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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Deutsche und französische Ökonomen zu den neoliberalen Weisheiten

Ein Tag vor dem Beginn des Kongresses des "Vereins für Socialpolitik" in Deutschland (= die größte Vereinigung von Wirtschaftswissenschaftlern im deutschsprachigen Raum ("Welt")) unter dem Motto "Ordnung der Weltwirtschaft: Lektionen aus der Krise" (und was wird das Ergebnis "dieser" Ökonomen sein, bei der bei uns in Deutschland so einseitig "festgezurrten" wissenschaftlichen Ökonomenzunft?).

Und so sind wir inzwischen gut wieder aus dem Urlaub in Frankreich zurückgekehrt - aber hier überschlagen sich die "Neuheiten" wie selten sonst in diesem Jahr des fortlaufenden Krisengeschehens - sozusagen kommen jetzt laufend die Nachrichten zu den "Konvertiten" - und damit die Frage "wie weit wird eine Änderung dieses Mal tragen?" (Oh, da fällt einem doch immer wieder dieser schöne Spruch von unserem Georg Christoph Lichtenberg ( http://de.wikiquote.org/wiki/Georg_Christoph_Lichtenberg externer Link) ein, der ja bekanntermaßen ein Zeitgenosse der französischen Revolution war: "Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht. Dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll, ist gewiss" (Sudelbücher Heft K (293)

Aber jetzt zu unserer aktuellen Situation (vgl. z.B. www.labournet.de/diskussion/wipo/allg/system.html oder auch www.nachdenkseiten.de/?p=10444#h01 externer Link und www.nachdenkseiten.de/?p=10448 externer Link - vgl. weiter den Brief von Heiner Flassbeck an Marc Beise von der SZ www.nachdenkseiten.de/?p=10509#h04 externer Link). Ja, das hast du wahrscheinlich auch schon festgestellt, dass im Wirtschaftsteil die SZ schrecklich neoliberal dogmatisch daherkommt. Oh ja, wenn man jetzt auf den Spiegel blickt - schwankend zwischen - sehr regierungsnah - strikt gegen Eurobonds und gleichzeitig gegen die radikale Finanzmarktherrschaft - dann kommt einem der Wirtschaftsteil der SZ wie das letzte einsame große "Flaggschiff" für den "Neoliberalismus vor (siehe z.B. den Artikel "Der gute Bürger und die böse Wirtschaft" (Über den Gedankenfehler aktueller Kapitalismus-Kritik (sic!)) im Feuilleton der SZ vom 3. September 11).

Aber - mit Verlaub gesagt - weiß ich gar nicht, ob man derzeit in einer Umbruchphase solches Festklammern von kleinen aggressiven Bettelmönchen an der "alten Kirche" des Neoliberalismus noch lesen sollte - einfach weil es inzwischen auch so viel mehr Erhellendes gibt. Und dann bleibt eben gar keine Zeit mehr für diese kleinen Dummheiten.

Dazu kann man im Gegenzug den Spiegel-Titel "Gelduntergang" (vom 22.8.11) nennen, der dir vielleicht nicht entgangen ist - mit der doch zumindest für den "Spiegel" interessanten Feststellung "Die Finanzindustrie ist zu einer Bedrohung für die globale Gesellschaft geworden. Denn ihre Krisen sind keine Fehler des Systems, der Fehler ist das System selber" (in "Märkte außer Kontrolle", S.60 ff.).

Das Krisengeschehen nimmt einfach wohl ganz praktisch die "alten Wahrheiten" zu sehr in die Zange - ohne dass es allzu deutliche Fortschritte gäbe (vgl. z.B. "die Märkte, die Märkte..." www.nachdenkseiten.de/?p=10408 externer Link). Nur mich treibt langsam immer die Frage um "Wie das alles anfing?" - und da gab es gerade auch ein interessantes Datum: der 15. August 1971 mit dem Ende von Bretton Woods. Der "Spiegel" (vom 22.8.) bringt es in seinem Artikel vereinfachend jetzt auf folgenden Nenner: "Vor 40 Jahren, am 15. August 1971, kündigte der damalige US-Präsident Richard Nixon dieses "System von Bretton Woods" auf. Um den Vietnam-Krieg finanzieren zu können, brauchte er mehr Geld, als er durch Gold abdecken konnte. Damit verlor die Weltwirtschaft ihren Anker". War`s das? Oder war es doch noch etwas "komplexer"?

Mir drängt sich dann aber vor allem die Frage auf, warum sie, wenn sie jetzt plötzlich so "klugscheißern" können, diesem Problem nicht systematisch die letzten vierzig Jahre nachgegangen sind?

Das kann man ja vielleicht ganz einfach beantworten: Diese "größte Wirtschafts- und Finanzkrise seit 80 Jahren" erst hat die Unfähigkeit dieser ökonomischen Schule nicht nur mit den Problemen angemessen umzugehen, so deutlich an den Tag treten lassen, sondern es wird noch zusätzlich die Erkenntnis gestärkt, dass diese "Lehre" zu den Ursachen - also dem Komplex der "geistigen Brandstifter" für diese gewaltige Krise gehört. So wird eben immer mehr Menschen klar und dies ging dann jedem einigermaßen "g`scheiten" Menschen auf, dass nun nach neuen Möglichkeiten gesucht werden müsse. (Siehe oben Lichtenberg!)

