letzte Änderung am 26. Juni 2003 | |
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"Die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ist der wichtigste, auch notwendigste Teil der innenpolitischen Erneuerung", so Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung vom 14. März diesen Jahres. Für die Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stellen diese Kanzlerworte eine Bedrohung dar, die inzwischen wahrgemacht wird.
Die gesetzliche Krankenversicherung ist der wichtigste Kostenträger des Gesundheitswesen, und sie ist ökonomisch gesehen der "sozialstaatlichste" Teil der Sozialversicherung.[1] Teile der CDU, FDP, rechte GesundheitsökonomInnen und UnternehmerInnen wollen den Arbeitgeberanteil zur GKV dauerhaft auf höchstens 6% festschreiben. Auch das Bundeskanzleramt misst der Beitragssatzstabilität eine strategische Bedeutung bei. In einem Arbeitspapier aus dem Jahre 2001 wurden unterschiedliche Szenarien zur Reform der GKV skizziert. Vor allem geht es darum, den gesetzlichen Krankenversicherungsschutz auf eine rudimentäre Elementarversorgung plus private Zusatzversicherungen zu reduzieren. Gleichzeitig werden Überlegungen angestellt, die freie Arztwahl für gesetzlich Versicherte gravierend einzuschränken. Sozialpolitisch würden diese Veränderungen noch intensiver als die Rentenreformen wirken, denn der Umverteilungseffekt durch die gesetzliche Krankenversicherung zu Gunsten ärmerer Haushalte ist viel bedeutsamer als bei der Rentenversicherung, die starke Elemente eines schlichten versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips aufweist.[2] Die bereits jetzt bestehenden Tendenzen zur Rationierung von Gesundheitsdienstleistungen und zum Ausschluss ärmerer Haushalte von einer optimalen Versorgung würden eskalieren.
Institutionell und ideologisch wurde der Privatisierungsprozess seit den 1990er Jahren durch den offenen Wettbewerb der GKV-Kassen um "gute Risiken" eingeleitet. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die Neugründungen und Ausweitung von Betriebskrankenkassen, die häufig auch von Betriebsräten in Großbetrieben mitgetragen wurden. Zwar soll bis 2007/2008 der Risikostrukturausgleich (Finanzausgleich) zwischen den gesetzlichen Kassen intensiviert werden. Bis dahin ist das Kassensystem allerdings schon unumkehrbar beschädigt, da sich die Wettbewerbsordnung und die Ausgrenzung von kostenträchtigen Risiken rechtlich, wirtschaftlich und institutionell verfestigt haben wird.
Trotz einer äußerlich progressiven Beschlusslage verhalten sich die Gewerkschaften gegenüber diesen Prozessen äußerst korporatistisch: Die bei ver.di organisierten Betriebsräte von privaten Krankenversicherungen intervenieren (erfolgreich) gegen die gewerkschaftliche Forderung nach einer Anhebung der Pflichtversicherungsgrenze; die großen Industriegewerkschaften orientieren in den Gremien der Selbstverwaltung auf Kostensenkung und Beitragssatzstabilität; die IG BCE verteidigt zusammen mit der Pharmaindustrie die Profitmargen, die zu den wenigen immanenten Wirtschaftlichkeitsreserven des Gesundheitswesens gehören.
Die Steigerung der Beitragssätze zur GKV resultiert vor allem aus der instabilen ökonomischen Beitrags- und Mitgliederbasis als Folge von stagnierenden Lohneinkommen, Massenarbeitslosigkeit und unterschiedlichen Formen der Scheinselbstständigkeit. Außerdem verlieren die Kassen der GKV durch die Abwanderung gut verdienender und relativ gesunder ArbeitnehmerInnen zur Privaten Krankenversicherung (PKV) wichtige Mitgliedergruppen für den Risikoausgleich. Und schließlich wird die Einnahmeseite der GKV auch durch die Beitragsbemessungsgrenze belastet, die gut verdienende GKV-Mitglieder begünstigt.
