Bis auf die Führung der 5 "Plattfrommen-Gewerkschaften" begegnet man kaum noch aktiven GewerkschafterInnen, die beim Gedanken an die Fusion zur Dienstleistungsgewerkschaft nicht massive "Bauchschmerzen" bekommen. Das hindert aber die Führungen keinesfalls daran den Zug ungebremst in Richtung Fusion fahren zu lassen. Die Herausbildung der "neuen" Gewerkschaft ist die Bankrotterklärung der innergewerkschaftlichen Demokratie und der Fähigkeit politische und strukturelle Herausforderungen zukunftsweisend beantworten zu können. Ob die Gewerkschaftstage sich diesem Zug in den Weg stellen werden ist eher fraglich. Die ehrenamtlichen FunktionärInnen werden in einem Prozeß, der allen Beschlüssen zum Trotz alles andere als offen ist, zum Objekt der Führungsentscheidungen degradiert. So wie der Name "Ver.di" (vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) bereits als Gegeben gehandelt wird, so wurden in den letzten Monaten derartig massive strukturelle Fakten geschaffen, daß der hbv-Gewerkschaftstag im September 99 zum Absegnen degradiert werden könnten. Dabei steckt im Namen, der an den Komponisten Giuseppe Verdi erinnert Anlaß zur Hoffnung, daß in der Dienstleistungsgewerkschaft die Kultur der Vielfältigkeit, Freiheit und Solidarität im Mittelpunkt stehen könnte. Verdis Hauptwerk Nabucco ist die Identifikation mit dem jüdischen Volk. Mit dem biblischen Stoff vom unterdrückten Volk der Juden, konnten sich die gegen die österreichische Fremdherrschaft aufbegehrenden Italiener identifizieren. Aber wer ist bei der "Ver.di" das jüdische Volk - die Mitglieder? und die Fremdherrschaft - der neue Zentralismus, die ÖTV?
Am 24. bis 29. Oktober 98 fand in Bremen der 15. Ordentliche Gewerkschaftstag der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen statt. Die Delegierten hatten zu entscheiden, ob der 50. Geburtstag zugleich der letzte sein sollte und die hbv mit der ÖTV, DAG, IG Medien und DPG im Jahre 2002 in einer Mega-Gewerkschaft aufgeht. Heiße Debatten waren zu erwarten. Die Abwahl eines Mitgliedes des Geschäftsführenden Hauptvorstandes (GHV) bestätigte diese Erwartung. Doch es kam anders. Ein Delegierter bezeichnete die Stimmung als das "Flüstern der Lämmer ."
So war zumindest die Interpretation der Kongreßbeschlüsse durch die Medien und die hbv-Führung. Eigentlich war aus Sicht der Mega-Gewerkschaftsbefürworter durchaus zu befürchten, daß eine große Minderheit sich positionieren würde, um die Verschmelzung "unter der ÖTV", die schon den Beinamen „die Dienstleistungsgewerkschaft" trägt, zu verhindern.
Diese Minderheit wurde durch die Formulierung harter Kriterien integriert, die von einer neuen Gewerkschaft erfüllt werden müssen. Gleichzeitig aber wurde dadurch eine offene und notwendige Auseinandersetzung über die gewerkschaftspolitischen Ziele, Risiken und Alternativen zur Megagewerkschaft "verschoben".
Eine neue Dienstleistungsgewerkschaft wird
Auf Grundlage harter Kriterien wie zum Beispiel Selbständigkeit der Fachbereiche (Branchen), Beibehaltung der Tarifstrukturen, Stärkung der Gewerkschaftsarbeit für und mit KollegInnen in Kleinst-, Klein- und Mittelbetrieben, Erhalt des Prinzips der Einheitsgewerkschaft (parteipolitische Unabhängigkeit) und Stärkung des DGB, Ausbau der innergewerkschaftlichen Demokratie und ähnliches müßten nun die fünf Gewerkschaften bis Herbst 1999 ein schlüssiges Konzept auf außerordentlichen Gewerkschaftstagen vorlegen. Die Verschmelzung bedarf einer 80%igen Zustimmung aller Delegierten.
