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Die italienische Perspektive, die protofaschistische Option an der Macht, ist der falsche Weg und somit das falsche politische Ziel für die herbeizureformende sozial-ökologische Moderne. In Teilen der Politik scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass es für die formierte Gesellschaft rationaler ist, Mediationsverfahren einzurichten, statt die Schergen wahllos auf Protestierende zu hetzen und Folterkeller einzurichten. Letzteres schafft in modernen Gesellschaften oft lediglich weitere systemische Funktionsprobleme.
Die friedlichen DemonstrantInnen müssen dazu jedoch ideologisch wie praktisch von der 'gewaltbereiten Szene' getrennt werden. Potentielle Protestierende werden daher - noch bevor sie in Aktion treten können und damit unter Umkehrung strafrechtlicher Grundsätze - hierzulande einfach mit Ausreiseverbot belegt, kleinere Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte im Vorfeld für die, die sich nicht mit vorauseilendem Gehorsam in den Konsens der Demokraten fügen. SPD-Innensenator Ehrhart Körting erinnert daran, dass es in der Bundesrepublik kein "Grundrecht auf Ausreise gibt" und kramt dazu das "Elfes-Urteil" aus der Adenauerzeit hervor - ohne sich am grundgesetzlich verbürgten und übergeordneten Recht allgemeiner Handlungsfreiheit zu stören, worauf die die Verfassungsrichter damals schon hinwiesen (Spiegel, 30.7.2001). Dem korrespondiert die forcierte Trans(re)formation rechtsstaatlicher Prinzipien in sicherheitsstaatliche Maßnahmen, wie auch die Debatte um die Ausweitung des Täterbegriffs (FAZ, 1.8.2001) und die - durch Kriminalitätsstatistiken seit Jahren schon nicht gedeckte - Erfindung eines scheinbar universellen Gefährdungs- und Kriminalisierungsmusters zeigen. Das "Empfinden" allgemeiner Lebensrisiken genauso wie spezifische soziale Ängste suchen sich ihren Ausdruck in der Personalisierung, der sozialen und räumlichen Segregation von Gefährdungsursachen, die dann zur Legitimation entsprechend repressiver Interventionen herhalten müssen. Die Verwaltung sozialer und darauf sich gründender politischer "Devianz" hierzulande erfolgt über präventives Krisenmanagement, zu dem Sozialpolitik und innere Sicherheit unerlässlich, und durch die Separierung der 'Ränder'.
Modelliert wird so die Republik der Moderne, des kommunikativen Handelns, des Ausgleichs von Lebens- und Arbeitswelt. Konsens und soziale Grundsicherung gehen hier Hand in Hand. Dabei wird das Motto, dass alles der "Entwicklung der Wirtschaft" zu dienen habe, hier genausowenig außer Acht gelassen wie in der chinesischen Volksrepublik; nur glaubt man dort noch, dass die Todesstrafe dazu dienlich sei (FR 25.7.2001). Die Gesellschaft der Mitte soll stabil implementiert werden. Das gute Leben für die BürgerInnen, das Mittelstandsgefühl für die Mehrheit und präventive Aufstandsvorsorge für den Rest. Funktional ist es auch, Einwanderung nach ökonomischen Kriterien zu steuern: flexible Quoten für die, die den jeweiligen Markterfordernissen genügen, Illegalisierung und Abschiebung für sonstige Deklassierte und/oder Verfolgte. Das stabilisiert die Mitte und diskreditiert den Rest. Das entlastet die Sozialversicherungen, statt sie zu belasten. Der Rassismus verliert seinen naturwissenschaftlichen Anstrich er braucht ihn nicht mehr, da sich der Problempragmatismus 'unseres' "sozial-ökologischen" Reproduktionszusammenhangs als hegemonialer Legitimationsdiskurs durchsetzt.
Die Verfahren zur Mediation dieses gesellschaftlichen Zusammenhangs - wie das "Bündnis für Arbeit und ..." - bewegen sich auf nurmehr mäßig demokratisch legitimiertem Boden. Dies stört nur noch demokratietheoretische PrinzipienreiterInnen und solche, die sich egal wie nicht gerne repräsentieren lassen. Die realen PolitikerInnen begreifen solches als Chance zur Partizipation und freuen sich, im staatlichen Kooptationsverfahren der Gesprächswilligen zu den Auserwählten gezählt zu werden. Dies findet seine Fortsetzung auf internationaler Ebene, wenn die vernünftigen Finanzkapitalstromlenker unter den NGOs wie Weed und Attack "nach Genua" am Hofe der Globalisierungsmanager ihre Petitionen und Petitessen vorbringen dürfen. Im etwas bescheideneren nationalökonomischen Rahmen steht hinter der Konsensversessenheit der Gewerkschaften ihre nimmermüde Hoffnung auf ausgleichende Gerechtigkeit beim Management des Mittelwegs aus Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitslosenstatistik. Die Strategie dieses staatlich-selektiven "Empowerments" von oben funktioniert schon dann, wenn durch das Verfahren selbst die Kriterien für die Aufspaltung sozialer Proteste in legitime und nicht-legitime vorgegeben werden.
