden: Zum einen setzte sich die Regierung vom Politikmuster der zweiten Hälfte der Ära Seehofer ab, die sich vermittels der Installation von Marktmechanismen und einer einseitigen Abwälzung der Kosten auf die Patienten einer Steuerung der Versorgung zu entledigen suchte.[3] Andererseits verblüffte die Kontinuität, die besonders in der Orientierung am Grundsatz der Beitragsstabilität ersichtlich wurde und so die Gesundheitspolitik strikt den Imperativen der Wirtschaftspolitik unterordnete, statt Alternativen in Erwägung zu ziehen und z.B. die Finanzierung der GKV an die Dynamik des Bruttoinlandsprodukts zu koppeln.[4] Das Volumen der strikt budgetierten Ausgaben insbesondere für Arzneimittel bemisst sich mit der Koppelung an die Entwicklung der Löhne und Gehälter so an einer kritischen volkswirtschaftlichen Bestimmungsgröße, nicht an einem bestimmten zu ermittelnden gesundheitlichen Versorgungsbedarf. Die Folgen der Budgetierung sollten denn sowohl Kritiker auf den Plan rufen, die im Namen von Patienten vor der Gefährdung der medizinisch notwendigen Versorgung warnten, als auch diejenigen alarmieren, denen als Erbringer von Gesundheitsleistungen bei Überschreitung ihrer verordneten Budgets Rückforderungen in einer maximalen Höhe von 5% angedroht wurden.[5]
Begrüßten die Gewerkschaften und die Spitzenverbände der Krankenkassen zunächst einhellig die ersten gesundheitspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung allerdings unter der Maßgabe, dass sie solide gegenfinanziert würden , wandten sich die Arbeitgeberverbände, die Verbände der Pharmazeutischen Industrie wie auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der Spitzenverband der Apotheker sofort ebenso einhellig gegen die rot-grünen Vorhaben. Die Arbeitgeber fürchteten Beitragssatzerhöhungen, die mächtige Lobby der Pharmaindustrie protestierte gegen die geplante Positivliste für Arzneimittel. Die Ärzteverbände schreckte vor allem das Arzneimittelbudget. Bereits Ende 1998 kam es zum sog. Ärztestreik, der von den Krankenkassen, dem DGB und der VdK als unverantwortlich kritisiert wurde.
Das eigentliche, anspruchsvolle Reformvorhaben der Regierung wurde mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 angestrebt. In Folge des Widerstands der Opposition und verschiedener Verbände sowie des frappierend raschen neoliberalen Kurswechsels der Regierung in Richtung einer »neuen Mitte« wurde lediglich der modifizierte Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform 2000 auf den Weg gebracht. Man koppelte den gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich (RSA) in der GKV aus, der ebenfalls zum Beginn des Jahres 2000 in Kraft trat.
Zwei Problemkomplexe der Gesundheitspolitik standen zunächst im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen: Die Finanzierung der GKV unter der Maßgabe von Budgetierungen und unter den Bedingungen des verschärften Kassenwettbewerbs sowie der umstrittene Risikostrukturausgleich. Hinter allen politischen Maßnahmen schwelte von Beginn an zudem der Konflikt zwischen dem Anspruch einer umfassenden medizinischen Versorgung und dem Verweis verschiedener Interessengruppen auf ihre Gefährdung bzw. ihre nicht mehr aufrechtzuerhaltende Finanzierung durch das herkömmliche System. So verstärkten sich unter Rot-Grün die marktradikalen Forderungen nach Privatisierung und politisch ungeschützter Inwertsetzung in der Gesundheitspolitik.
Bereits kurz nach der Einführung der rot-grünen Gesundheitsreform setzte sich die Debatte über die Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen fort. So meldeten z.B. die Privatversicherer im Januar, dass ihre Leistungsausgaben pro Kopf in den letzten zehn Jahren um 72% und damit stärker als in der GKV (plus 44%) gestiegen wären. (FAZ, 3.1.2000) Auch Ärzteverbände protestierten und kündigten eine »Politisierung der Wartezimmer« an: Für die Ärzte sei die Grenze des Zumutbaren erreicht (FAZ, 7.1.2000), da die finanzielle Begrenzung der Leistungen durch Budgetierungen unannehmbar wäre. Stattdessen wurden altbekannte sozialversicherungsfeindliche Forderungen nach der Stärkung der Eigenverantwortung des Patienten laut: Eine »sozialverträgliche Selbstbeteiligung« sowie die Einführung von Wahltarifen in der GKV seien notwendig. Nicht jeder Patient müsse schließlich jedes Risiko versichern; bei Erkältungskrankheiten oder Zahnersatz könnten die Patienten stärker belastet werden.
Auch von Seiten der gesetzlichen Krankenkassen wurde schnell deutlich, dass die rot-grüne Gesundheitspolitik alles andere als friktionslos verlaufen würde: Seit 1997 beschwerten sich bei den gesetzlichen Kassen zunehmend Patienten über ihre Behandlungen. (FAZ, 8.1.2000) Schon in den letzten Jahren der Kohl-Regierung hatten die Auseinandersetzungen und Konflikte in der Gesundheitspolitik zugenommen; hinzutraten die Proteste von ärztlichen Institutionen, Krankenhausträgern und Pharmaindustrie.