Zunächst mag jedoch beim Ende von Bretton Woods in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts diese "Marktradikalität" des Neoliberalismus noch ganz plausibel erschienen sein, dass alle so darauf abfuhren - aber auch hier "musste wohl der (neoliberale) Krug so lange zum Brunnen gehen bis er (in der Krise) bricht".

Deutschland ist nur für diese neue Konstellation ein besonders armseliges Land, denn hier - wie sonst in keinem anderen Land - ist der Neoliberalismus so einseitig und vollkommen ohne "Alternative" in den Wissenschaften an den Universitäten vertreten, dass von 3 800 persönlichen und korporativen Mitgliedern des "Vereins für Socialpolitik" - und damit der größten Vereinigung von Wirtschaftswissenschaftlern im deutschsprachigen Raum, wohl kaum ein paar Ökonomen vertreten sein dürften, die überhaupt in der Lage sind, Kritik und Alternativen - etwa nach dem Ökonomen Keynes - zu artikulieren - ganz anders sieht das wohl in Frankreich aus, diesem immer wieder interessantesten "Debattenraum" Europas.

Es ist ja auch nicht ganz "selbstlos", wenn ich mich jetzt damit etwas "systematischer" zu beschäftigen versuche, - umfassen diese letzten 40 Jahre doch so ziemlich auch meine "ökonomisch-geistige" Auseinandersetzung und Beschäftigung mit der Ökonomie in diesem unseren Lande...

Wenn du dazu noch Ideen hast, so lass sie "hören"! Auch wenn dieses "Projekt" einer realen Wirtschaftsgeschichte der letzten 40 Jahre wohl in seiner ganzen Komplexität erst so richtig von einer kommenden Generation von Ökonomen bewältigt werden wird, so ist es doch nützlich auch das "eigene Leben" etwas mehr gedanklich "aufzuräumen" - meine ich.

Ein erster Blick auf diese Geschichte hat mich jedenfalls erst einmal etwas "ratlos" gemacht - denn es scheint auch unter unseren bewährten "linken Ökonomen" nichts oder zumindest sehr wenig wirklich "klar" zu sein! Aber dazu dann vielleicht demnächst etwas mehr....

Aber jetzt noch ein kleines aktuelleres "Mitbringsel" aus unserem Urlaub in Frankreich, das ja vielleicht schon bekannt ist: Wieder sorgt ein kleines Buch in Frankreich für Furore - nach Stephane Hessels "Empört euch": Vier Wirtschaftswissenschaftler haben das Manifest der "Bestürzten Wirtschaftswissenschaftler" verfasst (http://atterres.org/?q=node/1 externer Link) - und zehntausende Exemplare wurden verkauft, obwohl das Buch im Internet auf Französisch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch frei erhältlich ist. In Deutschland ist das Büchlein von den vier französischen Ökonomen Phillippe Askenazy, Andre Orlean, Henri Sterdyniak und Thomas Coutrot weitgehend unbekannt, das von mehr als 1000 Ökonomen unterschrieben wurde (ND: http://www.neues-deutschland.de/artikel/204584.oekonomen-gegen-neoliberale-weisheiten.html externer Link) und in Frankreich gibt es jetzt auch eine allgemeine Diskussion über die

"Gleichheit": "Frankreich entdeckt die Gleichheit als neues Debattenthema" ( siehe die SZ von gestern (1.9.11 im Feuilleton, S. 11) - wobei sich dieser Artikel von einem Joseph Hanimann vor allem auf ein neues Buch des Historikers Pierre Rosanvallon "La societe des egaux" (Seuil) bezieht.

Übrigens betreibt Pierre Rosanvallon auch einen Blog im Internet zu "La vie des Idees" ( www.laviedesidees.fr/Qui-sommes-nous.html externer Link oder www.laviedesidees.fr/?lang=fr externer Link).

P.S.: Ein wenig sind wir dabei in Südfrankreich auch in diesen Landstrichen der "Katharer", dieser weitverbreiteten Ketzerbewegung des 12. und 13. Jahrhunderts, herumgefahren, die die Franzosen ziemlich in Ehren halten. Das hat mich veranlasst, wieder einmal den ehemaligen Konstanzer Arno Borst mit seinen "Die Katharer" auszukramen - und das bringt noch "mehr radikale Farbe" in dieses Mittelalter als noch der "Franz von Assisi" (Narr, Krippendorf u.a.), - so scheint es mir inzwischen... ? Beachtenswert fand ich dabei die These von Borst, die ganze Verfolgung hat "letztlich" die Katharer nicht "untergehen" lassen, (hier hat wohl Grass recht, der einmal sagte, "Kein Papst ahnt, wie überlebensfähig Ketzer sind"), sondern dass sie letztlich nicht in der Lage waren dem gedanklichen "System" der katholischen Kirche (der ganzen Scholastik) etwas entgegenzusetzen, sondern sie fanden dann eigentlich nur eine Anpassung an dieses System (Hierarchie, Weltbezogenheit usw.) - vielleicht auch weil sich die sozialen "Träger" des Ketzertums gewandelt hatten.... ?

Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 1.9.2011


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