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Updated: 18.12.2012 15:51
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Krisenfest oder Krisen-Fest?

Slave Cubela zu einem schwierigen Verhältnis aus aktuellem Anlass

Ja, die Krise. Manche beschäftigt sie mehr, als ihnen lieb ist, andere finden sich endlich bestätigt, wieder andere sind euphorisiert, manche eher frustriert, manchen geht sie zu weit, anderen nicht weit genug. Genug der Larmoyanz: Es zeigt sich in den sehr disparaten Reaktionsmustern auf die gegenwärtige Krise, dass ernsthafte theoretische Bemühungen, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie und empirische Zeitdiagnose im Zusammenhang zu diskutieren, zu lange vernachlässigt wurden. Der Zeitgeist schwankte mal hier, mal da hin, die letzte Boomphase einer Beschäftigung mit Marx in den späten 60er und frühen 70er Jahren (Stichwort: »Neue Marx-Lektüre«), so minoritär sie selbst damals war, produzierte einen Berg voll offener und kontroverser Fragen – und da liegen sie bis heute und warten, abgetragen zu werden. Marx als erkenntnistheoretisch reflektierte Kritik der Verhältnisse und nicht als die bessere, weil umfassendere, genauere, prognostisch überlegene Theorie, also als die »richtige« Beschreibung ökonomischer Verhältnisse oder gar Handlungsanleitung für ein neues Parteiprogramm zu lesen – das ist ein uneingelöstes Desiderat. Auch, da brauchen wir gar nicht in die Ferne schweifen, innerhalb der Redaktion. Das wurde nicht zuletzt deutlich auf der express-Tagung »Dann machen wir es halt selbst. Produktion und Emanzipation bei Marx und heute« am 31. Januar in Frankfurt a.M. Slave Cubela hatte dort versucht zu zeigen, inwiefern die Arbeitswerttheorie, der Klassenbegriff und der emanzipatorische und revolutionäre Anspruch, der mit »produktiver Arbeit« als bürgerlicher Abgrenzung zur Feudalität verbunden war, keine Erfindungen von Marx, sondern Allgemeingut der bürgerlichen politischen Ökonomie und des Frühsozialismus waren. Nadja Rakowitz hatte an Marx’ Proudhon-Kritik diskutiert, inwiefern Kapitalismuskritik bei Marx über Verteilungsfragen und damit zusammenhängende Gerechtigkeitsvorstellungen hinausgeht, Produktionsverhältnisse als gesellschaftlichen Entfremdungszusammenhang in den Blick nimmt und auf eine Selbstbestimmung auf allen Ebenen jenseits nationalstaatlicher Regulierungen zielt. Und Wolfgang Schaumberg hatte anhand seiner Erfahrungen in einem Großbetrieb wie Opel versucht zu zeigen, dass dieser »Traum« gar nicht so weit weg und abstrakt ist, wie vermutet, wenn Produktion als Aneignung begriffen wird, was nicht heiße, die verkehrten Formen, in denen diese stattfinde, nicht kritisieren zu müssen. Bei solcher Spannbreite nicht verwunderlich waren kontroverse Diskussionen. Denn was heißt es vor diesem Hintergrund, wenn Marx schreibt, dass die »Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von dem sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen« und dass eine »Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins« erfolgen solle? Was bedeutet dies für die Linke, für die ArbeiterInnenbewegung und für das Verhältnis beider vor dem Hintergrund der aktuellen Krise? Braucht es ›die Krise‹, damit die Linke endlich Gehör findet und ihre – woher gewonnenen? – Einsichten »in die Bewegung tragen kann«, wie einige meinen? Oder dafür, dass die Verhältnisse ggf. auch ohne die Linke zu tanzen angefangen haben, wie die Anhänger der These von den »kapitalimmanenten Verwertungsproblemen« meinen? Oder ist die Krise eher umgekehrt von den ArbeiterInnen gemacht, wie es in der operaistischen Tradition heißt, und daher ein Dauerbrenner? Doch wenn Kapitalismus grundsätzlich nicht krisenfrei zu denken ist und deshalb immer Anlass zu Kritik und sozialen Auseinandersetzungen bietet, verschwimmt dann nicht das Kriterium zu den »großen Krisen«? Die Verhältnisse sind komplizierter als diese einfachen Gegenüberstellungen suggerieren, und deshalb wird auch der folgende Beitrag von Slave Cubela über »Krise und soziale Kämpfe« – eine erste Reaktion auf die Tagungsdiskussionen – nicht der letzte und nicht unwidersprochen bleiben. Versprochen.

