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Updated: 18.12.2012 15:51
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Treibhausblüten

Warum eine schwere Weltwirtschaftskrise der Linken Hoffnung machen kann / Von Slave Cubela*

Unterstellt man, dass eine schwere Weltwirtschaftskrise[1], wie sie gegenwärtig nicht mehr auszuschließen ist, ein wichtiges Moment bei der Schaffung einer besseren Welt sein kann, dann wirft dies unweigerlich die Frage auf, worauf genau sich diese Erwartung gründet. Gerade wenn man nicht leugnen will, dass im Gefolge einer solchen großen Weltmarktkrise stets auch ein Mehr an sozialer Barbarei möglich ist, gilt es um so mehr, jene Implikationen dieses sozialen Prozesses näher zu bestimmen, die einerseits linke Praxis in nächster Zeit motivieren sollten, ohne deren Verständnis andererseits aber auch linke Interventionsbemühungen ins Leere zu laufen drohen. Deshalb, und gewiss nicht als erneuter Aufguss irgendwelcher Geschichtsautomatismen, stellt dieser Text eine Reihe sozialer Hoffungsschimmer, die durch eine schwere globale Krise potentiell provoziert werden, in seinen Mittelpunkt; wenn die Krise ein ›soziales Treibhaus‹ ist (vgl. express 2/2009), dann wollen wir im Folgenden einen genaueren Blick auf einige Treibhausblüten werfen.

Erkenntniskrise – minimal, aber massenhaft

Soziale Verhältnisse sind immer dann besonders stabil, wenn sie den Individuen als unveränderlich erscheinen. Damit sie diesen Anschein erwecken können, müssen die Verhältnisse ein erstarrtes soziales Wissen bei den Individuen produzieren. Dieses Wissen kann beispielsweise so aussehen, dass die Individuen Produkte ihrer sozialen Praxis als Dinge oder Naturprodukte wahrnehmen. Oder aber sie rekurrieren in ihrem sozialen Wissen auf Funktionalität und Überlieferung statt auf Begründung und Wahrheit dieses Wissens. Im für die Stabilität der Verhältnisse idealen Fall verwächst das soziale Wissen schließlich unmittelbar mit den bestehenden Alltagspraxen der Individuen, d.h. es bemerkt seine eigenen Widersprüche und Grenzen nicht und immunisiert sich weitestgehend gegen äußere Einflussnahme und Kritik.

Dieses erstarrte soziale Wissen nun auch nur etwas in Bewegung zu bringen, ist keine leichte Aufgabe, wie sicherlich jeder linke Aktivist zu berichten weiß. Denn: Warum sollte man etwa über Lohnarbeit diskutieren, wenn sie gut bezahlt wird und wenn es sich um sichere Arbeitsplätze handelt? Warum sollte man herrschaftskritisch sein, wenn es »oben und unten« seit Beginn der Menschheitsgeschichte gibt? Warum sollte man eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus anvisieren, wenn alle Versuche in diese Richtung gescheitert sind und der Kapitalismus durch geschickte staatliche Eingriffe ein menschenwürdiges Leben für alle bereithält? So oder ähnlich begegnet das erstarrte soziale Wissen emanzipativen Einflussnahmen – und diese angeführten Reaktionen gehören ohne Zweifel noch zu den harmlosen und wohlwollenden, denn das erstarrte soziale Wissen kennt auch manifest politisch rechte bis rechtsextreme Denkschablonen!

Die Drohung einer schweren Weltwirtschaftskrise sorgt nun allerdings dafür, dass die Individuen selbst damit beginnen, ihr Wissen in Bewegung zu bringen, d.h. mit der ökonomischen Krise geht die Erkenntniskrise einher. ›Sind unsere Arbeitsplätze noch sicher und wenn nein, warum nicht?‹, beginnen sie sich zu fragen und untereinander zu diskutieren. Werden das Lohnniveau und damit auch der eigene Lebensstandard zu halten sein? Ist es nicht ungerecht, dass die herrschenden Eliten trotz aller Verluste und trotz ihrer Verantwortung für die Krise von dieser kaum betroffen sein werden? Könnten es nicht doch grundlegende Mängel »des Systems« sein, die in die Sackgasse der Weltwirtschaftskrise geführt haben?