Schon kurze Zeit nach dem Inkrafttreten der Reform des Gesundheitswesens drohten so bereits wieder die Kassenärzte mit Einschränkungen ihrer Leistungen, wenn es bei der sektoralen Budgetierung von Honoraren und Leistungen bliebe Budgetierung bedeute daher Rationierung. (FAZ, 13.1.2000) Ärztevertreter drohten mit Streikmaßnahmen und forderten eine Erhöhung der Arzneimittelbudgets, um eine adäquate Versorgung der Patienten sicherzustellen. Sprecher der KBV nannten ihr Ziel der Abschaffung der gesetzlich zugeteilten Budgets für Honorare und Arzneimittel. Stattdessen solle anhand der ärztlichen Leitlinien ein »Morbiditätsindex« errechnet werden, um so den finanziellen Bedarf der Gesundheitsversorgung in Deutschland festzustellen. (FR, 15.1.2000)
Der Gesundheitsministerin Fischer wurde vom 1. Vorsitzenden des Marburger Bundes, Frank Montgomery, zwar zugestanden, dass sie Kernpunkte grüner Gesundheitspolitik wie Patientenberatung, Förderung von Prävention, Selbsthilfe sowie Soziotherapie durchgesetzt habe, das Reformgesetz jedoch keine Antworten auf grundlegende Fragen wie die Finanzierung des medizinischen Fortschritts und die demographische Entwicklung gebe. Der GKV wurden mittelfristig akute Finanzprobleme prognostiziert und innerhalb von kurzer Zeit werde wieder grundsätzlich über die Gesundheitspolitik gestritten. (FAZ, 26.1.2000)
In der Tat wurde bereits im Februar 2000 gemeldet, dass die gesetzliche Krankenversicherung für das Jahr 2000 Mehrbelastungen von 2 Mrd. DM erwarte, die nicht gegenfinanziert wären. Vertreter der Kassen monierten, dass die Gesundheitsreform 2000 kein einziges der bestehenden Strukturproblem löse. Stattdessen forderte man parteiübergreifende, konsensfähige Lösungen. Die Ärzte rief man zur Ruhe; rund 235 Mrd. DM Leistungsausgaben in der GKV würden im Gegensatz zu gängigen Argumentationen der Ärztevertreter ausreichen, um die medizinische Versorgung der Versicherten zu gewährleisten die Budgets wären hingegen gegenüber 1999 um 1,43% angestiegen. Auf den Prüfstand der Bundesregierung gehöre vor allem der Risikostrukturausgleich.
Auf dem Prüfstand des Landesgerichts Düsseldorf fiel hingegen schon vorher das »Gemeinsame Aktionsprogramm zur Einhaltung des Arznei- und Heilmittelbudgets 1999« durch. Es sollte die Überschreitung der staatlich festgesetzten Arzneimittelbudgets vermeiden und Ärzte dazu anhalten, preiswertere Generika statt überteuerter Marken-Medikamente zu verschreiben. So versprach man sich die Einhaltung des Budgets von höchstens 39 Mrd. DM für Arzneimittel im Jahr 1999. Doch hatte die Pharmaindustrie sofort dagegen protestiert: Investitionen in der Arzneimittelbranche wären gefährdet.
Ministerin Andrea Fischer kündigte im Februar an, dass im Sommer 2000 eine neue Negativliste für Medikamente eingeführt werde. (FAZ, 2.2.2000) Die Erstellung einer Positivliste werde hingegen noch einige Zeit dauern. Das Bundesgesundheitsministerium zeigte sich über die weiter ansteigenden Arzneimittelkosten besorgt; die Ausgabenentwicklung wäre 1998 und 1999 stark überproportional gewesen. Dies liege in erster Linie an der Pharmaindustrie, die teure, aber nicht richtig wirksame Mittel auf den Markt werfe sowie an Ärzten, die »Marketing mit dem Rezeptblock« betrieben. Durch den sinnvollen Einsatz von Generika ließen sich 2,5 Mrd. DM zusätzlich einsparen. Das Ministerium verteidigte im Übrigen strikt den gesetzlich vorgesehenen Kollektiv-Regress bei Budget-Überschreitungen, da vorrangig diejenigen Ärzte belangt werden sollten, die nachweislich unwirtschaftlich mit dem Rezeptblock umgingen. Der Bundesverband der deutschen Pharmazeutischen Industrie (BPI) hielt dagegen, dass keinerlei Mengenausweitung der ärztlichen Verordnungen zu erkennen seien. Vor allem kritisierte die Pharmalobby die sektoralen Arzneimittelbudgets. Diese sollten durch »mehr Wettbewerb« und differenzierte, indikationsorientierte Richtgrößen ersetzt werden. (FAZ, 23.2.2000)
Entgegen den Erwartungen von Ministerin Fischer schloss die GKV das Jahr 1999 mit einem Defizit in Höhe von 900 Millionen DM ab. Dennoch betonten die meisten Kassen, dass sie ihre Beitragssätze stabil halten wollten. Allerdings wurde die Diskussion über den Risikostrukturausgleich weiterhin angeheizt. So kündigte das Gesundheitsministerium an, eine Expertenkommission einzusetzen, die den RSA überprüfen solle.
Gesundheitsministerin Fischer selbst rechnete noch im März 2000 mit stabilen Krankenkassenbeiträgen (FR, 4.3.2000). Die Gegenfinanzierung der Gesundheitsreform sei solide kalkuliert worden. Allerdings sei der Zuwachs bei den Arzneimittelkosten von 8,4% die problematischste Entwicklung unter den Kostenposten eine jedoch, die vom Engagement der Kassenärztlichen Vereinigungen beeinflusst werde. Fischer resümierte insgesamt eine günstige Entwicklung der GKV und eine äußerst gute Ausgangsbasis für das Jahr 2000, allerdings müssten die Voraussetzungen zur Sicherung eines stabilen Niveaus der Beitragssätze und stabiler Finanzgrundlagen innerhalb der GKV erfüllt werden. Hierzu zählten die konsequente Beachtung der Arznei- und Heilmittelbudgets, die rechtliche Absicherung der Festbeträge und eine Erweiterung der Negativliste für Arzneimittel. An diesen Fixpunkten der rot-grünen Gesundheitspolitik werde festgehalten, hielt Fischer den politischen Gegnern und verbandsinternen Kritikern entgegen. Hingegen sei die im Umbruch befindliche Kassenlandschaft eine der großen zukünftigen Herausforderungen der Politik. (FAZ, 4.3.2000)
Etwa ab März 2000 mehrten sich die Stimmen auch wohlmeinender Kommentatoren, dass sich die grüne Ministerin auf der Suche nach einer Lösung des Ziels der Kostensenkung zunehmend in den überall lauernden Schlingen des von Interessengruppen umkämpften Dschungels der Gesundheitspolitik verheddere. Mit der geplanten Negativliste für Arzneien knüpfe sie an die abgestumpften Instrumente ihrer Vorgänger aus der Union an, statt mit neuen Instrumenten frische Schneisen in das alte Dickicht zu schlagen. (SZ, 7.3.2000)
Zu einem Zeitpunkt, als die Unruhe an der Ärztefront zunahm, starteten Gesundheitspolitiker der SPD ohne Hinzuziehung Fischers Gespräche mit Ärztevertretern. Dies konnte man als weitere Schwächung der grünen Ministerin interpretieren. (FR, 13.3.2000) Rudolf Dreßler betonte, die SPD müsse selbst entscheiden, mit wem sie diskutiere und begrüßte die Wiederaufnahme des Dialogs mit den Ärzten, der zuletzt gestört gewesen wäre. Über Forderungen von Seiten der Ärzte, die Arzneibudgets durch individuelle Richtgrößen abzulösen und lebensnotwendige Präparate ganz aus der Berechnung herauszunehmen, könne man später gemeinsam diskutieren.