Es ist noch nicht lange her, dass man in linken politischen Kreisen mit der Andeutung, dass eine schwere globale Wirtschaftskrise in naher Zukunft zu erwarten sei, bestenfalls Gehör fand. Üblicher waren abrupte Gegenreaktionen wie z.B. der Verweis darauf, dass solche Krisenprognostik mit Blick auf die Entwicklung des Kapitalismus längst überholt sei, oder aber die Frage, welche Bedeutung denn eine solche Krise, wenn sie denn einträfe, für eine links-emanzipatorische Praxis überhaupt habe.

Inzwischen hat sich in dieser Hinsicht ohne Zweifel einiges verändert. Doch auch wenn in der Linken die Krisendynamik des gegenwärtigen Kapitalismus inzwischen breit diskutiert und dabei vielfach davon ausgegangen wird, dass durch die Konterkarierung der neoliberalen Diskurse neue Spielräume für die eigene Praxis entstünden, so herrscht doch immer noch große Unsicherheit bezüglich der Interpretation dieser Krise. Ist das alles nicht doch nur eine Episode, d.h. wird der alte Schlawiner Kapitalismus nicht bald in neuer Festigkeit wieder vor uns stehen? Wird die Krise nicht nur der Linken, sondern auch womöglich der Rechten Zulauf geben? Und grundsätzlicher noch: In welchem Verhältnis steht diese Krise überhaupt zu den sozialen Kämpfen? Ist sie Produkt derselben und wenn ja, inwiefern? Oder ist es eher umgekehrt so, dass die Krise diese Kämpfe befeuern wird, und wenn ja, ist diese letzte Vorstellung nicht zu mechanistisch, eindimensional, schematisch?

Zur Diskussion dieser Unsicherheiten ist es aus verschiedenen Gründen zunächst hilfreich, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zwischen stabilen und instabilen Herrschaftsperioden zu unterscheiden. Erstens: treffen wir diese Unterscheidung nicht, dann erscheint der Kapitalismus unweigerlich als eine Art beständige soziale Dauerkrise, und es hätte den Anschein, als ob diese Gesellschaft keine goldenen Zeitalter gekannt hätte, in denen eine radikale Transformation dieser Gesellschaft außer Reichweite war. [1] Zweitens: wenn wir stabile Herrschaftsperioden innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft unterstellen, dann behaupten wir nicht, dass es innerhalb dieser Gesellschaft völlig statische Phasen ohne soziale Kämpfe gegeben hätte, sondern wollen nur dem Phänomen Rechnung tragen, dass in bestimmten Perioden diese Kämpfe durch ihre beschränkten Ziele oder ihre beschränkte Massenbasis keine Aufhebung des Kapitalismus greifbar machen können. Drittens schließlich: mit dieser Unterscheidung präzisiert sich das Problem des Verhältnisses von Krise und sozialem Kampf insofern, als es nun gilt, zwei Fragen zu beantworten: Wie stellen sich stabile Sozialverhältnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft her? Und wann und vor allem warum werden sie erschüttert, so dass der globale Kapitalismus immer wieder in Phasen der Instabilität übergeht?

Nimmt man die erste der beiden Fragen auf, dann kann man antworten: Soziale Stabilität zeichnet die bürgerliche Gesellschaft immer dann aus, wenn die beherrschten Klassen entweder mit diesen Verhältnissen zufrieden sind oder aber sie sich ihnen gegenüber ohnmächtig fühlen. Auf der einen Seite also gelingt es der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder – durch materielle Partizipation, ihre verschiedenen Fetischformen und durch geschickte Kommunikationsstrategien der herrschenden Klassen –, dafür zu sorgen, dass in der Wahrnehmung der beherrschten Klassen die sozialen Verhältnisse mit ihren eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen, Hoffnungen und Träumen überein zu stimmen scheinen. Auf der anderen Seite wiederum gelingt es der bürgerlichen Gesellschaft, diese Legitimitätsproduktion durch die Entwertung oder Verzerrung des sozialen Selbstbewusstseins der beherrschten Klassen zu flankieren, d.h. selbst wenn diese Klassen an den Verhältnissen zu zweifeln oder zu verzweifeln beginnen, bleiben sie ohne für sie erkennbare subjektive oder objektive Potentiale zur Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft paralysiert. Schlimmer noch, es droht eine regelrechte Ohnmachtsspirale innerhalb der beherrschten Klassen, denn wenn die vorhandene Unzufriedenheit immer wieder lediglich in bürgerlichen Organisationsformen und Horizonten mündet, dann sind Kampferfolge zwar möglich, doch sie behalten einen provisorischen Charakter, da sie nach der Erschöpfung der Kämpfe und mit dem Fortbestand der bürgerlichen Verhältnisse meist kassiert werden.

