Im Forum 6-7/99 schreibt Klaus Pickshaus in seinem Artikel über den inhaltlichen Gang der Dinge in Richtung ver.di, bisher stünden organisatorische Debatten im Zentrum der Auseinandersetzungen. Das "Programmatische Positionspapier" vom 20.Mai 99, unterzeichnet von den fünf Gewerkschaftsvorsitzenden, ist demnach der späte Versuch, dem ganzen Prozeß eine politische Plattform zu verleihen. Kein Gesamtprogramm soll es sein, sondern eine Positionierung der künftigen Dienstleistungsgewerkschaft in ihrem Bereich. Da ich zu jenen gehöre, die immer wieder davon überrascht sind, wo die Leidenschaften aufflackern (weniger bei den Hauptamtlichen - das Sein bestimmt eben das Bewußtsein), und als resignierter Gegner von ver.di staune, wenn dann plötzlich organisatorische Vorstellungen aus der ÖTV meiner Meinung näher sind, als die der ver.di kritischen Medien-MitstreiterInnen, habe ich doppelt Grund, mich an der inhaltlichen Debatte zu beteiligen: 1. Finde ich sie die wichtigere und, 2. Erst von daher abgeleitet würde für mich eine organisatorische Debatte wirklich Sinn machen.
(Die Kritik ist keine Leidenschaft des Kopfes. Sie ist der Kopf der Leidenschaft.)
Da kommen wir Mitte Juli 99 aus dem Urlaub in Südafrika zurück und die ersten dienstleistenden Menschen auf dem Düsseldorfer Flughafen, die mensch sieht - Gepäcktransport, Wartungsarbeiter, fast food-Bedienungen - sind: aus der Türkei. Nicht eben politaktive Mitreisende spontan: "In Deutschland heißen die Schwarzen Türken..." Tja. Da sieht mensch sie ganz schnell. Im Positionspapier gar nicht. Null! Und traue sich jetzt keine/r zu sagen, es könnte ja nicht alles da drin sein, anderes würde auch fehlen etc pp. Ich habe keine Liste, die ich abhake, um erfreut festzustellen, daß schon wieder was vergessen wurde. Wer über den Dienstleistungsbereich redet und von der Arbeitsmigration schweigt, vergißt nicht irgendetwas, sondern macht (bestenfalls) einen nicht wieder gut zu machenden Fehler. Den anderen Fall möchte ich hier jetzt nicht erörtern - daß es nämlich Absicht sei.
Daß dies der Bereich der Zukunft ist, sagen alle: Ver.di. Der BdA und seine zahllosen Mitarbeiter. Und Schröder/ Hombach/Müller/ Fischer. Die Zunft der heute ach so staatstragenden Soziologen. Die Berliner Dienstleistungsrepublik sozusagen.
Wer das nicht sagt: Die IGBCE zum Beispiel. Und die IG Metall eher selten. Zumal: Kaum jemand kann definieren, was Dienstleistungsbereich ist und was nicht.
Was lehrt uns das? Wenn dieser Satz stimmt, und diese Programmatik so bleibt - dann ist die Zukunft schon entschieden. Gute Nacht. Wo noch Arbeitsplätze geschaffen werden könnten (Pflege, Erwachsenenbildung, Ökologie...) daß es qualifizierte Jobs seien - all diese Passagen im Positionspapier klingen nicht nur arg nach Deklamation: So richtig und wichtig die Frontstellung gegen die Niedriglohnsektor-Strategen bis hin zum DGB Schulte ist, ein paar Überlegungen zum einigermaßen erfolgreichen UPS Streik in den USA wären produktiver gewesen. (Beispielsweise: Wie bekämpfe ich reale Niedriglohnpolitik, wie schaffe ich eine positive öffentlich Meinung - etwa im Unterschied zur Post und Telekomsache...). Schließlich: Wie können wir von Altenpflegerinnen (Privat, Teilzeit) über Besenschwinger und Computerfreaks bis ZeitungszustellerInnen organisieren - mit einem Hauptamtlichenbüro von 8-16 Uhr (Freitags bis 13 Uhr) wohl kaum, auch über Betriebs- Aufsichts- oder Ministerialrat gehts schlecht...Ohne Befreiungsschlag, sprich:Politisch eindeutig begründete organisatorische Revolution ( ja genau, als Kontrast zu: Anpassung, Veränderung, ein bißchen Reform) wird es der Nabucco werden. Im besten Falle dann in Mittellohnlage.