Stabile Verhältnisse entstehen, wenn sich das Gefühl der Mitte bei der Mehrheit einstellt und der Rand marginalisiert und stigmatisiert werden kann. Sozialpolitik ist in diesem Sinne Befriedungspolitik von Anfang an - das Aufhängen am Strick kann dann individualistisch und liberal der Privatinitiative überlassen bleiben. Die Geschichte der Sozialversicherungssysteme zeigt deutlich diesen Charakter. 1883 wird unter Bismarck zuerst die Krankenversicherung eingeführt, es folgt Unfall- (1884), Invaliden- und Altersversicherung (1889). Seit 1927 gibt es eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung. Staatlich zentralistische Sicherungssysteme gelten oft als Errungenschaften der Arbeiterbewegung, sie sind es jedoch nur negativ: Als Prävention entzogen sie den selbstorganisierten Arbeiterkassen den Boden der Staat hat seine Aufgabe erfüllt.
Heute sind Kranken-, Renten-, Pflege-, und Arbeitslosenversicherung in der Krise. Schuld daran sind vordergründig weniger Einzahler und höhere Kosten. Scheinbar naturwüchsige Prozesse liegen dem zum Grunde: Demographischer Wandel, veränderte Konsum- und Lebensstile sowie übermäßige Anspruchshaltungen, begleitet von einer "massiven Vollkaskomentalität" (KBV-Vize Leonhard Hansen, FR, 1.8.2001). Als naturgegeben erscheint damit auch das angebliche "Ende der Arbeit" (Rifkin 1996), jene intellektuelle Kapitulation vor einer systemfunktionalen strukturellen Arbeitslosigkeit, auf die sich die eingängige Argumentationskette "weniger Einzahler, sinkende Einnahmen, mehr `Anspruchsnehmer` und eine entsprechende Kostenexplosion auf der Ausgabenseite" gründet. Dass der Arbeitsgesellschaft entgegen den Auguren solcher Naturkatastrophen keineswegs die Arbeit "ausgeht", sondern das mal mehr, mal weniger rechtlich-institutionell abgesicherte Normalarbeitsverhältnis, und dass an der Herstellung dieses Zustandes viele beteiligt sind, sei hier nur angedeutet: An der Prekarisierung der Beschäftigung arbeiten Automobil-Konzerne ebenso wie Einzelhandelsunternehmen, Eintagsfliegen der New Economy ebenso wie die ausgegründeten Start Ups der Mediengiganten, öffentliche Arbeitgeber im ÖPNV ebenso wie die Deutsche Bahn oder private Speditionsunternehmen. In den Facetten differierend bleibt die Stoßrichtung die gleiche: Angriffe auf gewerkschaftliche Organisierung und deren Substitution durch die Betriebsfamilie, Flexibilisierung von Leistungen und Arbeitszeiten bei gleichzeitiger Individualisierung und Entstandardisierung kollektiv geregelter Leistungs- und Entlohnungsbedingungen, Outsourcing und Aufspaltung von Belegschaften etc. - das Modell von `privilegierten` Kern- und Randbelegschaften zweiter, dritter etc. Klasse verwandelt sich in eine endlos fortsetzbare Fragmentarisierung der Kerne selbst. Assistiert wird dieser Prozess der Prekarisierung zum einen von einer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, die sich der nationalen Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherung - mit geringen Änderungen wie der Rücknahme der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder des verschlechterten Kündigungsschutzes aus der Ära Kohl sowie einem bescheidenen Vorstoß zur Teil-Sozialversicherung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse und einem zweischneidigen Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit - im Wesentlichen auch unter Rot-Grün bislang subordiniert. Zu den Vorgaben dieser Politik zählt weiterhin die Senkung der Lohnnebenkosten auf der Einnahmenseite der Sozialversicherungen (geplant: unter 40 Prozent), der eine Deckelung auf der Ausgabenseite entspricht.
Zum anderen wirkt hier eine Gewerkschaftspolitik, die ihre offizielle Verbeugung vor diesem Banner spätestens mit dem ersten "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" von 1995 gemacht hat. Ideologisch hat sie den Tarifbrüchen und der Unterbietungskonkurrenz in unzähligen betrieblichen "Bündnissen für Arbeit", der Tarifierung von "Einstiegslöhnen" für Langzeitarbeitslose in den diversen Beschäftigungsprogrammen auf Länderebene oder der Gleichung Lohnzurückhaltung gegen Abbau der Arbeitslosigkeit auf nationaler Bündnis-Ebene nur wenig entgegenzusetzen. Das von Zwickel während des laufenden Bündnisses verkündete "Ende der Bescheidenheit" - eine ohnehin defensive, rein verteilungspolitische Antwort auf die Strukturumbrüche im Lohnarbeitsverhältnis - blieb so auch in den Tarifrunden dieses Jahres aus, nicht ohne Rücksicht auf Rot-Grün. Den auf Niedriglohn und Arbeitszwang hinauslaufenden Workfare-Konzepten von New Labour können die VordenkerInnen der Gewerkschaften dagegen auch hierzulande einiges abgewinnen, Hauptsache Beschäftigung (vgl. Gewerkschaftliche Monatshefte 6/99). Da letztere auf dem Wege der rückblickenden Vergoldung jener Zeit nach Verkündung des magischen Vierecks nicht zu gewinnen ist, stellt sich die `Erosion` des Normalarbeitsverhältnisses, auf dessen Funktionieren die tradierten Sozialversicherungssysteme angewiesen sind, als quasi unausweichliches Resultat und zugleich als Voraussetzung zur Lösung der Krise dar. Dagegen mit dem Rückzug auf klassisch-keynesianische Forderungen gewerkschaftlicher Lohn- und Verteilungspolitik anzutreten markiert eine Grenze sozialpolitischen Bewusstseins und Handelns in den Gewerkschaften: ihr Regredieren zu Interessenvertretungen des beschäftigten Teils der Lohnabhängigen. Für den Rest ist der Sozialstaat zuständig, auch wenn diese Enthaltsamkeit fatale Folgen im ureigensten Feld der Tarifpolitik.