Damit kommen wir zur zweiten Frage: Warum und wie wird diese Legitimitäts- und Ohnmachtsproduktion innerhalb der beherrschten Klassen durchbrochen, warum und wie kommt es zu jenen Phasen instabiler Herrschaft, in denen der Kapitalismus wankt und seine Überwindung in greifbare Nähe rückt? Wirft man zur Beantwortung dieser Frage einen eingehenden Blick auf die Marx’sche Theorie, dann scheint es, als ob dort eine ungeheure Vielzahl von Faktoren eine solche Instabilität zur Folge haben kann, so dass Marx nicht von ungefähr schreibt: »Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde. Sie wäre andererseits sehr mystischer Natur, wenn ›Zufälligkeiten‹ keine Rolle spielten. Diese Zufälligkeiten fallen natürlich selbst in den allgemeinen Gang der Entwicklung und werden durch andere Zufälligkeiten kompensiert. Aber Beschleunigung und Verzögerung sind sehr von solchen ›Zufälligkeiten‹ abhängig – unter denen auch der ›Zufall‹ des Charakters der Leute, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehen, figuriert.« [2] Doch auch wenn hiermit nach Marx insbesondere historische Beschleunigungen und Verzögerungen vom Zufall abhängen, dann mündet die Marx’sche Gesellschaftskritik damit keineswegs in das Postulat einer abstrakten Vielgestaltigkeit und Offenheit des historischen Prozesses, sondern sie verweist jenseits des Zufalls zugleich auf einen zentralen ›Motor‹ der Geschichte, der – vor allem bei genauerer langfristiger Geschichtsbetrachtung – die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit auch die bürgerliche Gesellschaft permanent in Bewegung hält: die menschliche Arbeit.

Betrachten wir diesen ›Motor‹ bei Marx im Folgenden etwas genauer, dann fällt zweierlei auf. Einerseits, so betont Marx beharrlich, fußt die bürgerliche Gesellschaft auf der unablässigen Steigerung der Arbeitsproduktivität, und das impliziert, dass alle anderen ökonomischen Erscheinungsformen dieser Gesellschaft abhängige Variable dieses Zwangs zur Dauerentwicklung der menschlichen Arbeit sind. Die Größe der industriellen Reservearmee etwa ist abhängig von der nachgefragten Arbeitskraft, und damit ist zugleich auch die Lohnentwicklung entscheidend durch den jeweiligen Stand der Arbeitsproduktivität geprägt. Auch die Ausweitung der Zirkulation insbesondere durch die Expansion des Weltmarkts und des Kredits hängt ab von der Arbeitsproduktivität, denn da diese kontinuierlich ansteigt, müssen auch entsprechende Absatzmärkte stets zur Verfügung stehen. Des Weiteren sorgt die unaufhörliche Steigerung der Arbeitsproduktivität für eine immer stärker werdende Tendenz zur Überakkumulation des Kapitals und damit für eine verschärfte Krisenanfälligkeit der bürgerlichen Gesellschaft, denn zum einen ist dies Kapital letztlich nur aufgehäufte menschliche (Mehr-) Arbeit, d.h. je produktiver die Arbeit wird, desto größer werden auch die aufgehäuften Kapitalmengen; zum anderen sorgt die steigende Arbeitsproduktivität zugleich dafür, dass die rentable Re-Investition dieser Kapitalmengen immer schwieriger wird, da auf fortgeschrittenen Produktionsniveaus immer größere Kapitalmengen für immer kleinere Produktivitätsfortschritte nötig werden [3], so dass das Kapital auf diesen Fall der allgemeinen Profitrate reagiert und z.B. die Internationalisierung der Produktion forciert oder in soziale Bereiche eindringt, in denen es bisher keine oder kaum eine Rolle spielte, oder indem es zu Finanzkapital wird, das dann diverse Prozesse fiktiver Kapitalanhäufung durchläuft.