Ohne Zweifel folgt aus diesen Rissen im ideologischen Fundament der bestehenden Gesellschaft, die einem an vielen öffentlichen Orten bereits begegnen, kein linearer Prozess der Selbstaufklärung der Individuen über die sie umgebenden sozialen Verhältnisse. Doch diese Risse sollten auch nicht unterschätzt werden, denn sie sind zunächst zwar nur minimale Ansatzpunkte für eine emanzipativ orientierte Linke, die aber in ihrem massenhaften sozialen Auftreten Mobilisierungspotential enthalten. Je früher und geschickter die Linke mit diesen Rissen umzugehen versteht, desto besser, denn mit der Ausweitung der Krise werden die Fragen zwar drängender und quälender, zugleich wird aber auch die Gefahr größer, dass eine Flucht in neue Formen erstarrten sozialen Wissens stattfindet.

Entdeckung des Allgemeinen

Ein Moment des erstarrten sozialen Wissens in stabilen sozialen Zeiten ist die Überzeugung, dass Armut in unseren vergleichsweise reichen Gesellschaften selbstverschuldet sei. Entscheidend ist dabei, dass diese Überzeugung als neoliberales Credo der freiwilligen Arbeitslosigkeit nicht nur den verschiedenen sozialpolitischen »workfare«-Ansätzen zugrunde liegt, die beispielsweise in den Hartz-Reformen bundesrepublikanische Realität wurden, sondern viele Arme erkennen in der häufig anzutreffenden Scham über ihr Schicksal implizit diese Überzeugung an und machen sich selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Dementsprechend fällt die Formierung dieser Armen zur Vertretung ihrer eigenen Interessen schwer, schließlich scheint mit dieser Überzeugung der Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme im Kampf der Armen gegen sich selbst und nicht im Kampf gegen die sozialen Verhältnisse zu liegen.

Diese Konstellation ändert sich nun zwar durch eine schwere Weltwirtschaftskrise nicht automatisch, doch kann eine solche Krise, wie Frances Fox Piven und Richard A. Cloward mit Blick auf die USA zeigen, ein wichtiges Moment des Aufbruchs aus dem Individualismus der Armen sein. Denn: »Die gesellschaftliche Ordnung, die gewöhnlich für gerecht und unverrückbar gehalten wird, muss erst als unrechtmäßig und verbesserungsfähig erscheinen. Das Ausmaß des Elends ist dabei von entscheidender Bedeutung. In den dreißiger Jahren zum Beispiel und auch in der Nachkriegszeit erreichte die Arbeitslosigkeit verheerende Ausmaße. Viele Menschen konnten ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen, insbesondere in den dreißiger Jahren, als ein Drittel der Erwerbsbevölkerung keine Arbeit hatte. Für die Schwarzen aber war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso verheerend, als Millionen von ihnen vom Land vertrieben und in die städtischen Gettos verschlagen wurden. In diesen Gettos erreichte die Arbeitslosigkeit in den fünfziger und sechziger Jahren den Stand der Depression. Das bloße Ausmaß dieser sozialen Verschiebungen trug dazu bei, das Gefühl des individuellen Versagens abzubauen und den Menschen statt dessen bewusst werden zu lassen, dass ihr Schicksal kollektiv geprägt war, und die Herrschenden für ihr Elend verantwortlich zu machen waren.«[2] Die Pointe ist also: Es ist weniger die Tiefe des sozialen Falls durch die Krise, weshalb die Menschen in solchen Zeiten zu kollektivem Widerstand greifen, sondern die immense soziale Streuung der Verarmung durch eine schwere Krise macht Armut gerade auch für die Betroffenen zum sozialen Phänomen. In der allgemeinen Armut erhöht sich so die Chance, dass das Allgemeine immer mehr zum Bezugspunkt der sozialen Diskurse der Armen wird.

Zu groß, um zu scheitern?