Während Rot-Grün von marktliberaler Seite vorgeworfen wurde, den Leistungskatalog noch auszuweiten und so die Ausgaben explodieren zu lassen, statt für einen Regelleistungskatalog und mehr Kassenwettbewerb zu sorgen (FAZ, 14.3.2000), riefen andere die Ministerin zur Standhaftigkeit bei den Regressen auf, die gegen die Lobbyisten und die politische Opposition in die Tat umgesetzt werden müssten. So wies z.B. die Stiftung Warentest darauf hin, dass jedes vierte verordnete Medikament in der BRD wirkungslos, ungeeignet oder gar schädlich sei. (FR, 16.3.2000) An dieser Entwicklung trügen die Pharmaindustrie und die Ärzte gleichermaßen die Schuld.
Bundeskanzler Schröder rügte derweil gemeinsam mit der SPD-Gesundheitspolitikerin Schaich-Walch den Vorstoß der Ministerin Fischer, nicht berufstätige Ehegatten sollten nur noch beitragsfrei mitversichert sein können, wenn sie Kinder erziehen oder Angehörige pflegen. Außerdem hatte Fischer überraschenderweise vorgeschlagen, Miet- und Aktiengewinne mit Kassenbeiträgen zu belasten. Schröder widersprach seiner Ministerin scharf und erklärte, es gäbe keine derartigen Pläne der Bundesregierung. (FAZ, 7.4.2000) Fischer verteidigte ihre Ideen als erste Denkanstöße in einer fortzusetzenden Debatte. (FR, 8.4.2000) Sie wolle schließlich die Einnahmen der GKV sichern, die Ausgabendisziplin sei davon nicht berührt.
Ministerin Fischer hatte mit ihrem Vorstoß jedoch politischen Wirbel verursacht. Aus der SPD und der Partei der Grünen wurde die Frage laut, warum ein falsches Signal zur falschen Zeit erfolge und warum sich die ohnehin nunmehr bereits umstrittene Ministerin freiwillig zur Zielscheibe mache. (FR, 13.4.2000) Fischer konterte, sie wolle nur eine neue, notwendige Debatte anstoßen. Grundsätzlich wären schließlich die sinkende Lohnquote und die Alterung der Gesellschaft ein schwerwiegendes Problem für die GKV. Unterstützt wurden Fischers Vorschläge indes vom Bündnis für Gesundheit mit seinen 38 Verbänden der Gesundheitsversorgung.
Trotz der tagespolitischen Friktionen konnte man Fischers Ausgangsposition zu diesem Zeitpunkt noch als politisch erträglich charakterisieren, denn die SPD setzte derzeit ganz auf die Ausgabendeckelung durch Budgetierung. (FR, 27.5.2000) Zudem wechselte Fischers sozialdemokratischer Gegenspieler Rudolf Dreßler als Botschafter nach Israel, eine neue dominante Nachfolgerpersönlichkeit aus der SPD war nicht in Sicht. Die CDU war noch durch den Spendenskandal gebeutelt und ihre Strategie in der Gesundheitspolitik schwankte zwischen populistischer Stimmungsmache und dem Versuch ernsthafter Sachpolitik à la Seehofer. Für die SPD äußerte sich Gudrun Schaich-Walch, die die grundsätzliche Einigkeit ihrer Partei mit der grünen Gesundheitspolitikerin erklärte: Die Koalition suche weiterhin nach einer dritten Lösung zwischen Staat und Markt, keinesfalls wolle man jedoch ein Gesundheitssystem mit höherer staatlicher Regulierung. (FR, 11.4.2000)
Der Druck auf die Ministerin ging Mitte 2000 denn wiederum stark von den Krankenkassen und Ärzten aus, die gegen Fischers Arzneipreisreform mobil machten. Fachleute der Regierung signalisierten so ihre Verhandlungsbereitschaft mit den Kassenvertretern. Diese kündigten im April spürbar höhere Beiträge für das Jahr 2001 an. Fischer befand sich gerade im Urlaub, als die Kassen ihr »ein schönes Osterei ins Nest legten« (FR, 18.4.2000): Steigende Lohnnebenkosten wären schließlich das letzte, was die Schröder-Regierung im Wahljahr 2002 gebrauchen könne. Derweil riefen die Krankenkassen nach Mindest-Beiträgen von mindestens 12,7%, um sich der unfairen Konkurrenz der Betriebskrankenkassen zu erwehren. (ebd.) Ministerin Fischer signalisierte, sie wolle hier zunächst nicht eingreifen, sondern erst das im Frühjahr 2001 erwartete Gutachten zur Wirkung des Risikostrukturausgleichs zwischen den Versicherungen abwarten. Dies sahen wiederum neoliberale Kommentatoren als Chance für die Betriebskrankenkassen, sich im Kassenwettbewerb durchzusetzen und ihre Effizienz gegenüber der GKV unter Beweis zu stellen. (FAZ, 18.4.2000) Auch Befürworter einer solidarischen Gesundheitspolitik konnten befürchten, dass die Ankündigungen höherer Beiträge, von Mindestabgaben und Verboten letztlich den Privaten Kassen nutze, in die zahlungskräftige Mitglieder der GKV flüchten würden. Den Mindestbeitrag lehnte die Bundesregierung jedoch am 19.4.2000 ab. Teile der SPD hingegen sahen Grund zum Eingriff: man solle ein Neugründungsverbot für BKKs erlassen. (FR, 19.4.2000)