Krisenbeschreibungen sind also immer zugleich politische Konzepte, verbunden mit einer entsprechenden Vorstellung von Gesellschaft und kohärenzstiftenden Prinzipien. Unter Rot-Grün besteht sie implizit schon seit der Koalitionsvereinbarung, manifest seit dem Blair/Schröder-Papier darin, dass sozialstaatliche Maßnahmen fordistischen Typs den Menschen in der Entfaltung seiner Potentiale als Arbeitskraftunternehmer eher hinderten. Das "Ende des verberuflichten Arbeitnehmers" verträgt sich dabei durchaus mit einem gestärkten Arbeitsethos. Entsprechend wird der Abbau bzw. radikale Umbau des alten Wohlfahrtsstaates gefordert, wobei linke Kritikmomente an dessen Bürokratismus, Paternalismus und Kontrollfunktion zur Legitimation der Notwendigkeit dieses Umbaus herangezogen werden. An seine Stelle tritt der "Aktivierende Staat" mit seinem Prinzip des "Förderns und Forderns", das im Kern in der Kopplung von Leistungen an Pflichten besteht. Würde buchstabiert sich demnach für die moderne Sozialdemokratie in der "gezielten Rückführung aus der sozialen Abhängigkeit in Erwerbstätigkeit", Gerechtigkeit besteht darin, alle Leistungsempfänger "auf ihre Fähigkeit zu überprüfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen" (Blair/Schröder). Damit wird nicht nur die Leistung und Gegenleistung regelnde Vertragsform des Lohnarbeitsverhältnisses reproduziert, sondern auch dessen Stellenwert als Anspruchsgrundlage der BürgerInnen gegenüber dem Sozialstaat der Moderne et v.v. gestärkt: Dieser erscheint nicht mehr primär - wie dies zumindest im Sozialhilfebereich der Fall war - als Ausfallbürge für diejenigen, die keinen Zugang zur dominanten Form der Existenzsicherung via Lohnarbeit haben oder finden, oder als verrechtlichter Ausdruck eines Klassenkompromisses auf der Basis des vielbeschworenen Interessengegensatzes, der sich u.a. im paritätischen Finanzierungsmodell weiter Teile der Sozialversicherung ausdrückte, sondern als Manager jener ideellen Gemeinschaftskasse, in die (fast) unterschiedslos alle - aber jeder für sich selbst verantwortlich - ihre Leistungen einzubringen, d.h. vor der sie ihre "Employability" in Form von möglichst lebenslanger Arbeitsfähigkeit und -willigkeit sowie Bereitschaft zu Investitionen ins eigene Humankapital unter Beweis zu stellen haben - daher auch das eigentümliche Nebeneinander von Individualisierung und Gemeinschaftsdiskurs der "Bürgergesellschaft". Die so vorgestellte "neue Mitte" ist Zielgruppe und Basis des modernisierten Sozialstaats. Sie steht nicht nur im Visier aller Parteien, sondern stellt auch einen großen Teil faktischer oder umworbener Gewerkschaftsklientel, auf das sich zu konzentrieren diesen die besten Erfolgsaussichten verheißt. Dazu zählt nicht nur der Typus des deutsch-männlichen Facharbeiters in der großbetrieblichen Old Economy, dessen - tendenziell auch eher zum Mythos werdende - `Privilegien` es zu verteidigen gilt, sondern auch der junge, selbstständige, aktienentlohnte "Wissensarbeiter" der New Economy, dem die Dienstleistungsqualitäten der Gewerkschaften z.B. im Bereich Lebens-, Reise-, Unfallversicherung und - nach der Rentenreform - künftig auch Anlageberatung nahezubringen sind. Einschlägige Anzeigen in den Mitgliederzeitungen lassen diesbezüglich vermuten, dass es mit der Selbstauflösung der Gewerkschaften und ihrer Transformation in Konkurrenten von Allianz und Konsorten nicht mehr weit sein kann.