Ein anderes Moment jenes erstarrten Wissens in krisenfreien Zeiten ist die Ansicht, dass nur formale Großorganisationen wie z.B. Staaten, Parteien oder Gewerkschaften in der Lage sind, soziale Prozesse voranzutreiben. Diese Ansicht hat eine Reihe von Gründen. So scheinen zum einen nur solche Großorganisationen fähig, die Interessen einer großen Zahl von Menschen miteinander zu koordinieren, und nur ihr institutioneller Rahmen scheint die Kontinuität dieses Interessenmiteinanders zu gewährleisten. Zum anderen scheinen nur solche Großorganisationen über genügend materielle Ressourcen, aber auch über genügend interne Fach- und Verwaltungskenntnisse zu verfügen, um auf schwierige soziale Problemlagen reagieren zu können. Außerdem sorgt die massive Außendarstellung solcher Organisationen dafür, dass mögliche andere soziale Koordinierungsformen nicht mehr wahrgenommen werden, dass man überzeugt davon ist, dass kleine Gruppen kein Engagement wert seien, weil sie sich nicht durchsetzen könnten, dass schließlich an die Allmacht dieser Organisationen geglaubt und reflexartig an sie appelliert wird.

Auch hier würde eine schwere ökonomische Krise diese Ansicht über die Bedeutung der formalen Großorganisationen bei den Menschen nicht schlagartig verändern, erneut jedoch kann sie diese soziale Selbstverständlichkeit irritieren und sogar im Einzelfall ein gutes Stück weit untergraben. Beispielsweise, indem die Krise dafür sorgt, dass die scheinbar unerschöpflichen materiellen Ressourcen dieser Organisationen plötzlich zu Ende gehen, so dass die Individuen, wie im Falle des argentinischen Staatsbankrotts, zur Überzeugung kommen, alle Funktionäre zum Teufel zu jagen (»Que se vayan todos«) – eine Entwicklung, die gegenwärtig angesichts der ausufernden staatlichen Rettungsprogramme zur Stabilisierung der Finanzmärkte nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Oder aber eine ängstliche Bürokratie sorgt mit dafür, dass die Menschen ihr Schicksal zumindest temporär in die eigene Hand nehmen, wie dies Piven und Cloward am Beispiel der US-Industriearbeiter und ihrer Gewerkschaften zeigen, wenn sie über die Depressionszeit schreiben: »Die Kämpfe der dreißiger Jahre verliefen nach einem ähnlichen Muster. Zwar hatten viele der Auseinandersetzungen die Anerkennung gewerkschaftlicher Rechte zum Ziel. Doch weder die Kämpfe noch die Erfolge waren das Ergebnis schon vorhandener gewerkschaftlicher Organisationen oder das Verdienst von Gewerkschaftsführern. Im Gegenteil: der Anstieg der Streikaktivitäten nach 1934 verlief parallel zum Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, als die AFL ihren eigenen ›federal unions‹ das Wasser abgrub. So kam es zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen von Toledo, Minneapolis und San Francisco entweder nach dem Scheitern gewerkschaftlicher Organisierungskampagnen oder bevor die Gewerkschaften Fuß gefasst hatten.«[3]

Mit anderen Worten also: Eine schwere ökonomische Krise kann ein wichtiges Moment bei der außerinstitutionellen Mobilisierung der Individuen sein, eben weil sie diese Institutionen fordert und überfordert. Das meint keineswegs, dass man deshalb diese Organisationen kampflos preisgeben und ihrem Schicksal teilnahmslos zusehen sollte, denn häufig genug gibt es in ihnen verschiedene Strömungen, verschiedene Potentiale, die für die Interessenvertretung der Verlierer dieser Krise mobilisiert und genutzt werden können. Aber es heißt doch, dass es falsch wäre, ängstlich und um jeden Preis an diesen Großorganisationen festzuhalten, denn dies kann, wie Michael Kittner für das Beispiel der deutschen Gewerkschaften nach 1929 gezeigt hat, schlimme Folgen haben: »Was bei isolierter Betrachtung aus heutiger Sicht als jammervolle Anbiederung an den Nationalsozialismus erscheint, war zeitgenössisch nur ein kleiner Schritt weiter auf der Bahn des seit der Zeit des ersten Weltkriegs verinnerlichten gewerkschaftlichen Etatismus. Damit bewegten sich die Gewerkschaften selbst auf das zu, was Hitler in ›Mein Kampf‹ als das Wesensmerkmal einer nationalsozialistischen Arbeitsverfassung beschrieben hatte: ›Nationalsozialistische Arbeitnehmer und nationalsozialistische Arbeitgeber sind beide Beauftragte und Sachverwalter der gesamten Volksgemeinschaft.‹ In dieser tragischen Affinität dürfte einer der Gründe, wenn nicht der wichtigste, dafür liegen, warum die Gewerkschaften den Nationalsozialisten so sang- und klanglos zum Opfer fielen.« [4]