War schon kurz angetippt und soll nur an einem Beispiel näher angesprochen werden: Arbeitsplatzschaffung. (Teutsche Sprache!) Hier: Ökologisch. Ich kanns kaum noch hören, daß Ökologie Arbeitsplätze schaffe - glaubt auch kaum noch jemand. Oh heiliger St. John Maynard Keynes, wir sind mit Dir! Wenn Henkel, Kohl und Schröder das 19. Jahrhundert zum Vorbild erklären - wir sind fortschrittlich, für uns ist es das zwanzigste (erste Hälfte). Über das 21. reden wir in 100 Jahren...
Daß die KollegInnen von der ÖTV (viele jedenfalls) sich "ihre" Atomkraftwerke nicht nehmen lassen wollen, haben sie erst neulich demonstriert. Autos? Herr Fischer weiß schon längst, daß die Anderen nicht unbedingt ein Auto haben müssen, viele Journalistenkollegen auch... Aber auch weniger Ausstoß summiert sich eben, gelle? Aber ich will nicht KollegInnen anderer Gewerkschaften ärgern, oh nein, wir haben selbst genug : täglich tonnenweise Prospekte drucken, oder jedes Jahr neue Telefonbücher. Verpackungen ohne Ende - dann braucht es professionelle BeraterInnen zur Müllbeseitigung. (Kriminalität schafft übrigens jede Menge Arbeitsplätze, echt...). Oder: Zeitungen usw als Medium der Kriegspropaganda für Olivgrün - wer braucht die? 25 waren gerade eben wie eine.
Aber was und was nicht: Da bräuchte es Wege, eine wirkliche Debatte in der Gesellschaft zu organisieren - an die politischen Parteien wendet sich ja kaum jemand. Soziale Bewegungen, Bündnisse, Netzwerke etc: Selbst in Gewerkschaftsdebatten werden solcherart Begriffe inzwischen benutzt. Mehr auch nicht. Ist auch schwer: Bündnis mit der Umweltbewegung - aber für Autos und AKW ? Mit der Friedensbewegung - aber für Krieg? Mit der Antirassistischen Bewegung - aber für deutsche Arbeitsplätze? Irgendwas daran stimmt nicht so ganz: Und nicht jeder Spagat klappt, manches Mal braucht es auch Entscheidung.
Das einzige Bündnis an dem die Gewerkschaften ernsthaft arbeiten, ist das für Arbeit. An dem mit sozialen Bewegungen (oder wie mensch das immer nennen mag...) bestimmt nicht. Nur: Das Bündnis für Arbeit ist ein Pakt. Alle wollen davon profitieren, alle müssen was dafür tun. Also: Was tun wir - genauer: Was geben wir dafür? Noch genauer: Was soll unsere Mitgliedschaft dafür geben? (Wir zahlen wenn überhaupt, erst später: Austritt, Arbeitslos, weniger Beiträge, Einsparungen...). Was die Gegenseite (einschließlich Regierung) will, wußte schon mein - erzsozialdemokratischer, allerdings vorschröderianischer - Opa: Wer noch fünf Mark mitbringt, hat immer Arbeit. (Und wer gegenüber dem Chef buckelt, kann immer noch zuhause gegen die Frau oder gegen "Ausländer" die dicke Lippe riskieren- und mehr, groß ist das Risiko wahrlich nicht ). Das ist nicht Thema. Die drohen auch in Brasilien, sie würden nach Bolivien verlagern...