Die Orientierung an diesem "Erfolgstypus" in Kombination mit der Akzeptanz einer Senkung der Lohnnebenkosten hat jedoch vorläufig zur Folge, dass Gewerkschaften einen Großteil des Weges in eine modernisierte Sozialpolitik gemeinsam mit Rot-Grün beschreiten und sich damit an der fortgesetzten Aushöhlung des "Solidarprinzips" und Privatisierung der Sozialversicherungen beteiligen können. An dessen Ende deutet sich die private Daseinsvorsorge für die fitte Mitte, eine auf das Subsistenznotwendige abgesenkte Grundsicherung als sozialstaatlich abgefederte Untergrenze für diejenigen, die im allgemeinen Rat Race nicht mithalten können, und der Ausschluss für den nicht integrierbaren Rest an. Das Konzept der neuen Mitte verfängt; dies mag den Erfolg eines Umbauprogramms begründen, mit dem sich in vieler Hinsicht an das Vorgänger-Modell des "Schlanken Staates" anknüpfen und noch darüber hinaus gehen lässt.
Dabei sind die Grenzen einer konsequenten Privatisierung im Bereich von Arbeitslosengeld und -hilfe sowie Sozialhilfe noch am engsten gesteckt. Ausgeprägt ist hier jedoch der neuerdings unter dem Titel "Eingliederungshilfe" firmierende `stumme` Zwang zur Arbeit, zu Niedriglöhnen und ungeschützter Beschäftigung für BezieherInnen von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) III oder nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Als Zwang äußert sich diese "Hilfestellung" durch die Androhung des Leistungsentzugs bzw. der Leistungskürzung bei Verweigerung von Arbeits"angeboten". Die drei Sicherungsformen werden dabei tendenziell immer mehr angeglichen, Grundrechte wie freie Berufswahl und Verbot von Zwangsarbeit (Art. 12 GG) damit ausgehöhlt: Während es einen Berufs- und Qualifikationsschutz für SozialhilfebezieherInnen grundsätzlich nicht gibt, ist er für ArbeitslosenhilfebezieherInnen seit 1996 aufgehoben und für die BezieherInnen von Arbeitslosengeld seit 1997 eingeschränkt. Mit der seitdem verschärften Zumutbarkeitsregelung muss hier bspw. nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit eine Tätigkeit akzeptiert werden, deren Entlohnung in Höhe der Arbeitslosenhilfe liegt. In Bezug auf das BSHG lässt sich seit der Änderung 1996 eine Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten für Arbeitsverweigerung festhalten, die abgestuft mittlerweile bis zur völligen Streichung der Sozialhilfe reicht. Staatlich induzierte Lohnsenkung wird vor allem durch die in den "Hilfen zur Arbeit" (HzA) angelegte Verpflichtung zu sozialversicherungsfreien, "gemeinnützigen" Tätigkeiten betrieben, für die eine "Mehraufwandsentschädigung" von ein bis drei DM gezahlt wird. All diese Maßnahmen wurden - mit Ausnahme einer ineffizienten dreimonatlichen Meldepflicht - auch von Rot-Grün nicht zurückgenommen, ebensowenig wie die jährliche drei-prozentige Kürzung der Arbeitslosenhilfebezüge, zu der der DGB im Zuge des 95er Bündnisses seine Zustimung gab. Die Planungen gehen vielmehr weiter: Noch stehen einer Verschmelzung der drei Leistungsformen rechtliche Differenzen in der jeweiligen Anspruchsbegründung entgegen - bei der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um quasi erwirtschaftetes Eigentum, in das bei Sanktionierung einer Leistungsverweigerung eingegriffen wird, und damit um einen Verstoß gegen Art. 14 GG. Da die Dauer der Arbeitslosigkeit jedoch seit 1993 stark zugenommen und die Zahl der BezieherInnen von ALHI sich seitdem fast verdoppelt hat, stiegen auch die Ausgaben des Bundes von 7,2 Mrd. DM in 1991 auf über 30 Mrd. im Jahr 2000 (vgl. Roth: "Warum kein Politikwechsel?", express, Nr. 10/2000) - die Abschaffung der ALHI mit ihrer Orientierung am letzten Entgelt zugunsten der schlechteren SozHi ist daher - von CDU/CSU über Arbeitgeberverbände bis zu Rot-Grün - gleichbleibendes Ziel. Vorerst wird deshalb darüber nachgedacht, wie man über eine Zusammenlegung von steuerfinanzierter Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine Angleichung der Bedingungen hinsichtlich der Zumutbarkeit, Bedürftigkeit und Anrechenbarkeit von Einkommen und Vermögen herzustellen kann, bei der die ArbeitslosenhilfebezieherInnen in der Tat noch einiges zu verlieren haben. Mit § 101a der 7. Novelle des BSHG Anfang 1999 hat Rot-Grün dazu den Einstieg in die Pauschalierung der einmaligen und laufenden Sozialhilfeleistungen als Testlauf für eine Grundsicherung formuliert, die - so viel steht schon fest - je nach Auslegungspraxis der Länder und Kommunen auch unter der bisherigen individuellen Bedarfsdeckung liegen kann, auf die es noch einen gesetzlichen Anspruch gibt. Eine generelle Auswertung soll 2004 durch die Unternehmensberatung Mummert & Partner erfolgen. Im September 2000 folgte ein Gesetz zur "verbesserten Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe", das von der anderen Seite aus die Verzahnung von ALHI und SozHi in Angriff nimmt: Es ermöglicht nicht nur SozialhilfebezieherInnen arbeitsamtliche Beratung, sondern umgekehrt auch den Einsatz von ArbeitslosenhilfebezieherInnen im Rahmen von HzA auf der Basis des BSHG und beinhaltet den partiellen Rückzug des Bundes aus der Finanzierung der ALHI, deren Übertragung auf die Kommunen sowie die Übergabe der staatlich beaufsichtigten Arbeitsvermittlung in die Hände privater Vermittlungsagenturen wie z.B. Zeitarbeitsfirmen. Jüngstes Projekt der rot-grünen Reformer ist das so genannte "Job-Aqtiv-Gesetz" ("Aktivieren, qualifizieren, trainieren, investieren, vermitteln"), das einerseits individuelle Vereinbarungen über "Eingliederungshilfen" (wie Weiterbildungsmaßnahmen, Trainingsprogramme etc.) zwischen Arbeitsämtern und Erwerbslosen, andererseits ein Bündel bereits bekannter Sanktionsmechanismen für den Fall der Leistungsverweigerung enthält und möglichst im Januar im Kraft treten soll. Kaum von den Grünen unterzeichnet, ging ihnen dieser Vorschlag nicht mehr weit genug - eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Formen staatlicher Subventionierung von Gehältern soll her - z.B. in Form von Kombilöhnen, der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um einen Prozentpunkt gesenkt und eine "bedarfsorientierte Grundsicherung" eingeführt werden. Und zwar noch bevor die laufenden Modellvorhaben zu Kombilöhnen und Pauschalierung ausgewertet sind.
