Als amerikanische Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen sind wir besorgt über die jüngsten Pläne der deutschen Regierung, die deutsche Wirtschaft nach dem Muster des angeblichen „amerikanischen Modells" umzubauen und zu deregulieren. Dieses Bemühen, die Vereinigten Staaten zu imitieren, beruht auf Mißverständnissen über den Kern der jüngsten amerikanischen Erfolge – und über die Tragfähigkeit des amerikanischen Weges. Wir sind uns des schwerwiegenden Problems der Arbeitslosigkeit in Deutschland bewußt; die angekündigte Politik könnte jedoch die tatsächlichen Fortschritte zunichte machen, die deutsche Arbeiter in den letzten drei Jahrzehnten erzielt haben – und dennoch die deutsche Arbeitslosigkeit nicht kurieren.
Es ist wahr, daß die amerikanische Wirtschaft eine Arbeitslosenquote hat, die niedriger ist als zu irgendeiner anderen Zeit in den letzten 25 Jahren. Aber im Gegensatz zum Mythos ist dies nicht durch Deregulierung und wachsende Ungleichheit erreicht worden. In Wirklichkeit nahm die Ungleichheit in den USA am meisten in den 70er und 80er Jahren zu, als auch die Arbeitslosigkeit stieg. Und die Ungleichheit der Löhne und Gehälter ist zwar immer noch viel zu hoch, aber sie ging zurück, als die Arbeitslosigkeit nach der Mitte der 90er Jahre sank. In den letzten Jahren sind die Löhne für Niedriglohnarbeiter überdurchschnittlich schnell gestiegen, die Mindestlöhne wurden angehoben , und die negative Einkommensteuer hat das Nettoeinkommen der Familien mit niedrigem Einkommen gefestigt – all dies bei fallender Arbeitslosigkeit. Das amerikanische Beschäftigungswunder ist auch nicht auf Deregulierung zurückzuführen. Die Beschäftigung ist am meisten in Bereichen wie dem Gesundheitswesen gestiegen, wo der Staat eine nach wie vor große Rolle spielt, nicht dagegen beim LKW- oder Luftverkehr oder bei den Banken, wo die Wirkungen der Deregulierung am größten sind.
Die wichtigste Quelle des amerikanischen Wachstums war eine Politik niedriger Zinsen und reichlichen Kredits von Seiten der Federal Reserve Bank; sie hat eine enorme Welle der Konsumentenkredite und der Kreditaufnahme der Bundesstaaten und Gemeinden für Investitionsprojekte hervorgerufen. Bislang hat sich dies als erfolgreich erwiesen, insbesondere wenn man es mit der Stagnation in Europa vergleicht. Mittlerweile haben wir allerdings Befürchtungen hinsichtlich der Tragfähigkeit eines Booms, der auf solchen Grundlagen beruht. Die Konsumentenverschuldung ist, gemessen als Anteil am verfügbaren Einkommen, 20% höher als zu Zeiten des vorhergehenden Höhepunktes. Das amerikanische Handelsdefizit ist explodiert. Und der US Aktienmarkt hat die Kurs-Gewinn-Verhältnisse auf mehr als das Doppelte ihres historischen Durchschnitts angehoben. Niemand kann sagen, wie oder wann diese Trends umkippen, aber sie sind offensichtlich gefährlich, und sie legen die Vermutung nahe, daß ein fortgesetztes amerikanisches Wachstum eine stärkere und nicht eine schwächere Rolle der Regierung in der Wirtschaft erfordert.
Anders als die amerikanische hat die deutsche Wirtschaft während des letzten Vierteljahrhunderts große Fortschritte im Lebensstandard für die überwiegende Mehrheit der Erwerbstätigen gebracht. Auch die – gemessene - Steigerung der Produktivität in Deutschland hat die in den Vereinigten Staaten überholt, und nach manchen Maßstäben liegt sogar das absolute Niveau der Produktivität heute in Deutschland höher. Daher kann es nicht verwundern, daß auch die Reallöhne in Deutschland hoch sind. Ein Verzicht auf diese Fortschritte hat keine Grundlage, und es gibt absolut keinen Grund dafür, derartiges zu tun.