Andererseits: Auch wenn Marx um die stille, aber gewaltige Maulwurfsarbeit der menschlichen Arbeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft wusste und uns diese in seiner Kritik der politischen Ökonomie zu Bewusstsein zu bringen suchte, so sah er zugleich, wie schwierig, ja fast unmöglich es für die Subjekte der Arbeitsproduktivität, die Lohnarbeiter, sein muss, sich der allumfassenden sozialen Dimension ihrer alltäglichen Reproduktionspraxis bewusst zu sein. Der Arbeitslohn verbirgt das »Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters« [4] zum Zwecke der Mehrwertgewinnung diesem selbst, so dass dem Lohnarbeiter seine sich beständig dynamisierende Produktion des zusätzlichen gesellschaftlichen Reichtums letztlich als statischer Prozess, als im besten Fall durch Lohnerhöhungen veränderter gerechter Tauschkreislauf erscheint. Teilung der Arbeit in geistige und körperliche, ihre Kombination unter dem Kommando des Kapitals, die Degradierung der Arbeitskraft zum Anhängsel der Maschine und letztlich die Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft durch Verwissenschaftlichung und Technologisierung der Produktion sorgen außerdem dafür, dass die eigene Produktivkraft als Produktivkraft des Kapitals erscheint. Zu guter Letzt ist die »Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse« [5] dafür entscheidend, dass die ökonomische und gesellschaftliche Totalität im Bewusstsein der Lohnabhängigen – ähnlich wie etwa in der Vulgärökonomie – in verschiedene, voneinander unabhängige Sphären zerfällt, die scheinbar alle in relativer Selbständigkeit nebeneinander und insofern bloß äußerlicher Wechselwirkung miteinander stehen und deren Abhängigkeit von der menschlichen Arbeit völlig in den Hintergrund tritt.

Übertragen wir diese Marx’schen Erkenntnisse auf unsere Frage nach der Entstehung von instabilen Herrschaftsphasen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, dann können wir das Ergebnis so formulieren: Auch wenn die Arbeiter ihre tägliche Lohnarbeit meist nur als Wiederkehr des Ewiggleichen, als durch die Lohnzahlung scheinbare abgegoltene bloße Plackerei zum Zwecke der eigenen Reproduktion erfahren, ist es doch diese implizit produktiver werdende Arbeit, die still und leise die gesellschaftliche Totalität der bürgerlichen Gesellschaft instabiler werden lässt, indem sie mit naturnotwendiger Sicherheit jene Widersprüche entwickelt, die früher oder später in große Weltmarktkrisen münden müssen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Hiermit wird nicht behauptet, dass jede instabile Phase des Kapitalismus durch Arbeit produziert wird, aber indem die Lohnarbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft arbeiten, wie sie arbeiten, sorgen sie nach Marx mit zyklischer Notwendigkeit dafür, dass sie sich selbst massenhaft die beschränkte Befriedigung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verderben und dass auf jede Prosperität die Krise folgt.

Doch auch wenn es der Umgang der Gesellschaft mit der menschlichen Arbeit ist, der zyklisch im Kapitalismus die Verhältnisse unaufhaltsam instabiler macht, dann langt dieser Hinweis nicht, um die Entstehung instabiler Herrschaftsperioden im Kapitalismus zu erklären, denn die Arbeiter haben mit der Produktion der Krise keineswegs ihre eigene Ohnmacht überwunden. Wie kann sich also neben der selbst produzierten Unzufriedenheit über die sozialen Verhältnisse auch die Selbsterkenntnis der Macht der eigenen Arbeit einstellen?

Erneut ist es sinnvoll, den historischen Zufall im Hinterkopf zu behalten, dennoch können der Orientierung halber zwei idealtypische Wege zur Erlangung dieser Selbsterkenntnis und damit eines radikalen Machtbewusstseins der Arbeiter umrissen werden, nämlich eine kontinuierliche Genese dieses radikalen Machtbewusstseins sowie eine nachholende Entwicklung hin zu selbigem.