Wenn Werner Müller in seinem jüngsten Wirtschaftsbericht also "Integrationspläne für Erwerbspläne, Sanktionen für Arbeitsunwillige und Verdienstchancen für Bezieher von Arbeitslosenhilfe" fordert, kann Walter Riester "das Erschrecken, das die Forderung ausgelöst hat, [...] nicht ganz nachvollziehen", denn "die Leistungseinschränkungen für Arbeitsfähige, die zumutbare Angebote nicht wahrnehmen, sind da" (FR, 25.7.2001).
Existenzminimum, Grundsicherung, Bedarfsorientierung - das ist offenbar nicht die Baustelle der Gewerkschaften. Seit Zwickels Ankündigung im 95er Bündnis, man werde die Gespräche abbrechen, wenn es zu einer Verschlechterung der Sozialhilfekriterien oder Kürzungen in der Arbeitslosenhilfe komme, sei andernfalls jedoch bereit zu Lohnabstrichklauseln für Langzeitarbeitslose und zur Lohnzurückhaltung in der Tarifpolitik bereit (vgl. express 11/12/99), stehen Bekenntnisse zur Kritik der staatlich subventionierten Niedriglohnökonomie zwar wie zuletzt in der ver.di-Programmatik auf jedem einschlägigen Papier, doch das ist bekanntlich geduldig. Denn die Absenkung bzw. Differenzierung von Tarifen stellt aus Gewerkschaftsperspektive immer noch ein probates Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit dar, wobei das Lohnabstandsgebot die - variable - Grenze nach unten darstellt, also gegenüber jenen, die ohne Arbeit, und das heißt bislang noch: ohne Vorleistung zu reproduzieren sind. Erworbene Leistungsansprüche zu sichern steht denn auch an erster Stelle des gewerkschaftlichen Interesses an den Sozialversicherungen, gefolgt von der paritätischen Finanzierung und der Höhe der Lohnnebenkosten. Der Rest scheint, wie gesagt, Sache des Sozialstaats: terra incognita.
Was würde es jedoch bedeuten, die Politik der Gewerkschaften in der Rentenreform auf die Arbeitslosenversicherung anzuwenden?
Die "Riesterrente" sei, so äußerte Klaus Zwickel am Ende Verhandlungen, "ein Erfolg der Gewerkschaften und insbesondere der IG Metall" (FR, 19.12.2000). Ziemlich genau ein Jahr zuvor gab es schon einmal Anlass für gespenstische Feierstimmung. Aus dem Jahr 1999 rührte Zwickels bemerkenswerte sozialpolitische Initiative zu einer Senkung der Lebensarbeitszeit, mit der die von den Gewerkschaften teilweise mitgetragene und im 95er Bündnis ausgehandelte Hochsetzung des Rentenalters durchbrochen werden sollte - allerdings nur für Beschäftigte mit entsprechenden Tarifverträgen: Eine gesetzliche Absicherung des gesenkten Rentenalters ließ sich in der Kanzlerrunde nicht durchsetzen, die Gegenfinanzierung der 18-prozentigen gesetzlichen Abschläge, die die verblockte Altersteilzeit für jene quotierte Handvoll Beschäftigte, die mit 60 gehen dürfen, bedeutet, wurde auf die Ebene der Tarifverträge verschoben, deren Laufzeit ausgedehnt, Lohnverzicht geübt und: mit dem vereinbarten Tariffonds zum Ausgleich der Abschläge für Altersteilzeit der Abschied von allgemeinen gesellschaftspolitischen Lösungen und der Einstieg in die ständische Sozialpolitik eingeläutet. Die Politik der IGM baut auf den ohnehin bestehenden Privatisierungstendenzen (z.B. durch das Säulenmodell privater, betrieblicher und tariflicher Zusatzrenten) und Diskriminierungen (z.B. für Frauen) im bestehenden Rentensystem auf und sichert ihren Mitgliedern Ansprüche durch branchen- und betriebsbezogene Sonderlösungen. Mit diesem Modell hatte zumindest die IGM ihre prinzipielle Bereitschaft zum Systemwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung bereits gegeben - die Automobilisten haben hier aufgrund der Sozial- und Einkommensstruktur ihrer Mitglieder im Unterschied zu jener der HBV bspw. einiges zu verlieren. An grundsätzlichere Fragen wie die Ausweitung des Beitragszahlerkreises und eine Einbeziehung aller Formen von Einkünften, wie es etwa im Alternativ-Konzept der IG BAU zum Erhalt und Ausbau der gesetzlichen Rente vorgeschlagen wurde, oder an eine Revision des heraufgesetzten Rentenalters unter Rot-Grün war nicht gedacht. Strittig waren daher nur noch die Frage der paritätischen Finanzierung, die Höhe der Lohnnebenkosten in Form der Beiträge und das Auszahlungsniveau. Was also gab hier den Anlass für die Zwickelsche Zufriedenheit?