Die Tendenz, Lohnstandards in Deutschland zu untergraben, wird die Arbeitslosigkeit nicht vermindern. Deutsche Unternehmen werden keine zusätzlichen Arbeiter einstellen, die sie ansonsten nicht benötigen. Demgegenüber werden Einschnitte bei den Renten, Sozialleistungen und öffentlichen Investitionen das Gegenteil bewirken. Eine solche Politik wird auch nicht zu mehr Sparen und Investieren führen: in der Reagan-Ära haben sie jedenfalls nichts dergleichen in den Vereinigten Staaten bewirkt.
Deutschland befindet sich heute Im Griff einer Ideologie der freien Märkte, der Deregulierung und Privatisierung, die von hier ausgegangen ist. Aber weil diese Ideologie die Quelle der amerikanischen Fehlschläge in den 80er Jahren, und nicht der jüngsten Erfolge war, haben viele Amerikaner sie fallengelassen. Der außergewöhnliche Niedergang der deutschen Regierung in den Umfragen zeigt, daß die Menschen in Deutschland diesem Modell mißtrauen – in unseren Augen zu Recht .
In diesem Land wird es zunehmend anerkannt, daß die Regierung eine wesentliche Rolle spielt: um Menschen mit niedrigen Einkommen zu helfen, die Alten durch ein starkes System der sozialen Sicherheit zu unterstützen, wesentliche Infrastrukturen bereitzustellen, für Ausbildung auf allen Ebenen zu sorgen, den Zugang zu erstklassiger Gesundheitsfürsorge zu erweitern und den Finanzsektor angemessen zu regulieren. Deutschland sollte diese positiven Züge der amerikanischen Politik und nicht unsere destruktivste jüngere Phase studieren.
Liste der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:
Randy Albelda, Professor of Economics, University of Massachusetts, Boston
Teresa Amott, Professor of Economics, Bucknell University
Rania Antonopoulos, Economics Professor, New York University, SCPS/GSP
Dean Baker, Senior Research Fellow, Washington, D.C.
Marc Baldwin, Economist, Washington State Senate
James Barrett, Economist, Economic Policy Institute
Dale L. Belman, Associate Professor of Economics, University of Wisconsin, Milwaukee
Peter Berg, Assistant Professor, School of Labor and Industrial Relations, Michigan State University
Jared Bernstein, Senior Economist, Economic Policy Institute
Robert Blecker, Professor of Economics, American University
Barry Bluestone, Russell B. and Andrèe B. Stearns Trustee Professor of Political Economy and Director, Center for Urban and Regional Policy, Northeastern University
Michael Brun, Associate Professor of Economics, Illinois State University
Jim Campen, Professor of Economics, University of Massachusetts, Boston
James Crotty, Professor of Economics, University of Massachusetts at Amherst
Jane D’Arista, Director of Programs, Financial Markets Center, Philamont, Virginia
James Devine, Professor of Economics, Loyola Marymount University
Paul Davidson, Holly Chair of Excellence in Political Economy, University of Tennessee
Gregory E. DeFreitas, Professor of Economics and Director of the Center for the Study of Labor and Democracy, Hofstra University
Edward Dickens, Assistant Professor of Economics, Drew University
Peter Dorman, Professor of Political Economy, The Evergreen State College
Robert Drago, Professor of Labor Studies and Industrial Relations, Penn State University
Laura Dresser, Director of Research, Center on Wisconsin Strategy
Richard B. Du Boff, Samuel and Etta Wexler Professor Emeritus in Economics, Bryn Mawr College
Gary Dymski, Professor of Economics, University of California at Riverside
Gerald Epstein, Professor, Department of Economics and Political Economy Research Institute (PERI) University of Massachusetts at Amherst
Jeff Faux, President, Economic Policy Institute
David Felix, Emeritus Professor of Economics, Washington University
Marianne A. Ferber, Professor of Economics and Women’s Studies, Emerita, University of Illinois, Urbana-Champaign
Ellen Frank, Associate Professor of Economics, Emmanuel College
Sheldon Friedman, Senior Economist, AFL-CIO Public Policy Department