»Kampf der feindlichen Brüder«

Die Krise birgt darüber hinaus ein weiteres Potential: den Dissens innerhalb der herrschenden Klasse. Dazu Marx: »Solange alles gut geht, agiert die Konkurrenz, wie sich bei der Ausgleichung der allgemeinen Profitrate gezeigt hat, als praktische Brüderschaft der Kapitalistenklasse, so dass sie sich gemeinschaftlich, im Verhältnis zur Größe des von jedem eingesetzten Loses, in die gemeinschaftliche Beute teilt. Sobald es sich aber nicht mehr um Teilung des Profits handelt, sondern um Teilung des Verlusts, sucht jeder soviel wie möglich sein Quantum an demselben zu verringern und dem anderen auf den Hals zu schieben. Der Verlust ist unvermeidlich für die Klasse. Wieviel aber jeder einzelne davon zu tragen, wieweit er überhaupt daran teilzunehmen hat, wird dann Frage der Macht und der List, und die Konkurrenz verwandelt sich dann in einen Kampf der feindlichen Brüder.«[5]

Welche Bedeutung kann dieser Kampf der feindlichen Brüder nun aber für die sozialen Kämpfe im Gefolge einer schweren Krise haben? Beschränken wir uns hier auf zwei kleine Hinweise.

Dass zum einen gerade die internationale Koordination der herrschenden Klasse eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung sozialer Emanzipationsbewegungen haben kann, hat Daniele Ganser, Historiker an der Universität Bern, in seinem Buch über das NATO-Netzwerk »Gladio« für die Zeit des Kalten Krieges fundiert und jenseits aller verschwörungstheoretischen Vorwürfe gezeigt.[6] Wenn gegenwärtig mit Blick auf die drohende Rezession ähnliche nationale und internationale Koordinationsbemühungen nachweisbar sind,[7] dann verbindet sich mit einer möglichen Desorganisation der herrschenden Klasse durch einen lang anhaltenden internen Kampf gerade außerhalb der Metropolen die Hoffnung des Erhalts und der Entstehung von sozialen Spielräumen für herrschaftskritische soziale Bewegungen.

Zum anderen kann der Kampf der feindlichen Brüder um die Aufteilung der Verluste leicht eine militärische Dimension erhalten, man denke zur Zeit z.B. an die trotz aller Vermittlungsbemühungen vorhandene Konkurrenz zwischen China und den USA in Afrika. Beverly Silver hat vor einiger Zeit auf den engen Zusammenhang zwischen radikalen Arbeiterkämpfen und Kriegen im 20. Jahrhundert hingewiesen, also auf den Umstand, dass ihren Statistiken zufolge die größte Anzahl globaler Arbeiterkämpfe jeweils nach dem 1. und 2. Weltkrieg zu verzeichnen war.[8] Auch wenn sie dabei mit Michael Stohl angemerkt hat, dass internationale Kriege innernationale Klassenkämpfe befrieden können und auch wenn sie stark bezweifelt, ob durch die gewachsenen militärischen Zerstörungspotentiale die Kriege des 21. Jahrhunderts ähnliche revolutionäre Prozesse wie beispielsweise am Ende des Ersten Weltkriegs nach sich ziehen können, so sollte Silvers Text doch in einer Hinsicht Hoffnung machen: dass die erschreckende Aussicht auf internationale Kriege, die mit der Intensität des Kampfes der feindlichen kapitalistischen Brüder ohne Zweifel wahrscheinlicher werden, radikale soziale Kämpfe provozieren kann. Oder anders: Je länger die Krise dauert und je schwerer sie wird, je intensiver damit Macht und List über die innerkapitalistische Verteilung der Verluste entscheidet und je mehr damit Krieg und Zerstörung drohen – umso mehr könnte all dies ein weiteres befeuerndes Moment der sozialen Kämpfe in der Krise werden.