Die These einer kontinuierlichen Genese des radikalen Machtbewusstseins – bei Marx übrigens im Zentrum seiner Überlegungen zu diesem Thema – führt uns zunächst zurück in die stabile Phase kapitalistischer Herrschaft. Da, wie anfangs angemerkt, auch in dieser Phase Kämpfe der ArbeiterInnen – zumeist als Lohnkämpfe – nicht ausbleiben, können die ArbeiterInnen in diesen Kämpfen Erfolge und damit erste Kostproben der eigenen Macht machen. Gelingt es ihnen, diese Erfolge und die dabei gemachten Erfahrungen kritisch zu reflektieren, und gelingt es wiederum, diese Reflexionen zu tradieren und damit eine lebendige Kontinuität von Kampf- und Machterfahrungen innerhalb und außerhalb ihrer spezifischen Kampfformationen zu sichern [6], dann wird die Krise für diese ArbeiterInnen zwar ihren Schrecken nicht verlieren. Doch neben den spezifischen Zutaten der Krise [7] sind somit auch unter den Lohnabhängigen sehr viele Ansatzpunkte vorhanden, um in der Krise über ihre bürgerlichen Beschränkungen hinausgehen.

Die nachholende Entwicklung hin zu einem radikalen Klassenbewusstsein wiederum geht zunächst von einem umgekehrten Szenario aus: Da hier die Kämpfe der Arbeiter innerhalb der stabilen Periode punktuell geblieben sind, insbesondere Erfolge also keine weitergehenden Debatten und Tradierungen innerhalb der Lohnabhängigen zur Folge hatten, trifft die Krise im Anfang auf eine zersplitterte und ängstliche Arbeiterschaft, die die Lösung der Krise von oben erhofft und die die Krise ihrem äußeren Anschein nach als Geld- und Kreditkrise [8] versteht. Doch auch wenn damit im Anfang der Krise keine radikale Praxis der Arbeiter gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft möglich scheint, besteht in der Entfaltung der sozialen Widersprüche des Kapitalismus durch die Krise, in der plötzlichen Beschleunigung und ungeheuren Aufladung der sozialen Prozesse für die ArbeiterInnen doch die Möglichkeit, Kampf- und Erfolgserfahrungen nachholend zu durchlaufen, so dass an deren Ende ein radikales Machtbewusstsein der ArbeiterInnen stehen kann. Wohlgemerkt »kann« – denn die Krise ist zwar ein ›soziales Treibhaus‹, da sie wie von Geisterhand die Alltagsstrukturen- und Mentalitäten [9] sehr vieler Menschen infragestellt, bedroht und zerstört, so dass zum einen der soziale Kampf für die eigenen Interessen immer nahe liegender wird und da dann zum anderen Erfahrungen, für die es sonst Jahrzehnte braucht, in kurzer Zeit machbar sind. Aber weder ›gibt‹ die Krise den ArbeiterInnen spontane Einsichten, noch sollte unbemerkt bleiben, dass blanke Verzweiflung – die bei einer ängstlichen Arbeiterschaft die Hauptmotivation der ersten Krisenkämpfe ist – auch schnell in Apathie umschlägt oder dass sie einfache Losungen von rechts attraktiv macht. Eine Gefahr, die doppelt groß ist, denn selbst mit der massenhaften Ausbildung eines radikalen Arbeiterbewusstseins ist der letztliche Sieg der Arbeiter und damit die Überwindung des Kapitalismus nicht gesichert, sondern es ist überhaupt erst Chancengleichheit hergestellt.