Und: Arbeit simulieren ist auch keine Dauerlösung. So wenig, wie wenn jede jedem Würstchen verkauft, oder Handys. Oder Handytabellenrechner. Dann schon lieber Gameboys. Oder wenn alle freie Schreiber werden. Ich muß wirklich zugeben: Manchmal wird mir schlecht. Oft, wenn ich Fußball gucke. Noch öfter, wenn ich Allparteienfloskeln höre, wie: Arbeitslosigkeit schafft Kriminalität (oder: Faschismus etc pp). So einfach ist das alles nicht. Auch wenns schön wäre. Und: Wenn schon der Urlaub und das Wochenende nur noch der Regeneration der Ware Arbeitskraft dienen sollen.
Von halbrechts bis ziemlich links: Nix neues nicht. Nur ja nicht. "Arbeit für alle!" - das forderte schon Weimar. Das Zentrum. Die DNVP. Die SPD. Die KPD.
Und auch: nein, das schreibe ich jetzt nicht... was brauchen wir, was wollen wir, was tun wir - wer steht dagegen, das wäre (sehr allgemein) vielleicht ein bedenkenswerter Ansatz für Neuerungen. Mal ernsthaft: Wer braucht eine Bank?
Der Bankier, klar. Wer noch? Der Bankräuber. Aber sonst? Vielleicht bin ich eine Ausnahme: Ich könnte auch mit Bargeld umgehen. Und wenn wir uns die Arbeit mit den freigesetzten (gelle) Bankangestellten teilen, bleibt auch nach 4 Überweisungen noch jede Menge Zeitgewinn. (Für den Fall, daß dies ein HBVler liest: Ihr wart bisher noch nicht dran). Und was, wenn (vor allem jüngere) Leute gar nichts dagegen haben, im Projektstil zu arbeiten (also auch mal 14 Tage am Stück 10 Stunden), wenn sie sofort nachher alles abfeiern können? Tja. Übrigens:
Die 630er Sache könnte mensch vielleicht gewinnen, trotz aller (von IG Medien Menschen mitbetrieben) Kampagnen. Klar, die haben ewig davon billigst profitiert, jetzt sollen sie zahlen: Die Unternehmer nämlich. (Ich kenn übrigens auch viele Kleinunternehmer mit Eigenheim und 2 Mercedes...). Wie schon gesagt, programmatisch eher: Gute Nacht. Schade eigentlich.
Privatisieren, Dienst leisten. (Auch wenns penetrant wird: Schon wieder eine südafrikanische Urlaubsgeschichte. Auf dem Gefängnis in Robben Island steht "We serve with pride". Heißt: Wir dienen mit Stolz). Telefonieren ist billiger geworden - muß ich mich für diese Feststellung beim Kollegen van Haaren entschuldigen? Zuviel Bürokratie, Beamte - das ist Kampagnenmaterial. Öffentliche Kontrolle, gewählte Bürgerausschüsse (Bürger wohlgemerkt, nicht nur teutsch), das wäre eine Überlegung wert. Die Alternative (man gehe mal in USA einkaufen): Penetrant unsymphatisch lächelnde Angestellte, die einen immer als Sir beschimpfen. König Kunde eben.
Demokratisieren statt privatisieren - so versuchte es eine Minderheit der lateinamerikanischen Gewerkschaften, das hatte jedenfalls einige Symphatiewerte. Aber dann könnte mensch sich auch nicht mehr darauf beschränken, etwa in der Medienpolitik den Bayerischen Rundfunk gegen die privaten Flachdudler zu verteidigen (dudeln, das haben sie allen gezeigt, können teuere Profis am besten: Eins Live halt). Selbst die Medien gestalten ist nicht die Hobbyecke und auch keine bloße Ergänzung: Ein Grundpfeiler. Aber das sind wahrscheinlich ebenso sakrosankte Dinge, wie unsere Organisation. Lenin - ja, der - hat mal gesagt, im Sozialismus bekäme jede größere Gruppe von Arbeitern die nötige Papierzuteilung etc, um eine eigene Zeitung zu machen. Ist wohl nie passiert. Spricht aber weniger gegen den Gedanken, als gegen ihn. Aber das wären politische Überlegungen, über die sich vielleicht in verschiedensten Bereichen verschiedenste Bündnisse schließen ließen. Allerdings nicht mit den Unternehmern, denn da gibt es ja nichts zu verdienen.