Entgrenzungen

Damit sind wir bei der wichtigsten Treibhausblüte einer schweren Weltmarktkrise angelangt: der Entgrenzung der sozialen Kämpfe. Neigen soziale Kämpfe im Rahmen stabiler globaler Sozialverhältnisse dazu, sich zumeist zeitlich oder räumlich zu erschöpfen, so verändert sich dieses Bild im Falle einer schweren Weltwirtschaftskrise. Denn durch die globale Dimension der Krise wie ihre Hartnäckigkeit verbreiten sich die sozialen Kämpfe tendenziell, d.h. es kommt zum einen an so vielen Orten der Welt synchron zu sozialen Kämpfen, dass diese stets auch in ruhige Gefilde überschwappen können, und diese Kämpfe können zum zweiten auch nach ihrem Erlöschen immer wieder neu ausbrechen, da ihr Anstoß, also die sich verschlechternden Reproduktionsbedingungen der Menschen, erhalten bleibt.

Man könnte es sich jetzt sehr einfach machen und als Beleg für diese Entgrenzung sozialer Kämpfe durch eine schwere Weltwirtschaftskrise die gegenwärtige Entwicklung anführen. Doch auch wenn Proteste in Island und Lettland bereits zu neuen Regierungen in diesen Ländern geführt haben, auch wenn in Irland über Hunderttausend und in Frankreich über eine Million Menschen gegen die Krisenpolitik ihrer Regierungen auf die Straße gegangen sind, auch wenn in vielen Ländern der Welt wie z.B. Russland soziale Spannungen drohen und auch wenn dies alles in einem recht frühen Stadium einer großen Krise stattfindet – ein Blick auf die Große Depression wirft jenseits dieser aktuellen Entwicklungen zwei wichtige Fragen auf.

Zunächst: Wie nachhaltig werden diese ersten Kämpfe unserer Gegenwart sein, wenn diese Krise anhält und sozial durchzuschlagen beginnt? Legt man Beverly Silvers Zahlen über die Entwicklung der globalen Arbeiterkämpfe zugrunde, dann fällt auf, dass ein deutlicher Anstieg der Arbeiterkämpfe nach 1929 erst mit drei bis vier Jahren Verzögerung einsetzt [9], d.h. die Große Depression scheint zunächst ein lähmender Schock für die Arbeiter gewesen zu sein, der erst nach und nach überwunden wurde. Dies bestätigen Piven und Cloward, wenn sie für die USA festhalten: »Während der ersten Krisenjahre blieb die Not, die durch die rasch sinkenden Löhne erzeugt wurde, meist noch in der Privatsphäre verborgen. Die meisten Arbeiter erduldeten ihr Schicksal still; vielleicht flößte ihnen der Anblick der arbeitslosen Massen vor den Fabriktoren Angst ein. Auch die fehlende Bereitschaft der Eliten, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, dass einiges im Argen lag, trug dazu bei, dass die Menschen ihre Verzweiflung nach innen kehrten und das Chaos in ihrem Privatleben nicht zum öffentlichen Thema wurde. Doch als sich die Wirtschaftslage weiter verschlechterte, als die Arbeitslosigkeit immer mehr um sich griff und die lokalen Fürsorgebemühungen zusammenbrachen, setzte ein Wandel ein. Mitte 1931 wurde die Depression schließlich allgemein zur Kenntnis genommen, wodurch die privaten Sorgen der Menschen öffentliche Bedeutung gewannen und sich Zorn und Empörung breit machten.«[10]