Kehren wir zum Schluss in die Gegenwart und damit zu den Ausgangsproblemen der Linken heute zurück. Welchen aktuellen Mehrwert haben die obigen Überlegungen für diese Linke? Erstens: weder haben soziale Kämpfe noch das Finanzkapital, so unlieb uns dessen Vertreter auch erscheinen mögen, diese Krise produziert, sondern die Lohnarbeitenden haben nach einem langen Zyklus und trotz seit knapp drei Jahrzehnten erlahmender Kampfbereitschaft [10], ohne es zu wollen, durch die schlichte Art, wie sie arbeiten (müssen), dafür gesorgt, dass der Kapitalismus instabiler geworden ist. Als Produzenten der Krise sind die Lohnarbeitenden insofern auch der potentielle Ausweg aus derselben. Zweitens: die Hoffnung der Linken kann in dieser Krise nur in einer nachholenden Entwicklung hin zu einem radikalen Arbeiterbewusstsein liegen, denn drei Jahrzehnte erlahmender Arbeiterkämpfe sind nicht auf die Schnelle kompensierbar. Damit ist dies aber auch eine vage Hoffnung, denn auf die großen Gefahren dieser nachholenden Entwicklung zu einem radikalen Machtbewusstsein der ArbeiterInnen haben wir hingewiesen. Trotzdem sollte die Linke ihre Praxis an dieser Hoffnung orientieren, d.h. es gilt, eigene Versäumnisse [11] auszubügeln und den sozialen Kontinent der Arbeiterklasse für diese Linke wieder zu entdecken sowie sich dabei auf mehr als eine Enttäuschung gefasst zu machen, denn die ungünstigen Voraussetzungen dreier verlorener Jahrzehnte, mit denen die Lohnarbeitenden in diese Krise gehen, werden politizistische und nationalistische Kurzschlüsse nach sich ziehen. [12] Und schließlich sollte die Fähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, manifester werdende Schwierigkeiten hinauszuzögern, nicht von der Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft ablenken, langwierige Krisenphasen zu durchlaufen. Anders gesagt: Es ist nicht auszuschließen, dass massive Konjunkturprogramme, Nullzinspolitik und Verstaatlichungsstrategien der großen Industrieländer bald Erfolge zeitigen. Doch wenn dies nicht der Beginn einer großen Weltmarktkrise ist, dann ist es mit Sicherheit der Vorbote einer solchen in den nächsten 10-20 Jahren, und das meint: Wir stehen vor einer derart langen Zeit intensiver sozialer Spannungen, dass von einem baldigen neuen goldenen Zeitalter des Kapitalismus einstweilen nicht auszugehen ist. Ob wir deshalb als Linke dahin kommen, erneut eine instabile Phase kapitalistischer Herrschaft mit herzustellen, ja womöglich die Aufhebung derselben in greifbare Nähe rückt, werden wir sehen. Es sollte aber motivieren, da mit der Krise die Unmenschlichkeit nicht nur eine große, sondern auch eine nahe Zukunft hat.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/09


Anmerkungen

(1) Folgt man Eric J. Hobsbawm, dann gab es ein solches goldenes Zeitalter nicht nur zwischen 1945 und 1990 (E. J. Hobsbawm: »Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts«, München 1998), sondern bereits vorher, denn er schreibt: »Für die Mehrzahl des Staaten des bürgerlichen und kapitalistischen Westens (...) war die Periode von 1875-1914 und ganz besonders die von 1900 bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs trotz aller Unruhen und Abweichungen von der Normalität eine Zeit der politischen Stabilität. Bewegungen, die das System ablehnten, wie der So-zialismus, waren in seinem Netz gefangen oder konnten sogar – wenn sie genügend machtlos blieben – als Katalysatoren für den Konsens der Mehrheit dienen.« (E. J. Hobsbawm: »Das imperiale Zeitalter 1875-1914«, Frankfurt am Main 2004, S. 141f., vgl. auch ebd.,S. 134, 153, 174.)

(2) Marx Engels Werke (MEW), Bd. 33, Berlin 1983, S. 209

(3) Wenn nach Marx Kapitalüberakkumulation und tendenzieller Fall der Profitrate Hand in Hand gehen, dann steckt in der These vom tendenziellen Fall der gesellschaftlichen Profitrate auch der Hinweis, »dass mit der relativen Abnahme des variablen Kapitals, also der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit eine wachsend größre Masse Gesamtkapital nötig ist, um dieselbe Arbeitskraft in Bewegung zu setzen und dieselbe Masse Mehrarbeit einzusaugen.« (»Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«, Bd. 3, MEW, Bd.25, Berlin 1983, S. 232) Dass diese These Marxens auch z.B. im Hinblick auf die sog. IT-Revolution Bestand hat, d.h. dass auch deren Produktivitätsfortschritte keine historische Ausnahme darstellen, zeigt Doug Henwood: »After the New Economy«, New York 2003, S. 39ff.