Bei Fortschreibung des aufgrund der von Rot-Grün gekippten Blümschen Rentenreform von 1999 gültigen Rentenreformgesetzes von 1992 hätten die Beiträge im für die Vergleichbarkeit der Rentenmodelle üblicherweise als Referenz herangezogenen Jahr 2030 bei rund 27 Prozent gelegen, wobei ein Rentenniveau von 70 Prozent angenommen wurde. Dieses bildete in der gewerkschaftlichen Debatte bis zur Riesterrente auch immer den Maßstab für die Beurteilung der Reformvarianten. Das Versprechen von Rot-Grün, die Beitragssätze bis zum Jahr 2030 (!) nicht über 22 Prozent steigen zu lassen, musste dagegen notwendig zu einer Senkung des Ausgaben- also Rentenniveaus führen. Während dies in der Blümschen Variante bei 64 Prozent im Jahr 2030 gelegen hätte und die Entwicklung der Beitragssätze über einen Abschlag in Form des so genannten demographischen Faktors stabilisiert werden sollte, haben sich die Gewerkschaften durch den Verzicht auf Riesters "Ausgleichsfaktor", der vor allem Jüngere benachteiligt hätte, beruhigen und in Bezug auf die Berechnung des Rentenniveaus vorführen lassen. Denn über die neue Rentenanpassungsformel, einen von zwei Hauptpunkten der Riesterschen Rentenreform, herrschte Konfusion. Indem sie u.a. ein weitgehend entschlacktes, "modifiziertes Nettoeinkommen" zugrundelegt, sinkt faktisch jedoch die Bemessungsgrundlage und damit das Rentenniveau für "Rentenbestand und Rentenzugang", sprich gleichmäßig für Neu- und Altrentner: Während der Verband deutscher Rentenversicherungsträger hier - wie im Blüm-Vorschlag - auf runde 64 Prozent kommt (FR, 19.12.2000), glauben die Gewerkschaften, sie hätten einen Kompromiss bei rund 67 Prozent erzielt (FR, 19.12.2000). Die Autoren der BfA-Studie resumieren lapidar, "dass im Vergleich zum RRG 1999 bei der jetzt beschlossenen Reform die Renten wesentlich schneller sinken und langfristig ein niedrigeres Niveau ereichen" - für einen "Medianrentner" des Jahrgangs 1970 beispielsweise, der etwa 1930 in Rente gehen würde, läge es bei rund 52 Prozent (Fehr/Jess 2001, S. 9).
Zweiter Hauptpunkt der neuen Rente ist jedoch der Ausstieg aus dem Umlage- und der Einstieg in das Kapitaldeckungsverfahren mit einer Teilprivatisierung der Daseinsvorsorge unter dem Titel "fiktiver Sparbetrag" - fiktiv, weil er keine Verpflichtung zur privaten Daseinsvorsorge darstellt und entsprechend auch nicht mehr paritätisch finanziert wird. Dieser Betrag erhöht sich, ausgehend von einem Prozent im Jahr 2002 auf bis zu vier Prozent im Jahr 2008 und kann entweder steuerabzugsfähig geltend gemacht oder durch staatliche Fördermaßnahmen bezuschusst werden. Gegenfinanziert wird die Privatrente und damit auch die Beitragsentlastung der Arbeitgeber durch eine Erhöhung der Verbrauchssteuern (z.B. der Ökosteuer).
Dass nun nach der Veröffentlichung der BfA-Studie zu den inter- und intragenerativen Verteilungswirkungen der Riesterrente entgegen ersten Befürchtungen in der Presse dennoch von relativen "Wohlfahrtsgewinnen" der jüngeren Jahrgänge gesprochen wird, ist allein darauf zurückzuführen, dass ältere Jahrgänge von geringeren Beitragssätzen nur über einen kürzeren Zeitraum hinweg profitieren (vgl. Fehr/Jess 2001, S. 11). Die steuerliche Förderung der Privatrente hingegen kommt vor allem mittleren und höheren Einkommensklassen zugute, während die Blümsche Variante, wie die FAZ im Unterschied zur taz bemerkt, die unteren Einkommensgruppen begünstigt hätte (FAZ, 17.7.2001). Daran, dass schon die 70 Prozent des RRG von 1992 keinen Armutsschutz dargestellt hätten, ändert dies nichts.