Steven Fazzari, Professor of Economics, Washington University
Deborah M. Figart Professor of Economics, Richard Stockton College
James Galbraith, Professor at the Lyndon B. Johnson School of Public Affairs and in the Department of Government, The University of Texas at Austin, and Senior Scholar of the Jerome Levy Economics Institute
Teresa Ghilarducci, Professor of Economics, University of Notre Dame
Bill Gibson, Professor of Economics, University of Vermont
Eban Goodstein, Associate Professor of Economics, Lewis and Clark College
Mark Greer, Associate Professor of Economics, Dowling College
Robin Hahnel, Professor of Economics, American University
Emil Haney, Professor of Business and Economics, University of Wisconsin-Richland
Edward Herman, Professor Emeritus of Finance, Wharton School, University of Pennsylvania
Steve Herzenberg, Executive Director, Keystone Research Center
Helene Jorgensen, Labor Economist, Public Policy Department, AFL-CIO
Jane Knodell, Associate Professor of Economics, University of Vermont
Mark Levinson, Chief Economist and Director of Policy, UNITE
Scott Littlehale, Assistant to the President for Trade and Sourcing, UNITE
Catherine Lynde, Associate Provost, University of Massachusetts, Boston
Arthur MacEwan, Professor of Economics, University of Massachusetts at Boston
Ann Markusen, Professor, Hubert Humphrey Institute, University of Minnesota
Ray Marshall, Bernard and Audrey Rapoport Professor Emeritus, Lyndon B. Johnson School of Public Affairs, the University of Texas at Austin, and former United States Secretary of Labor
Elaine McCrate, Professor, Department of Economics and Women’s Studies Program, University of Vermont
Robert McGarrah, Senior Policy Analyst, AFL-CIO Public Policy Department
Michael Meeropol, Professor of Economics and Chair of the Department of Economics, Western New England College
Tom Michl, Associate Professor of Economics, Colgate University
William Milberg, Associate Professor, Economics Department, New School for Social Research
John Miller, Professor of Economics, Wheaton College
Lawrence Mishel, Vice-President, Economic Policy Institute
Monique Morrisey-Duffy, Research Associate, Financial Markets Center, Philamont, Virginia
Tracy Mott, Professor of Economics, University of Denver
Doug Orr, Associate Professor, Department of Economics, Eastern Washington University
Michael Perelman, Professor of Economics, California State University at Chico
Ute Pieper, Economics Department, New School for Social Research
Robert Prasch, Visiting Assistant Professor of Economics, Vassar College
S. Abu Turab Rizvi, Associate Professor of Economics, University of Vermont
Dawn Saunders, Visiting Assistant Professor of Economics, University of Vermont
Charles Sackrey, Associate Professor of Economics, Bucknell University
Max B. Sawicky, Economist, Economic Policy Institute
Marc Schaberg, Chief Financial Officer, Tomorrow Film Corporation
John Schmitt, Economist, Economic Policy Institute
Rob Scott, Economist, Economic Policy Institute
Stephanie Seguino, Assistant Professor of Economics, University of Vermont
Bernard Smith, Professor of Economics, Drew University
Darren Spreeuw, Assistant Professor of Economics, Denver University
Lance Taylor, Professor of Economics, New School for Social Research
Chris Tilly, Professor, Department of Regional Economic and Social Development, University of Massachusetts, Lowell
Frank Thompson, Lecturer, Department of Economics and Head, Social Science Program of the Residential College, University of Michigan
Ross Thompson, Associate Professor of Economics, University of Vermont
Norman J. Waitzman, Associate Professor, Department of Economics, University of Utah
Mark Weisbrot, Research Director, Preamble Center, Washington, D.C.
Thomas E. Weisskopf, Professor of Economics and Director, Residential College, University of Michigan
John Willoughby, Professor of Economics, American University
Martin Wolfson, Professor of Economics, University of Notre Dame