Und, nochmal allerdings: In Deutschland kam bei Public Control bisher meist Parteienproporz heraus....Denkaufgaben, Versuche. Bisher kaum zu übersetzen. Künftig auch nicht. Wenns nach dem Positionspapier geht.
Warum Betriebswirtschaft als Wissenschaft gilt, wußte ich noch nie. (Ist mir aber bei anderen auch eine Frage). Daß aber betriebswirtschaftliche Logik schon lange nicht mehr auf den Betrieb beschränkt ist, setze ich mal als altbekannt voraus.
Das gute alte Flugblatt "Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor der Bundesrepublik" vor dem Betriebstor, aus Anlaß der BVG Kampagne, war schon damals ziemlich irreal - umso mehr heute.
Deshalb irritiert das Drumherumgerede im Positionspapier nicht nur, es kann auch gar niemand überzeugen. Oh nein, ich plädiere keineswegs dafür, einfach alles radikaler zu machen - obwohl der Kompromißler ohne den Radikalinski immer verloren ist - ich plädiere für klare, logische, eindeutige Aussagen. Auch in komplexen Zusammenhängen. Es geht ja, wie die Autorin und die Autoren sagen, nicht um Details, sondern eben gerade darum: Richtungsangabe. Wäre gut gewesen. Aber dann müßte mensch sich dazu aufraffen, sich damit auseinandersezusetzen, daß die betriebswirtschaftliche Logik nun eben genau die Logik ist, die von der Marktwirtschaft geboren wird - diese und keine andere. Was anders gibts nicht? Nun ja, nach drüben kann ich nicht mehr gehen, das ist jetzt hüben. Wollte ich auch nie, weder wirklich noch politisch. Was anders gibts nicht, sagte auch der Papst (und Co) als im 14.Jahrhundert in portugiesischen Seefahrerkreisen die Sicht von der Erde als Kugel allmählich populärer wurde.
Die habens dann einfach (lange) versucht. Soll heißen: Auch wer keine fertigen Konzepte verkaufen will, kann durch die Kritik des Bestehenden Alternativen entwickeln, die sich umso genauer umreißen lassen, je konkreter und tiefgehender die Kritik ist.
"Es wird zusammengepappt, was übrig bleibt". Innovativ an diesem Ding ist gar nichts. Fehlt der Mut? Hindert das Parteibuch? Ist das Gehalt zu hoch, um Änderungen zu wollen? Dauert die Amtszeit zu lange? Woher soll ich das wissen? Und: Warum soll der DGB ein stärkerer Papiertiger werden? Bei ver.di darf er ja nicht mal mitreden, wird ungefähr so wenig informiert, wie die Mitgliedschaft. (Und sage jetzt keiner: In unseren Zeitungen, sonst werde ich echt ärgerlich und laß meine Wut an jemand anderem aus).
Meine Stimme für ver.di? Warum? Warum sollte ich? Warum sollte jemand? "Fliege hoch, goldener Gedanke der Freiheit". Das hat Verdi einst vertont. Bei ver.di ist er schon wieder gelandet. Auf der Müllkippe.
Helmut Weiss (Sprecherrat OV IG Medien Dortmund)
Ende Juli 99
Kontakt: Ortsverein Dortmund der IG Medien, Helmut Weiss, Ostwall 17-21, 44135 Dortmund oder per e-mail