Johannes Steffen kommt daher zu dem Schluss: "Einzige Gewinner der rot-grünen Rentenreform sind die privaten Finanzdienstleister - ihnen winken blühende Geschäfte - und die Arbeitgeber - deren Beitragsentlastung zahlen die Arbeitnehmer." ("Tatsachen zur rot-grünen Rentenreform", in: <www.labournet.de>)
Für die Zustimmung der Gewerkschaften entscheidend war, wie gesagt, die Höhe des Rentenniveaus - hier haben sie die Zahlenkosmetik akzeptiert, die Höhe der Lohnnebenkosten - hier haben sie die Notwendigkeit ihrer Begrenzung eingesehen, die paritätische Finanzierung - der Ausstieg sei "eine Wunde, die schmerzt" (Metall-Pressedienst, 18.12.2000), aber verkraftet wird, und schließlich die Aussicht, betriebliche Formen der Alterssicherung tarifieren, sprich Pensionsfonds schaffen zu können. War in Riesters Entwurf zunächst nur ein individueller Rechtsanspruch auf Entgeltumwandlung in eine Direktversicherung vorgesehen, gaben IG Metall und DGB es als Erfolg der Renten-Proteste der rund 150.000 MetallerInnen aus, dass betriebliche Alterssicherungen wie individuelle Direktversicherungen in Pensionsfonds übertragen werden können: "Die ursprünglich geplante einseitige Bevorzugung der privaten Vorsorge und Diskriminierung der betrieblichen/tariflichen Zusatzvorsorge bei der staatlichen Förderung wurde verhindert." (DGB-Presseerklärung, 24.1.2001). Hauptsache, dabei sein in der kapitalgedeckten Mitte, auch wenn ein Teil der Protestierenden gerade gegen den Einstieg in die Privatisierung auf die Straße gegangen war. Die mit der Tarifierbarkeit der Privatrente erkaufte Zustimmung von DGB und IG Metall zum Einstieg in das Kapitaldeckungsprinzip delegitimiert eine allgemeine gesetzliche Rente und damit das ohnehin perforierte Solidarprinzip und legitimiert weitere Kürzungen bis hin zu einer abgesenkten Basisrente, wie sie mit dem Altersvermögensgesetz gerade als pauschalierte, "bedarfsorientierte Grundsicherung" auf den Weg gebracht werden soll - wobei Bedarfsorientierung hier die Ausrichtung am Existenzminimum der Sozialhilfe meint. Nicht zufällig ist in Ländern wie den USA oder Großbritannien mit einer längeren Tradition und einem höheren Anteil privater und betrieblicher Altersvorsorge das staatliche Sozialversicherungsniveau relativ niedrig - in Großbritannien sind 40 Prozent der SozialrentnerInnen sozialhilfebedürftig.
Bei dieser Reform von einem "Deal" zu reden, nach dem die Gewerkschaften in den sauren Renten-Apfel gebissen hätten, um damit "dem Kanzler und seinem Kabinett den Rücken zu stärken" (Engelen-Käfer, FR, 15.2.2001) für deren Durchsetzung "ihrer" Betriebsverfassung, lässt sich eher mit der medialen Inszenierung des Aufstands gegen Riesters vermeintliche "Räterepublik" erklären als mit den Ergebnissen der neuen Betriebsverfassung. Diese enthält außer geringfügigen Verbesserungen bei der Freistellung von Betriebsräten, ebenso beschränkten Erleichterungen bei den Wahlverfahren in kleineren Betrieben und einigen neuen Inforechten nichts substanziell Neues und liegt mit seinem Ausbau von "Mitwirkungs"- statt Mitbestimmungsrechten insgesamt noch näher am Modell der Betriebsverfassung für die Wertschöpfungsgemeinschaft, wie es der Think Tank aus dem Hause Bertelsmann/Böckler präsentierte, als am Alternativ-Entwurf des DGB.
Nach der Renten- nun also die Gesundheitsreform. Ursprünglich für die Zeit nach den Wahlen vorgesehen, hat sich nach Bekanntwerden eines massiven Ausgabenanstiegs im ersten Halbjahr 2001 und entsprechenden Ankündigungen der Kassen, die Beitragssätze noch Ende diesen Jahres hochsetzen zu müssen, Hektik breit gemacht.