Von Seiten der Grünen war zu hören, dass die Kassen zur Unzeit eine Diskussion angestrengt hätten mit den Beitragssätzen habe man keine Probleme. So sei man auch gegen Mindestbeiträge: Entweder wolle man mehr Wettbewerb oder staatlich geregelte Beiträge, beides zusammen gehe nicht. (FR, 19.4.2000) Gegen die Mindestbeiträge, für die SPD-Politiker eintraten, polemisierten auch Seehofer (CSU) und Hundt (Präsident der Arbeitgeberverbände). Letzterer plädierte gar für einen Mindestbeitrag der Arbeitgeber, der den Wettbewerb und den Wirtschaftsstandort Deutschland in der globalen Konkurrenz stärke. Der DGB erklärte demgegenüber, diese Vorschläge gefährdeten die paritätische und solidarische Versicherungsform. Ursula Engelen-Kefer schlug der Ministerin Fischer dagegen vor, dass der Wechsel in andere Kassen zeitlich befristet verboten werden solle, um Wanderungen zu den BKKs zu verhindern. (FAZ, 22.4.2000)
Gegen die Ministerin wandte sich die Lobby der Pharmaindustrie und der Ärzteschaft; der Kassenwettbewerb müsse dringend reformiert werden. Während die Pharmalobby weiterhin massiv Stimmung gegen die Arzneimittel-Festbeträge machte und gar von Bundeskanzler Schröder Zusagen über eine Änderung des Arzneimittelgesetzes zu Gunsten der Industrie erhielt (FR, 11.5.2000), forderte die KBV die schnelle Überarbeitung des Risikostrukturausgleichs, um das »Rosinenpicken« abzumildern. Auf dem Ärztetag 2000 in Köln warnte Ministerin Fischer jedoch die Ärzte vor jeder Politisierung der Wartezimmer und verteidigte das Solidarsystem. (FAZ, 10.5.2000) Eine Kassenstudie der AOK gab der Ministerin Recht; aus ihr ging hervor, dass die Ärzte bei Arzneien durch die Verschreibung von Generika noch 7,4 Milliarden DM sparen könnten, ohne dass die medizinische Qualität leide. (FR, 27.5.2000)
Die Krankenkassen schätzten Mitte 2000, dass die Ärzte ihre Budgets im vergangenen Jahr um 410 Millionen DM überzogen hätten und auch in der laufenden Periode der vorgegebene Rahmen deutlich gesprengt werden würde. Nach Angaben der KBV handele es sich gar um einen Betrag von 785 Millionen DM von dem die Ärzte rund 477 Millionen DM zurückzahlen müssten. Die Kassenärzte reagierten darauf mit einer Ankündigung der Rationierung ihrer Leistungen um 30%, werde das Budget nicht erhöht. (FR, 7.6.2000) Die Privaten Versicherungen hingegen lobten die rot-grüne Regierung dafür, dass sie die Wahlfreiheit zur PKV nicht abgeschafft habe. (FR, 15.6.2000) Zudem meldete die PKV-Lobby, dass ihre Einnahmen stärker ausfielen als ihre Ausgaben und dass man mittlerweile 7,4 Mio. Vollversicherte betreue. Die GKV müsse schnellstens dem Wettbewerb ausgesetzt werden. (FR, 27.6.2000)
Die AOK betonte hingegen weiterhin, dass sie gegen Grund- und Wahlleistungen eintrete und weiter für das Solidarprinzip streiten werde. (FR, 17.6.2000). Zudem protestierte die AOK gegen rot-grüne Kürzungspläne bei den vom Bund bezahlten Kassenbeiträgen für Arbeitslose und warnten vor einem Anstieg der Beiträge auf breiter Front. Gesundheitsministerin Fischer widersprach der Kritik, die Kassen könnten den Einnahmeausfall von 1,2 Milliarden DM verkraften. Sie verwies zu diesem Zeitpunkt auf die anspringende Konjunktur und die sinkenden Arbeitslosenzahlen. Union und FDP, Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken und Sozialverbände kritisierten hingegen den »faulen Kompromiss« zwischen Finanzminister Eichel und Arbeitsminister Riester.
Insgesamt war zu diesem Zeitpunkt bereits zu registrieren, dass Gesundheitsministerin Fischer aus ihrer Partei seit Beginn der Legislaturperiode relativ wenig Unterstützung und Rückendeckung bekam. Es deutete sich an, dass sie dieser jedoch vermehrt bedürfen sollte. Man konnte der Ministerin im August prophezeien, dass sie bis zur Wahl »noch manch bittere Pille schlucken« müsse und weiterhin vor großen Problemen stehe: Die KBV wollte die Rationierung von Medikamenten als unausweichlich darstellen. Vieles deutete bereits darauf hin, dass die zweite Hälfte der Amtszeit für Fischer noch mehr schwerwiegende Probleme bringen sollte als die keineswegs reibungslose erste Periode. Die Probleme bestanden zu diesem Zeitpunkt vornehmlich in der Finanzlage der Pflegekassen, dem Handlungsbedarf bei der GKV, dem Karlsruher Urteil zu den Einmalzahlungen und der zunehmenden Verfeindung der Kassen untereinander. Fischer brauchte zudem für die Reform des RSA die Zustimmung des Bundesrats. Weiterhin zeichnete sich ab, dass die Union die Gesundheitspolitik zu einem der zentralen Themen des Bundestagswahlkampfs 2002 machen würde.
Auch der Streit um das Kassengeld wurde schärfer: Die Kassen-Verbände forderten eine Nachzahlung für die Versicherten, die keinen Widerspruch einlegten. (FR, 26.8.2000) Das Gesundheitsministerium kritisierte diese Forderung und nannte die öffentlich geäußerten Vorschläge der Kassen »Augenwischerei«. Ministerin Fischer wollte trotz der Kritik der Gewerkschaften und Teilen der Krankenkassen keinen generellen Nachschlag zu den seit 1997 gezahlten Krankengeldzahlungen bewilligen: »Wir bleiben bei unserem Gesetzesvorhaben«. (ebd.)