Spätestens seit den ersten Runden des Bündnis für Arbeit haben sich auch die Gewerkschaften dem Dogma der niedrigen Lohnnebenkosten verschrieben. In den Alternativvorschlägen des DGB zur Agenda 2010 nimmt dieses Leitbild eine prominente Rolle ein. In der gegenwärtigen Situation ist diese Orientierung jedoch verheerend. Unter den gegebenen Bedingungen und Kräfteverhältnissen steht die Prämisse der niedrigen Lohnnebenkosten (Beitragssätze) ausschließlich für die Privatisierung von sozialen Risiken und für Leistungsabbau.
In diesem Prozess geht es nicht nur um die Soziallohnsenkung zu Gunsten der Unternehmer, sondern auch um die Herstellung einer tatsächlichen privatwirtschaftlichen Marktordnung auf der AnbieterInnen- und Versicherungsseite. Ca. die Hälfte des gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsbudgets (ca. 150 Mrd. EUR) ist über die GKV vermittelt. Noch gibt es auf der AnbieterInnenseite von Gesundheitsdienstleistungen einen verhältnismäßig starken kommunalen und gemeinnützigen Sektor. Durch die Erosion der GKV und die Implementierung von gewinnorientierten Steuerungsmodellen können private Versicherungen und private Krankenhauskonzerne ihre Marktanteile und Gewinnmargen jedoch ausweiten. Je größer diese Marktanteile sind, desto größer ist die Ausschlusswirkung: Das private Versicherungsrecht und die privatwirtschaftliche Versicherungstechnik kennrn keinen solidarischen Risikoausgleich. Die Tarife dort differenzieren lediglich nach Alter, Geschlecht und Gesundheitsstatus. Kommerzielle AnbieterInnen von Gesundheitsleistungen zielen vor allem auf den/die zahlenden und lukrativen KundIn der Mittel- und Oberschicht ab.
Auch die weit verbreitete Polemik gegen die sogenannten versicherungsfremden Leistungen trägt zur Frontstellung gegen die Sozialversicherung bei. Vor allem die typischen umverteilenden Elemente der Sozialversicherung wie z.B. die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der Gesetzlichen Krankenversicherung werden mittlerweile als "versicherungsfremd" diffamiert. Dabei wäre diese aber nur dann versicherungsfremd, wenn der Maßstab der kommerziellen Versicherung mit ihrer individuellen Risikobewertung und dem Äquivalenzprinzip angelegt wird.
Die Rürup-Kommission hat vorgeschlagen, den GKV-Versicherungsschutz auf eine rudimentäre Grundversorgung zu beschränken. Im Focus der Streichüberlegungen standen der Unfallversicherungsschutz und der Zahnersatz. Die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung hat das Prinzip der Leistungsausgrenzung aus der GKV zwar aufgegriffen, im Konkreten ging sie allerdings andere Wege. Es sind vor allem die bekannten Elemente von Leistungsausgrenzung, Ausweitung von Eigenbehalten und die Stärkung der noch relativ neuen Bonus-Modelle in der GKV, die das Bild prägen.
Aus dem Rahmen fällt lediglich die Neugestaltung des Krankengeldes. Dieses bleibt zwar formal eine Pflichtleistung der GKV, die Arbeitgeberanteile sollen aber wertmäßig um das entsprechende Krankengeldvolumen entlastet werden. In dem § 249 SGB V neu des Koalitionsentwurfs zur GKV-Änderung wird der Arbeitgeberanteil auf 47% reduziert. Die wichtigsten weiteren Änderungen stellen sich wie folgt dar:
Die Überlegungen, Hausärzte ("sprechende Medizin") institutionell zu stärken, sind ebenso wie die Verweise auf Prävention und effektive Behandlung von chronischen Erkrankungen nicht unsympathisch. Durch die Verknüpfung mit schlichten ökonomischen Steuerungsmodellen, die lediglich private Versicherungen mit ihren Bonus/Malus-Modellen, Schadensfreiheitsrabatten und individueller risikogerechter Tarifierung kopieren, werden diese Ansätze jedoch konterkariert.[3] Bei den Chronikerprogrammen besteht die Gefahr, dass sie zur Rationierung und Deckelung von Aufwendung für diese Patientengruppen missbraucht werden.