Die zweite Frage lautet: Wird die räumliche und zeitliche Entgrenzung der sozialen Kämpfe durch eine Weltwirtschaftskrise auch eine inhaltliche Entgrenzung der politischen Diskurse nach links und rechts und damit eine politische Polarisierung wie 1929 mit all ihren Chancen und Risiken nach sich ziehen? Zweifel sind angebracht, scheint der entscheidende Unterschied zwischen damals und heute doch zu sein, dass 1929 eine durch den Ersten Weltkrieg und vor allem durch die Gründung der Sowjetunion bestehende politische Polarisierung zusätzlich anheizte, während die gegenwärtige Krise auf politisch vergleichsweise homogene Verhältnisse trifft. Mit anderen Worten: Der Aufstieg einer extremen Rechten durch eine schwere Weltwirtschaftskrise scheint aktuell unwahrscheinlich, aber ebenso weit reichende soziale Umwälzungsbewegungen nach links.

Die Zeit der linken Außenseiter

Soll das im Ergebnis bedeuten, dass am Ende dieser Weltwirtschaftskrise trotz aller Treibhausblüten doch wieder die alten Verhältnisse herrschen werden, nur – wenn es gut läuft – ähnlich »sozial« wie nach dem Zweiten Weltkrieg für Teile der Welt? Die Antwort ist ein klassisches »Ja, aber«. »Ja« – denn neben den aktuell schlechten Startbedingungen für eine radikale Linke ist die Aufhebung dieser Verhältnisse, wie schon Marx wusste, eine ungeheuerliche Aufgabe. »Aber« – denn wenn eine Aufhebung der bestehenden Gesellschaft im Gefolge einer schweren Weltwirtschaftskrise gegenwärtig auch nicht ansatzweise in Sichtweite scheint, so ist es doch wahrscheinlich, dass sich mit Zunahme und Ausbreitung der Krise der Einfluss linker Außenseiter in den sozialen Kämpfen erhöhen dürfte.

Eine solche Entwicklung lässt sich beispielsweise in Deutschland für die schwierige Zeit nach 1918 feststellen, in der ein Bündnis aus vordem marginalisierten kritischen Linksintellektuellen und zumeist ungelernten Arbeitern eine linke Alternative jenseits von SPD, KPD und Massengewerkschaften etablieren konnte und damit die Hochzeit des deutschen Linkskommunismus und Syndikalismus einleitete.[11] Ein anderes Beispiel für die plötzliche Bedeutung linker Außenseiter in sozial schwierigen Zeiten liefern erneut die USA nach 1929, insofern in jener Zeit die in den zwanziger Jahren völlig marginalisierten Kommunisten auf einmal eine wichtige Rolle bei den nach der Großen Depression folgenden Arbeitslosen- und Arbeiterkämpfen spielten.[12] Schließlich weisen aktuelle Studien über Arbeitskämpfe in sog. prekären Beschäftigungsfeldern darauf hin, dass – wenn es in diesem schon vor der Krise wachsenden Bereich der Gesellschaft [13] überhaupt zu Kämpfen kommt – diese häufig von »verrückten« Beschäftigten vorangetrieben werden, die entweder glauben, mit ihrem prekären Beschäftigungsverhältnis nicht allzu viel zu verlieren oder die aber über eine »ausgeprägte Orientierung an immateriellen Werten wie Gerechtigkeit, Solidarität und Würde« verfügen. [14]