Auch die Pharmaindustrie klagte wiederholt über einen sinkenden Marktanteil im Inland um 40,5% und kündigte an, in Brüssel Beschwerde gegen die geplante Positivliste zum 1. Juli 2001 einzulegen. (FAZ, 1.9.2000) Sie forderte generell mehr Eigenverantwortung und Steuerung durch finanzielle Anreize für Versicherte.
Ministerin Fischer wies diese Kritik zurück und verteidigte ihre Gesundheitsreform; die Positivliste gebe dem Arzt ein Instrument zur rationalen Arzneimitteltherapie an die Hand, an den Budgets führe kein Weg vorbei, solange es nicht bessere Steuerungsinstrumente gebe. (FAZ, 20.9.2000) Die Positivliste wurde am 18.9.2000 dem Bundesrat vorgelegt. Sie enthielt über 400 Arzneistoffe, die von den Kassen zukünftig nicht mehr abgerechnet werden durften.
Ende September wurde dann gemeldet, dass die Budgets von elf der 23 Kassenärztlichen Vereinigungen überschritten seien in einem Volumen von 917 Millionen DM. Der tatsächliche Ausgleichsbedarf betrage 588 Millionen DM. Die ostdeutschen Ärzte drohten wiederum mit Streiks, um auf ihre finanzielle Situation aufmerksam zu machen. Fischer kritisierte diese Aktionen scharf, da die Konflikte um Vergütung in der Ärzteschaft selbst behebbar wären und nicht auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden dürften. (FAZ, 26.9.2000) Die KBV riet den Ärzten, keine Kassenrezepte bei Bagatellkrankheiten auszustellen, um die Budgets nicht weiter zu überziehen. Ministerin Fischer hingegen erklärte, eine Ablösung des Budgets durch Richtgrößen komme für sie weiterhin nicht in Frage, man habe nunmehr aber in Gesprächen mit der KBV über die Prüfung von Vorschlägen diskutiert, wie man die Ärzte zu einem wirtschaftlicherem Vorgehen mit dem Rezeptblock animieren könne. (FR, 29.9.2000)
Zum gleichen Zeitpunkt kam es innerhalb der Koalition zum Streit über das Krankenkassenurteil; die Grünen wollten pflichtversicherte Rentner wie Freiwillige belasten, die SPD präferierte die Streichung von Abgaben auf Kapitaleinkünfte. Während Ministerin Fischer erklärte, die Zeit dränge nicht und man befände sich in Gesprächen, drückte die SPD ihre Sorge über die angespannte Finanzlage der Kassen aus; ein Weg zur Vermeidung der Einnahmeeinbußen müsse unbedingt gefunden werden, so Gudrun Schaich-Walch. (ebd.)
Nunmehr war die Ministerin in einer schwierigeren politischen Situation als zuvor, da sie noch selbst im Frühjahr für eine Verbreiterung der Bemessungsabgabe plädiert hatte und dafür von Bundeskanzler Schröder gerügt wurde. Keines der gravierenden Strukturprobleme im Gesundheitswesen erschien den politischen Akteuren derzeit gelöst.
Grundsätzlich einleuchtend war die Position, die z.B. der Vorsitzende des VDÄÄ, Winfried Beck, im Oktober 2000 verdeutlichte: Es gehe nicht um das vermeintlich zu wenige Geld im Gesundheitswesen, sondern um dessen sinnvolle Verteilung. Es müsse rationaler verordnet werden und es solle mehr Leitlinien, am besten gar eine Qualitätsoffensive geben. Auch könne durchaus mehr Wettbewerb durch den Staat zugelassen werden. Ministerin Fischer sei generell den richtigen Weg gegangen, jedoch müsse sie noch viel resoluter gegenüber den Ärzteverbänden ihre Position aufrechterhalten, dass mit dem vorhandenen Geld gewirtschaftet werden könne und dass es Sache der Ärzteschaft sei, eine Qualitätsoffensive einzuleiten. Wenn Fischer mehr Geld ins System pumpe, dann entfalle der Druck dafür. (FR, 2./3.10.2000)
Im Oktober deutete sich kurzfristig eine Entlastung des ökonomischen Drucks an: Die Ersatzkassen signalisierten stabile Beiträge für 2001. (FAZ, 9.10.2000) Die größte Sorge der GKV war jedoch weiterhin die Abwanderung von Versicherten zur BKK, für die sich Risikoselektion lohne. (ebd.)
Im Oktober 2000 geriet die grüne Ministerin offensichtlich verstärkt innerhalb der eigenen Partei unter Druck. Die einsetzenden Personaldebatten der Grünen betrafen auch ihre Person stark; es wurde moniert, dass ihr ein großes und leicht zu vermittelndes Thema fehle, welches sie ihrer Partei als erfolgversprechendes Argument für den Wahlkampf an die Hand geben könne. Das Interesse in Fraktion und Partei an Einzelheiten der Gesundheitspolitik erschien jedoch eher gering, als dass kleinere Erfolge durch die Ministerin vermittelt werden konnten. In der FAZ kommentierte man, dass es sich bei der Kritik an Andrea Fischer aus der eigenen Partei eher um beginnende Nervosität und nicht um ein Zeichen einer bevorstehenden Absetzung der Ministerin handele. (FAZ, 14.10.2000) Der grüne Parteirat beschloss Ende Oktober, dass sich die Grünen zukünftig intensiver mit der Gesundheitspolitik beschäftigen würden und diese auch im Mittelpunkt der Parteiarbeit stehen solle. Zudem wollte man der Ministerin Fischer zukünftig den Rücken stärken. Schließlich wären die Grünen grundsätzlich für eine Stärkung der Prävention, der Effizienz und der Wirtschaftlichkeit sowie für den Erhalt und die Modernisierung der solidarisch finanzierten Krankenversicherung. (ebd.) Anfang November wurde ein Grundsatzpapier der Grünen publik, in dem u.a. eine Ausweitung des Beitragszahlerkreises gefordert und eine Durchforstung des Leistungskatalogs der Kassen angedroht wurde. Man forderte die Anhebung der Pflichtgrenze und eine Einbeziehung der Beamten und aller Einkommensarten. Wettbewerbliche Strukturen sollten grundsätzlich gefördert werden. Im Leistungskatalog der GKV solle man alles Überflüssige streichen und Wahlangebote oberhalb der Standardsicherung anbieten. Für das Verhältnis zur SPD enthielt das Papier reichlich Sprengstoff; so etwa die Forderung, die Kürzung der Arbeitslosenbeiträge zur Krankenversicherung zurückzunehmen.