(4) Karl Marx: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«, Bd. 1, MEW, Bd. 23, Berlin 1962 S. 562

(5) Karl Marx: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«, Bd. 3, MEW, Bd. 25, Berlin 1982, S. 838

(6) Die kontinuierliche Genese eines radikalen Machtbewusstseins hat Marx im Blick, wenn er schreibt: »Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: ›Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.‹« (Enthüllungen über den Kommunisten-prozeß zu Köln (1852), MEW, Bd. 8, Berlin 1972, S. 412) Die Bedeutung der Lohnkämpfe hebt er wiederum hervor, wenn er bemerkt: »Abgesehen davon, daß die Tatsache des industriellen Zyklus mit seinen verschiedenen Phasen alle solche Durchschnittslöhne unmöglich macht, bin ich ganz im Gegenteil davon überzeugt, daß das aufeinanderfolgende Steigen und Fallen der Löhne die ständigen daraus resultierenden Kämpfe zwischen Fabrikanten und Arbeitern in der gegenwärtigen Organisation der Produktion die unerläßlichen Mittel sind, den Kampfgeist der Arbeiterklasse lebendig zu halten, diese in einer einzigen großen Vereinigung gegen die Übergriffe der herrschenden Klasse zusammenzufassen und sie davon abzuhalten, zu Mitleid heischenden, gedankenlosen, mehr oder weniger gut ernährten Produktionsinstrumenten zu werden.« (»Die russische Politik gegenüber der Türkei – Die Arbeiterbewegung in England«, MEW, Bd. 9, Berlin 1960, S. 170f.)

(7) Bemerkenswert ist insbesondere die Totalitätsdimension der Krise, denn: »Es sind die Krisen, die diesem Schein der Selbständigkeit der verschiedenen Elemente, worin sich der Produktionsprozeß beständig auflöst und die er beständig rückerzeugt, ein Ende machen.« (»Theorien über den Mehrwert«, Bd. 3, MEW, 26.3, Berlin 1977, S. 507)

(8) »In einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht, wenn da der Kredit plötzlich aufhört und nur noch bare Zahlung gilt, muss augenscheinlich eine Krise eintreten, ein gewaltsamer Andrang nach Zahlungsmitteln. Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar.« (»Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«, Bd. 3, MEW, Bd. 25, Berlin 1982, S. 507)

(9) »Wenn die Leute in der so analysierten Gesellschaft nicht mehr ihre Alltäglichkeit leben können, dann beginnt die Revolution. Nur dann. Solange sie das Alltägliche leben, rekonstituieren sich die alten Verhältnisse.« (Henri Lefebvre, zit. nach Frances F. Piven/Richard A. Cloward: »Aufstand der Armen«, Frankfurt am Main 1986, S. 35)

(10) Legt man Beverly Silvers Zahlen über die Entwicklung der globalen Arbeiterkämpfe zugrunde, dann ist ab ca. 1980 eine deutliche Abnahme dieser Kämpfe bis in die Gegenwart zu konstatieren. (B. Silver: »Forces of Labor: Workers’ Movements and Globalization since 1870«, Cambridge 2003)

(11) Die Linke wusste einstmals mit Marx, dass sich in jedem industriellen Aufstand – so partiell er auch sein mag – eine universelle Seele versteckt (vgl. »Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen«, MEW, Bd. 1, Berlin 1978 S. 408), und sie wusste auch, dass es ihre theoretisch-kritische Aufgabe im sozialen Kampf ist, auf diese universelle Seele innerhalb der Arbeiterschaft hinzuweisen. (Vgl. Kirsten Huckenbeck: »Isolierte Kämpfe – universalistische Seelen«, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.): »Eine Politik sozialer Menschenrechte in Zeiten von Verarmung und Repression«, Köln 2004, S. 121-142) Allein: in ihrem Bemühen, den Traditionalismen und Sackgassen der Arbeiterbewegung zu entgehen, und in dem vermeintlichen Glauben, damit auf der Höhe der Zeit zu sein, hat die Linke dieses Wissen in weiten Teilen seit den siebziger Jahren verdrängt und sich stattdessen den diversen neuen Subjekten, neuen sozialen Bewegungen, neuen Kämpfen etc. zugewandt. Die Folge ist nicht nur eine Linke, der das Verständnis dieser Krise und der Arbeiter in ihr schwer fällt, sondern auch Arbeitermassen, die, wie es Stephane Beaud und Michel Pialoux ausdrücken, mit dem Gefühl in die Krise gehen, »dass sie nicht mehr an etwas ›Großem‹ teilhaben, an etwas, das über die ›enge‹ Welt, in der sie leben, hinausweist und das ihnen erlaubt, sich mit anderen zu identifizieren.« (Stéphane Beaud/Michel Pialoux: »Die verlorene Zukunft der Arbeiter«, Konstanz 2004, S. 273)

(12) Die gegenwärtig in Großbritannien erhobene Forderung »British Jobs für British Workers« ist ein trauriges Beispiel für diese Gefahren.


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