Allerdings sollte man diesen Hinweis auf die im Kontext einer schweren Weltwirtschaftskrise tendenziell steigende Bedeutung linker Außenseiter nicht dahingehend vereinfachen, dass es dann letztlich diese Außenseiter sind, die die inhaltliche Dimension der sozialen Kämpfe bestimmen werden. Das Verhältnis zwischen sozialen Kämpfen und exponierten sozialen Kämpfern ist komplizierter, wie Piven und Cloward andeuten: »Protestbewegungen werden in der genannten Weise von institutionellen Bedingungen und nicht durch planmäßige Bemühungen von Anführern und ›Organizers‹ geschaffen. Innerhalb dieser engen strukturellen Grenzen existiert jedoch ein gewisser Spielraum für zielgerichtete Aktivitäten. ›Organizers‹ und Anführer haben die Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten – und ihre Entscheidung wird den Kurs der Protestbewegung auch bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Aber der Spielraum ist klein. Er wird auch dadurch nicht größer, dass man die institutionellen Schranken leugnet und Strategien verfolgt, die den Realitäten hohnsprechen. Es ist allemal weiser, die Grenzen zu erkennen und den gegebenen Spielraum so weit wie möglich auszunutzen. Nur so lässt sich der potentielle Einfluss der Unterschicht voll geltend machen. Falls unsere Schlussfolgerungen richtig sind, kann das nur heißen, dass solche Strategien zu verfolgen sind, die die Wucht und Wirkung des Protests in jedem Stadium seiner Genese und Entwicklung eskalieren.« [15]

Entwicklungsperspektiven

Was aber nun, wenn sich die gegenwärtige Krise nicht zu einer schweren Weltwirtschaftskrise auswächst? Werden die obigen Überlegungen dann nicht bald jeden Wert verloren haben? Die Antwort liegt in der Sichtweise, die wir als Linke auf die mittel- bis- langfristigen Entwicklungsperspektiven des Kapitalismus haben: Entweder betrachten wir den Kapitalismus als eine Produktionsweise, die ein unerschöpfliches Regenerationspotential besitzt, so dass sie jede immanente Krise bis ans Ende aller Tage nur dazu nutzt, um danach mit der gleichen Vitalität und Dynamik neue Prosperitätsperioden zu durchlaufen, sollte es nicht zufällig gelingen, diese Produktionsweise aufzuheben. In diesem Fall wäre die Überwindung der gegenwärtigen Krise nur ein weiterer Beleg für die unendlichen Leben des Kapitalismus, und der Zusammenhang von Krise und sozialem Kampf wäre anders als hier zu diskutieren. Oder aber wir verstehen den Kapitalismus als vergleichsweise kurze Epoche der Menschheitsgeschichte, in der sich die menschlichen Produktivkräfte zwar faszinierend schnell vervielfachen, deren Umgang mit Arbeit und Natur als den Grundlagen menschlichen Reichtums jedoch in absehbarer, wenn auch nicht genau bestimmbarer Zeit in eine Art »Akkumulationssackgasse« führt, so dass das Problem der Aufhebung dieser Gesellschaft spätestens dann immer drängender wird. Im letzteren Fall wird das Ende der aktuellen Krise infolge von Nullzinspolitik, staatlichen Billioneninvestitionen, Lohnzurückhaltung etc. nicht erstaunen. Denn in ihrem Zeitgewinn zeichnen sich die neuen Verwerfungen der bürgerlichen Gesellschaft bereits greifbar ab, und die Zeit der Treibhausblüten käme wieder. Nur dürfte diese Zeit dann – man denke etwa an die gegenwärtig entstehenden Defizite der öffentlichen Haushalte – noch intensiver, noch länger und noch schwerer überwindbar sein, schließlich befinden wir uns womöglich bereits am Eingang der großen historischen Sackgasse der bürgerlichen Gesellschaft.

* Slave Cubela ist Betriebsrat beim CeBeef und Mitglied der Redaktion.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/09


(1) Mit einer schweren Weltwirtschaftskrise verbinden wir im Folgenden all jene ökonomischen Phänomene, die insbesondere in der Großen Depression nach 1929 zu Tage traten, wie z.B. einbrechende Industrieproduktion, schrumpfender Welthandel, steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne und sinkender Lebensstandard insbesondere der Lohnabhängigen. Dass die gegenwärtige Krise hierbei in mancherlei Hinsicht schneller ist als die Weltwirtschaftskrise 1929, zeigen seriöse bürgerliche Zeitungen. (Vgl. Philip Plickert, Große Depression 2.0, in: FAZ, 14. April 2009) Ob sie ähnlich lang anhaltend sein wird wie die Krise nach 1929, bleibt jedoch abzuwarten. Deshalb ist es gegenwärtig noch unklar, ob die Welt sich tatsächlich am Beginn einer schweren Weltwirtschaftskrise befindet.