Zwar passierte die Negativliste Fischers am 20.10. den Bundesrat die Ministerin erwartete dadurch Einsparungen von 360 Mio. DM. (FR, 21.10.2000) Doch sogleich kündigte die Pharmaindustrie an, sie rechne hierdurch mit Umsatzeinbußen von mindestens 200 Mio. DM pro Jahr. (FAZ, 21.10.2000) Im Osten Deutschlands streikten derweil Ende Oktober mehrere tausend Ärzte gegen die ihrer Ansicht nach zu geringe Honorierung ihrer Leistungen.
Gegen Ende des Jahres 2000 erhielt Andrea Fischer zwar auf der einen Seite aus der eigenen Partei stärkere Unterstützung, auf der anderen Seite hatten sich jedoch die politischen Rahmenbedingungen der Ministerin gravierend verschlechtert: Die Ärzte streikten, die Kassen rüsteten zur Schlacht um den milliardenschweren Branchen-Ausgleichstopf und die grüne Landesministerin Bärbel Höhn widersprach dem Kurs der Bundesministerin in der erhitzten BSE-Debatte. Die SPD hingegen schien bei den heiklen Themen wie der Belastung der Rentner-Nebeneinkünfte mit Kassenbeiträgen auf einen populistischen Kurs einzuschwenken, während sie grundsätzlich bereits eine andere, verstärkt neoliberale Gesundheitspolitik zu planen schien. So reagierte die SPD ablehnend gegenüber den Vorstößen der Grünen. (FR, 8.11.2000) Zwar gebe es Übereinstimmungen in der Sache, aber an einer Kommission zur Vorbereitung einer neuen Gesundheitsreform wollte sich die SPD nicht beteiligen die Partei schreibe ihr eigenes Grundsatzprogramm und verhandele über Koalitionspolitik nach der nächsten Wahl. (FR, 8.11.2000) Die Gesundheitsministerin erschien bereits geschwächt sie selbst beklagte die mangelnde Unterstützung aus der eigenen Partei in der Vergangenheit: »Wenn eine Partei drei Ressorts hat, sich aber nur um zwei kümmert, dann ist das ein Problem.« (ebd.) Innerhalb der Führung der SPD galt die Ministerin spätestens jetzt als politisch angeschlagen; (FR, 16.11.2000) die Unterstützung durch die eigene Partei sei nunmehr sehr überfällig, erklärte Andrea Fischer, deren Grundton politische Kommentatoren bereits als resignativ bezeichneten. (ebd.)
Im Dezember machten die Kassenärzte wiederum gegen die Budgetierung Front, die KBV kündigte weitere Kampfmaßnahmen an. Aber die Regierung erklärte, sie bleibe bei den Arzneibudgets. (FAZ, 8.12.2000) Fischer erklärte zu Recht, das Problem sei nicht der Geldmangel im Gesundheitswesen, sondern die falsche Verteilung. Die Konflikte verschärften sich: Der Vorsitzende der KBV, Richter-Reichhelm plante für den 18. Januar 2001 ein Gespräch mit Bundeskanzler Schröder, an dem auch der Präsident der Bundesärztekammer, Hoppe, teilnehmen wollte. Ziel sollte sein, Schröder von der Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Gesundheitswesens zu überzeugen. (FAZ, 22.12.2000). Man rief seitens der KBV und der Ärztekammer zu den parteiübergreifenden Konsensgesprächen am Runden Tisch auf und zeigte sich zuversichtlich, dass die Politik sich nun wieder stärker mit den Problemen des Gesundheitswesens befassen würde. Sowohl die Regierung als auch die Opposition registrierten offensichtlich, dass die Gesundheitspolitik ein Wahlkampfthema werden könne.
Im Dezember wurde gemeldet, dass die Krankenkassen wider Erwarten auf schwarze Zahlen zusteuerten und dass Ministerin Fischer vorerst mit stabilen Beiträgen rechne. So sei die Budgetierung nicht an allem schuld, wie Fischer erklärte und die Kritik der Opposition scharf zurückwies. (FR, 1.12.2000) Zum gleichen Zeitpunkt eskalierte die BSE-Berichterstattung. Diese begann in hohem Maße die Debatte über andere Bestandteile der Gesundheitspolitik in der Öffentlichkeit zu überlagern. Innerhalb der Gesundheitspolitik verschärften sich die Konflikte zudem noch: Die KBV ließ die Budget-Gespräche mit den Spitzenverbänden platzen. (FR, 14.12.2000) In der FAZ wurde gar der »Krieg der Ärzte« kommentiert und über das dramatisch verschlechterte Verhältnis Fischers zur KBV berichtet: Die Budgets könnten in Zukunft nicht verteidigt werden. (FAZ, 15.12.2000) Fischer hingegen wolle die KBV zu den Budget-Gesprächen zwingen und denke über eine Einschränkung der Selbstverwaltung der Kassenärzte nach. (ebd.)