Die Grundversorgungsideologie bei gleichzeitiger Ausweitung der Privatisierung scheint sich nun auch in der Gesundheitspolitik durchzusetzen. Nur noch das medizinisch wirklich Notwendige soll bezahlt werden, um selbiges weiter nach unten korrigieren zu können, der Rest fällt ins Privatvergnügen. Doch wie wird das "wirklich Notwendige" in Bezug auf Gesundheit bestimmt? Private Krankenkassen beruhten schon immer auf dem Äquivalenz- statt dem Solidaritätsprinzip: Leistungen bestimmen sich nach Prämienhöhe und Risikostruktur, die Versicherten einer "Risikoklasse" zahlen ihre Risiken selbst. Eine Individualisierung der Krankenversicherung über Wahlleistungen wird nun auch für die gesetzlichen Kassen diskutiert - doch für den Vorschlag einer Aufspaltung von Pflicht- und Wahlleistungen in der Gesetzlichen musste der zuständige Referent auf dem Kanzleramt seinen Platz räumen (FR, 17.7.2001). Als Versicherungsprinzip verallgemeinert, hebt sich die totale Wählbarkeit von Leistungen selbst auf, so dass selbst die Privatkassen erklären: "Die meisten Wahlmöglichkeiten sind nicht versicherungsfähig", weil die Wahrscheinlichkeit, dass das Risiko eintritt, zu hoch sei. Bleibt also die Streichung bestimmter Leistungen aus dem Bereich des medizinisch Notwendigen und eine höhere Selbstbeteiligung, wie dies SPD-Gesundheitsexperten fordern (Spiegel, Nr. 30/2001, S. 73). Wegfallen könnten demnach Psychotherapien, Vorsorgekuren, Krankengeld für Kinder, Mutterschaftsgeld, Gesundheitsförderung u.v.m. (vgl. ebd.). Schließt Rot-Grün auch in der Gesundheitspolitik in vielem an die Maßnahmen der Vorgängerregierung an (z.B. sektorale Budgetierung für Vertragsärzte, Krankenhäuser und Arzneimittel, Beibehaltung der Kassenwahlfreiheit und damit des Wettbewerbsprinzips, Ausstieg aus der Parität durch die individuellen Zuzahlungen, Prinzip der "integrierten Versorgung", Grundsatz der Beitragsstabilität), so würden die genannten Streichungen gerade jenen Teil der Koalitionsversprechen brechen und auch der - entschärften - Gesundheitsreform 2000 rückgängig machen, der sich deutlich vom Seehofer-Modell unterschied: Gesundheitsförderung, Vorsorge und Rehabilitation. Anderweitige Möglichkeiten zur "Bekämpfung der Kostenexplosion", die entweder die Wirtschaft belasten würden, wie die Einführung der Positivliste dies mit sich brächte, oder zu einer Verbreiterung der Einnahmebasis führen würden, wie etwa die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze, werden derzeit nicht mehr diskutiert.
Die passiven Anspruchshaltungen von Faulen, Rentnern und Kranken müssen abgelehnt werden. Keine Rechte ohne Pflichten, keine gemeinsame Kasse ohne Eigenverantwortung. Die so genannten "Wohlstandskrankheiten" - Gestalten einer neuen Form der Armut, bedingt durch neue Formen und Mechanismen gesellschaftlicher Ausbeutung der Menschen - erscheinen wie Arbeitslosigkeit und Alter als individuelle Fehlleistung und Schuld. Klar ist, dass niemand unter den Bedingungen von "Chancengerechtigkeit" gezwungen werden kann, die Defekte, also die individuellen Eigenarten, anderer Menschen zu finanzieren. Die, die sich unverantwortlich verhalten, indem sie Körper und Geist nicht richtig bewirtschaften, die sich nicht trainieren, qualifizieren, nicht regelmäßig zum Zahnarzt gehen, rauchen oder wissentlich ein behindertes Kind austragen, müssen eben etwas mehr bezahlen als die anderen. Sie haben sich ihr Risiko aus den Risiken, die die gleichnamige Gesellschaft trägt, selbst gewählt. Früher hätte man das Umverteilung innerhalb der Klasse genannt. Heute lässt sich die "Risikostreuung" bei entsprechender Rechnerleistung in demographischen Modellen, Rentenformeln, räumlichen Segregationsverteilungen etc. modellieren. Es scheint, als sei individuelles Verhalten - nicht zuletzt aufgrund segensreicher wissenschaftlicher Fortschritte in der Gentechnik - endlich vorausberechenbar. Dieser Traum der eingreifenden und steuernden Politik, letztlich auch das, was die Nazis in positive Eugenik umsetzen wollten, ist eine Kerngestalt der Moderne. Die Gesellschaft bei Anerkennung ihrer Funktionsgesetzlichkeiten so zu teilen, dass sie sich reproduziert, ohne dabei auseinander zu fallen, ist die entscheidende Aufgabe der Sozialpolitik. Dieser haben sich fast alle sozialpolitischen Instanzen verschrieben - auch die Eliten in den Gewerkschaften. Kritiker dieser Entwicklungen, sei es der Verein demokratischer Ärzte oder die IG BAU mit ihren Forderungen nach einer allgemeinen Versicherungspflicht, halten gegen den individualisierenden Liberalismus noch das gesellschaftliche Solidarprinzip hoch - den Standpunkt des Citoyen gegen den des Bourgeois. Wenn Wirtschaftminister Müller dagegen der vormaligen Regierung und jetzigen Opposition vorwirft, dass diese auf "Subventionen, Staatsinterventionismus und soziale Unruhen" (FR, 18.7.2001) setze, wird zugleich deutlich, was die gegenwärtige Regierung will.
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LabourNet Germany: Treffpunkt für Ungehorsame, mit und ohne Job, basisnah, gesellschaftskritisch The virtual meeting place of the left in the unions and in the workplace |
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