(2) Frances Fox Piven/Richard A. Cloward: »Aufstand der Armen«, Frankfurt a.M. 1986, S. 36f.

(3) Ebd., S. 175

(4) Michael Kittner: »Arbeitskampf. Geschichte – Recht – Gegenwart«, München 2005, S. 517. Einen anderen, nichtsdestotrotz aktuellen Aspekt für das Scheitern der deutschen Gewerkschaften nach 1929 betont Manfred Scharrer, wenn er schreibt: »Als subjektive Schranke einer kämpferischen Politik – neben den bereits genannten – erwies sich eine angeblich altbewährte gewerkschaftliche Handlungslogik. Nach dieser hatte man einer ökonomischen Krise vorsichtig und hinhaltend zu begegnen, um dann beim nächsten Konjunkturaufschwung verlorenes Gelände wieder gutzumachen. Diese Logik wurde durch die beispiellose Krise ab 1929 gründlich widerlegt. Immer wenn es schien, die Talsohle der Krise sei erreicht, begann erst der richtige Abschwung. Das Warten der Gewerkschaften auf die immer nächst bessere Gelegenheit musste demoralisierend wirken, da sich immer nur schlechtere Gelegenheiten ergaben. Am Schluss waren die Ge-werkschaften dann tatsächlich kampfunfähig.« Vgl. Manfred Scharrer: »Anpassung bis zum bitteren Ende. Die freien Gewerkschaften 1933«, in: Ders. (Hg.): »Kampflose Kapitulation. Arbeiterbewegung 1933«, Hamburg 1984, S. 83

(5) Karl Marx: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«, 3. Band, in: Marx Engels Werke, Berlin 1979, S. 263

(6) Daniele Ganser: »NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung«, Zürich 2008

(7) Mathias Monroy / Hanne Jobst: »Rezession und Repression«, s. www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29952/1.html externer Link (19. März 2009)

(8) Beverly Silver: »Arbeiterbewegung, Krieg und Weltpolitik: Die gegenwärtige Dynamik aus welthistorischer Perspektive«, s. http://worldwide-wildcat.de/dossiers/forcesoflabor/silver_linz_paper.pdf externer Link pdf-Datei (2. April 2009)

(9) Ebd.

(10) Frances Fox Piven/Richard A. Cloward (Fußnote 1), S. 131. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die berühmte Studie über »Die Arbeitslosen von Marienthal« im Zeitraum des Herbstes 1931 und des Frühjahrs 1932 entstand, also in einer Phase, als die Große Depression die Deklassierten weltweit lähmte. Vgl. Maria Jahoda / Paul F. Lazarsfeld / Hans Zeisel: »Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch«, Frankfurt a.M., 1982, S. 30f.

(11) Vgl. Manfred Bock: »Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik«, Darmstadt 1993. Und: Ders.: »Geschichte des »linken Radikalismus« in Deutschland. Ein Versuch«, Frankfurt a.M. 1976

(12) Frances Fox Piven/Richard A. Cloward (Fußnote 1), S. 177ff.

(13) Einer Studie der OECD zufolge arbeiten gegenwärtig 60 Prozent aller Beschäftigten weltweit ohne regulären Anstellungsvertrag und Aussicht auf Sozialleistungen. Vgl. »Keine Sicherheit. 1,8 Milliarden Menschen arbeiten ohne Vertrag und Sozialleistungen«, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10. April 2009 (Nr. 83), S. 19

(14) Ingrid Artus: »Prekäre Vergemeinschaftung und verrückte Kämpfe. Repressive Integration als Herrschaftsmodus im Dienstleistungsbereich«, in: Prokla, Nr. 150, März 2008, S. 27-48

(15) Frances Fox Piven/Richard A. Cloward (Fußnote 1), S. 61f.


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