Es hatte sich also ein hohes Konfliktpotenzial zusammengeballt, welches für die Ministerin immer bedrohlichere Züge annahm. Als Andrea Fischer auch noch öffentlichkeitswirksam von Bärbel Höhn wegen ihres angeblich zu laxen Krisenmanagements in der BSE-Politik kritisiert wurde und sich die Angriffe auf das Bundesgesundheitsministerium häuften, war zu Beginn des Jahres 2001 der Zeitpunkt der Überlastung des grünen Gesundheitsministeriums gekommen:
Am 10. Januar 2001 wurde der Rücktritt Fischers und des Landwirtschaftsministers Funke (SPD) gemeldet: »Die BSE-Krise erschütterte die Bundesregierung. Staatssekretär Wille und Bärbel Höhn als Nachfolger?« (FAZ, 10.1.2001)
In der SPD hatte man bereits am Wochenende zuvor mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen, dass Rezzo Schlauch von den Grünen ein Bundesministerium für Verbraucherschutz forderte und so von Frau Fischer abrückte. Fischer erklärte zu ihrem Rücktritt, im Zuge der BSE-Krise sei ihre Position so geschwächt worden, dass sie auch in der Gesundheitspolitik nicht mehr wirken könne. Das Vertrauen der Bürger in die BSE-Politik sei nicht mehr gegeben, das müsse sie erkennen und die entsprechenden persönlichen Konsequenzen ziehen. Sie bedauere alle Fehler beim Verbraucherschutz; notwendig sei ein neuer Ansatz. Sie wisse nicht, wer ihr Nachfolger werde und ob die Grünen das Ressort überhaupt behalten wollten. Allerdings sei es bizarr, dass ausgerechnet eine Politikerin der Grünen wegen der Landwirtschaftspolitik als erste zurücktreten müsse. Gern hätte sie ihr Amt weitergeführt. Sie habe jedoch in der Gesundheitspolitik die erschreckende Erfahrung gemacht, dass wirtschaftliche Interessen das Gemeinwohl überlagerten. (FR, 10.1.2001)
Im Januar 2001 wurde Ulla Schmidt (SPD) als neue Bundesgesundheitsministerin präsentiert. Sowohl in der SPD als auch bei den Krankenkassen hieß es zu Beginn, an Äußerungen zur Gesundheitspolitik der Frau Schmidt könne man sich nicht erinnern. Ratlosigkeit herrschte auch bei vielen Lobbyisten. (FR, 11.1.2001) Bundeskanzler Schröder führte aus, wichtig sei zukünftig die Reform des RSA und die Stabilisierung der Beitragseinnahmen. Dies würden auch die kommenden Probleme für Schmidt sein, so die politischen Kommentatoren. Denn die Hoffnung, nach dem Scheitern Andrea Fischers würde nun Ruhe in der Gesundheitspolitik einziehen, sei trügerisch. Schließlich stand erst das Gutachten zum RSA an, danach das neue Preissystem in den Krankenhäusern. Ebenso explosiv war die Frage der Arzneimittelbudgets und der Protest der Ärzte. Ulla Schmidt wurde zum Amtsantritt nachgesagt, sie sei durchsetzungs- und gleichzeitig dialogfähiger als ihre Vorgängerin. In der Frage der Humangenetik würde sie sich weniger sperrig erweisen als Fischer und die Konflikte mit der Industrie besser entschärfen können als die grüne Gesundheitsministerin.
Der konkrete politische Anlass für den Rücktritt Andrea Fischers war zweifelsohne das mangelnde Krisenmanagement ihres Ministeriums in der BSE-Krise. Unter der Oberfläche der Tagespolitik war die grüne Ministerin jedoch schon spätestens seit dem Herbst 2000 immer stärker unter Druck geraten: Innerhalb des Gesundheitswesens stand sie zunehmend zwischen der Ärztelobby und der Pharmaindustrie auf der einen, der GKV auf der anderen Seite. Ihre insbesondere vom größeren Koalitionspartner SPD dringlich erwartete Vermittlungsfunktion konnte sie aufgrund der offenliegenden und durch die abgespeckte Gesundheitsreform 2000 lediglich notdürftig kaschierten strukturellen politischen Interessenkonflikte im Gesundheitssystem kaum gerecht werden. So nahm oberhalb der Ebene des unruhigen Gesundheitswesens mit seinem komplex verschachtelten Interessengeflecht auch der politische Druck aus den Reihen der Koalition auf Fischer und die Politikgestaltung und -vermittlung ihres Ministeriums zu. Zwischen den Experten der Gesundheitspolitik innerhalb der SPD und ihrer zunehmend marktorientierte Rezepte favorisierenden Führungsgruppe stand sie immer stärker auf verlorenem Posten. Hinzu kam die mangelnde politische Unterstützung aus den Reihen der Fraktion und der Partei der Grünen. Der Partei gelang es kaum, den eigenen, noch in den Koalitionsvereinbarungen erfolgreich eingeschlagenen gesundheitspolitischen Kurs offensiv zu verfolgen und auch zu vermitteln.
In einer politisch-strategischen Situation, in der für die SPD angesichts der stärker aufbrechenden Konflikte absehbar wurde, dass die Gesundheitspolitik noch vor den nächsten Bundestagswahlen zum öffentlichen Kampffeld werden könne, entschieden sich die Strategen der Regierung für einen konsensorientierten, kommunikativen Vermittlungskurs: Schmidt erschien geeignet, möglichst lange einen Konsenskurs in der Gesundheitspolitik verfolgen zu können. Zunächst sollte sie für »Ruhe an der Ärzte- und der Pharmafront« sorgen. Ihr politischer Kurs lief darauf hinaus, in einzelnen Konfliktfeldern kommunikativ-regulierend zu vermitteln, zu verhandeln und kompromissbereit zu erscheinen. Der Eindruck entstand, dass Schmidt vornehmlich mit der Aufgabe betraut wurde, bis zu den Bundestagswahlen möglichst wenige Interessenkonflikte öffentlich aufbrechen zu lassen, sondern strukturell ungelöste Probleme und offene politische Fragen aufzuschieben.
Gleich nach Schmidts Amtsantritt meldeten sich die KBV mit der Forderung nach Entgegenkommen bei den Budgets für Arzneien: »Die Budgets müssen weg«. (FAZ, 17.1.2001) Schröder und Schmidt versprachen denn auch gleich nach einem Gespräch mit der KBV-Spitze, darüber nachzudenken, ob man die Budgetregelungen noch vor der nächsten Bundestagswahl ändere. (FR, 19.1.2001) Man könne sie möglicherweise durch Richtgrößen ersetzen eine Idee, die die KBV selbstverständlich begrüßte. (ebd.)