Die Krankengeldreform beendet auch formal die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung. Sie ist ein Zwischenschritt zur absoluten Begrenzung der Arbeitgeberanteile. Beitragssatzsteigerungen werden dann auf die Versicherten konzentriert und sind dann noch weniger durchsetzbar als heute. Weitere Privatisierungen und Leistungsausgrenzungen sind die Folge. So ist es vor allem die starke Impulswirkung für weitere neoliberal inspirierte Reformen, die den Charakter der Agenda 2010 im Gesundheitssektor ausmachen. Am Beispiel der Krankengeldreform soll das verdeutlicht werden.
Wenn im Sozialversicherungssystem erst einmal Wettbewerbselemente integriert werden und wenn der Wettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten Krankenkassen unmittelbarer wird, dann lassen das (herrschende) nationale Wirtschaftsverfassungsrecht und das europäische Wirtschafts- und Kartellrecht kaum noch Alternativen zur (vollständigen) Privatisierung des Krankenversicherungssystems zu. Zwar ist das neue rot-grüne Krankengeld nach wie vor eine Pflichtleistung, aber bei einer rein wirtschaftlichen Betrachtung ist der Unterschied zu einer "Zusatzversicherung" unter dem Dach der GKV (wenn man die paritätische Finanzierung für GKV-typisch hält) nicht sehr groß. Die privaten Krankenversicherer laufen sich schon juristisch warm, um sich den Markt für eigene Krankengeldtarife und gegen das Monopol der GKV in diesem Segment freizuklagen. Noch verkündet die private Versicherungswirtschaft aus taktischen Gründen, auf gesundheitsbedingte und berufsgruppenbezogene Risikozuschläge in den Krankengeldtarifen verzichten zu wollen. Wenn aber der Weg erst einmal freigeräumt ist, werden solche Erklärungen sehr schnell Makulatur.
Warum ist die soziale Basis für diese "Reformen" trotz ihrer eindeutig konfrontativen Tendenz gegen eine Vielzahl von Versicherten so groß? Warum sind die Verteidigungslinien so schwach, obwohl das bundesdeutsche "sozialstaatliche" Gesundheitswesen leistungsfähiger, sparsamer und gerechter ist als z.B. das amerikanische Modell? Die ökonomischen und kulturellen Mythen des Neoliberalismus betonen eine Kultur des Wettbewerbs und des sozialen cost cutting. Es sind diese Mythen, die in der Alltagswahrnehmung die unbestritten zivilisatorischen Elemente einer im historischen Vergleich relativ breit angelegten Gesundheitsversorgung auf mittlerem bis hohem Niveau überlagern und verdecken.
In der herrschenden Medizin und Gesundheitspolitik werden die Menschen oft genug in bestimmt therapeutischen oder pflegerischen Situationen zum Objekt gemacht. So erscheint es vielen attraktiv, als Kunde mit den entsprechenden Rechten und Macht behandelt zu werden. Es reicht daher nicht aus, eine einheitliche Krankenversicherung und die Stärkung der Non-profit-Elemente zu fordern. Eine linke Alternative darf nicht nur ökonomisch oder verteilungspolitisch argumentieren. Es geht auch darum, die sozialen Grundrechte von Versicherten und PatientInnen zu stärken - durch innere Reformen, die mehr Partizipation und Mitbestimmung in den Gesundheitseinrichtungen zum Ziel haben.
1) Das heißt nicht, dass die von den Krankenkassen finanzierte Medizin und Therapien immer emanzipatorischen Ansprüchen genügen. Ebenso ist das Demokratiedefizit in den Institutionen des Gesundheitswesens und der Krankenkassen selber nicht von der Hand zu weisen.
2) Äquivalenzprinzip steht hier für direkte Abhängigkeit der Höhe der Versicherungsleistung (Rente) von der Höhe der eingezahlten Beiträge.
3) Als Bonus-Modell steht z.B. zur Debatte, dass für die hausarztgesteuerten Patienten die Zuzahlungen ermäßigt werden.
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