Auch einen Kurswechsel in der Biotechnologie kündigte Schmidt an die Gentechnik-Politik solle liberaler werden, so Schmidt. (FAZ, 17.1.2001) Die neue Gesundheitsministerin plante sodann gleich einen Runden Tisch mit den Ärzten. Und auch Bundeskanzler Schröder deutete ein schnelles Entgegenkommen bei den Budgets an. (FAZ, 20.1.2001) Dagegen wendeten sich die Krankenkassen, die in Folge einer Lockerung der Budgets ankündigten, die Beitragssätze anzuheben. (FAZ, 23.1.2001)
Im Februar 2001 rückte Schmidt von der Kollektivhaftung der Kassenärzte ab und erklärte, Richtgrößen für einzelne Vetragsärzte zu prüfen. (FAZ, 2.2.2001) Eine der Hauptforderungen der Kassenärzte sollte so erfüllt werden. Den Kollektivregress erklärte Schmidt zu einer vor allem psychologischen Barriere. (FR, 2.2.2001) Praxisbezogene Richtgrößen und ein Individualregress der Mediziner bei unwirtschaftlicher Verordnung wären eine mögliche Alternative. (ebd.) Auch müssten die Kassen entlastet werden: Eher gebe man Zuschüsse aus Steuern als versicherungsfremde Leistungen wie bei der Rente, so Schmidt. Die Krankenkassenbeiträge sollten trotz des Wegfalls des Regresses stabil bleiben, an der Deckelung der Ausgaben erklärte sie festzuhalten. (3.2.2001) Auch bot Schmidt der Union eine Zusammenarbeit in der Gesundheitspolitik an, erklärte jedoch zugleich, es gebe keinen grundsätzlichen Wechsel in der Gesundheitspolitik. Die Union kündigte an, sie wolle zunächst Einblick in ein Reformkonzept bekommen. (FR, 17.2.2001)
Ende Februar entließ Schmidt den Abteilungsleiter im Ministerium Schulte-Sasse, der einen ausdrücklich kritischen Gentechnik-Kurs verfolgte. (FR, 25.2.2001) Zudem herrschten Meinungsverschiedenheiten über das Arzneimittelbudget. Für die Facharztlobby war Schulte-Sasse zur »Hassfigur« geworden, der nun Schmidts versöhnlicherem Kurs entgegenstand. (ebd.) Im März wurde der Verzicht des neuen Gesundheitsministeriums auf den Regress der Ärzte für 1999 und 2000 bekanntgegeben. (FR, 8.3.2001) Die Ministerin wandte sich mit dieser Entscheidung gar gegen die Gutachter aus den eigenen Reihen. Anfang März wurde bestätigt, dass die SPD einen Kassen-Mindestbeitrag erwäge. (FAZ, 8.3.2001)
Insgesamt häuften sich die Berichte über die große Gesprächsbereitschaft und die Ausgleichsversuche der neuen Ministerin, die vornehmlich darum bemüht war, Konflikte zu entschärfen. Nach dem Streik von Ärzten in den neuen Bundesländern äußerten sich z.B. selbst deren Vertreter positiv über das ausgezeichnete Gesprächsklima im Bundesgesundheitsministerium. (FAZ, 28.3.2001) Ende März verordnete das Gesundheitsministerium höhere Kassenbeiträge auf mindestens 12,5% für die gesetzliche Krankenversicherung. (FAZ, 30.3.2001) Die Grünen und die Union kündigten jedoch an, dabei nicht mitzuziehen. (FR, 29.3.2001)
Der Eindruck erhärtete sich zunehmend, dass es Ulla Schmidts wichtigster Auftrag war, für »Ruhe in den Wartezimmern« zu sorgen und die Gesundheitspolitik möglichst lange aus dem Bundestagswahlkampf herauszuhalten: Das Bundesgesundheitsministerium betrachtete es als vordringlich, den Konflikt um die kollektive Haftung der Ärzteschaft für eine Überschreitung der ihnen für die Verordnung von Arzneimitteln zustehenden Budgets zu lösen. Die Bundesregierung brachte einen Gesetzentwurf auf den Weg, der die Abschaffung des Kollektivregresses vorsah. Statt finanzieller Sanktionen sollte ein Steuerungskonzept greifen. So sollten sich die Ärzte künftig an Richtgrößen orientieren.
Bezüglich des Risikostrukturausgleich einigte sich das Bundesgesundheitsministerium mit den Krankenkassen dann auf ein Konzept, das zunächst eine Reform der Kassenwahl vorsah: Die Wahlfreiheit wurde bis zum Ende des Jahres ausgesetzt und stattdessen ab dem 1.1.2002 eine generelle sechswöchige Kündigungsfrist zum Monatsende bei einer obligatorischen Mindestbindung von 18 Monaten an die neue Kasse eingeführt. Insgesamt verfolgte die neuerliche Reform tendenziell das Ziel, die schlimmsten Auswüchse des Wettbewerbs zu lindern und weitere umfangreiche Mitgliederwanderungen zu verhindern.
Eine gravierende gesundheitspolitische Wende war unter Ulla Schmidt insgesamt nicht auszumachen. Die Stabilität der Beitragssätze in der GKV blieb der zentrale Bezugspunkt. Jedoch wurde unter der neuen Ministerin ein deutlich ärzte-, pharmaindustrie- und gentechnikfreundlicherer Kurs verfolgt. Alle großen, wirklich gravierenden gesundheitspolitischen Veränderungen sind erst nach den Bundestagswahlen 2002 zu erwarten. Einiges deutet daraufhin, dass danach so oder so ob nun unter Schröder oder Stoiber ein Systemwechsel in der GKV ansteht, der mit einer weiteren Politik der Privatisierung und Ökonomisierung einhergeht.
1) Vgl. Deppe, Hans-Ulrich; Zur sozialen Anatomie des Gesundheitssystems, Neoliberalismus und Gesundheitspolitik in Deutschland, Frankfurt 2000, S. 157.
2) Vgl. Gerlinger, Thomas; Gesundheitspolitische Dilemmata, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2001, S. 920-923.
3) Vgl. Deppe, Hans-Ulrich; Zur sozialen Anatomie des Gesundheitssystems, a.a.O., S. 190.
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