Die Entwicklung hat Gründe. Zum Beispiel: Der industrielle Großbetrieb, in dem die Gewerkschaften groß und durchsetzungsfähig geworden sind und der mit freigestellten Betriebsräten die gewerkschaftliche Arbeit prägt, ist auf dem Rückzug. An seine Stelle treten Klein- und Mittelbetriebe; viele davon sind Service-, Logistik- und sonstige „Dienstleistungs-Unternehmen", begründet IG Medien-Chef Detlef Hensche das ehrgeizige Projekt.
Dem steht jedoch entgegen, daß mit wachsender Größe die Nähe zu den Mitgliedern geringer wird.
Auch soziologische Erkenntnisse sprechen gegen Großorganisationen. Parteien und Gewerkschaften bekommen dies schon jetzt am deutlichsten zu spüren. Derweil sinkt der Organisationsgrad auf den historischen Tiefststand von unter 30 Prozent.
Viele Menschen - hauptsächlich Jugendliche beiderlei Geschlechts und Frauen jeden Alters -, die politisch interessiert sind, wünschen sich eine partizipatorische Organisationskultur. Demgegenüber steht die hierarchische Großorganisation Gewerkschaft, die nun noch mehr aufgebläht werden soll.
Was die Psychologin Barbara Stiegler in ihrer Studie „Das Geschlecht als Bremse" über die Erwartungen von Frauen an die Gewerkschaften sagt, trifft auch auf andere Gruppen zu: Sie wollen flache Hierarchien, kooperative Arbeitsformen, projektorientierte Arbeitsweisen, Transparenz, vernetztes Denken und stringente Arbeitsprozesse. Organisationen wie Greenpeace, BUND, amnesty international oder andere Bürgerinitiativen scheinen solche Erwartungen umzusetzen.
Anstatt sich nun im anstehenden Erneuerungsprozeß über überschaubarere Formen Gedanken zu machen, wollen fünf Gewerkschaften bis zum Jahre 2002 eine "Dienstleistungsgewerkschaft" mit derzeit circa 3,5 Millionen Mitgliedern ins Leben rufen. Die Deutsche Angestelltengewerkschaft (circa 500 000 Mitglieder) will zurück in den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
Mit ÖTV, HBV, IG Medien und Postgewerkschaft soll „etwas ganz Neues" entstehen. Der Vorsitzende der Postgewerkschaft, Kurt van Haaren, spricht sogar von einer „Gewerkschaft neuen Typs".
Der eher bescheidene Meinungspluralismus in der bundesdeutschen Gewerkschaftslandschaft wird mit den Gewerkschaftsfusionen jedoch weiter eingeschränkt, die Mitgliederbeteiligung und Selbstbestimmung sinkt, der DGB wird allen Reden zum Trotz endgültig entmachtet.
Die "Gewerkschaft neuen Typs" könnte eine eher richtungslose Richtungsgewerkschaft werden.
In der Mega-Gewerkschaft sollen sich Straßenbahnführer, DruckerInnen, Briefträger, MüllwerkerInnen, Staatsanwälte, Sparkassenangestellte, Orchestermusiker, Theaterhandwerker, Kameraleute, Friseure, Krankenschwestern, Verkäufer, Journalisten, Toningenieure, Telefonisten, Schriftsteller, Croupiers, EDV-Operateure und viele andere wieder finden.
Hier wächst also zusammen, was vielleicht in der Tat nicht zusammen gehört.
Beliebte Begründung für den Zusammenschluß: Die Wandlung der Arbeits- und Produktionsprozesse und der Konzernstrukturen und Beschäftigungsverhältnisse.
Das gewerkschaftliche Organisationsprinzip ist unbestritten überholt, die Formel "Ein Betrieb - Eine Gewerkschaft" überkommen. Noch orientieren sich die Gewerkschaften an den Unternehmensstrukturen der vierziger und fünfziger Jahre. Anstatt aber das Ganze vom Kopf auf die Füße zu stellen, werden jedoch noch abstraktere Gebilde gebastelt. Meistens sogar an den Mitgliedern vorbei, die gar nicht daran interessiert seien, wie derVerein heißt. Folgerichtig wurde auf dem Gewerkschaftstag der Antrag der hbv-Thüringen, eine Mitgliederbefragung durchzuführen, beerdigt.
Sie entstand aus der Kartellgewerkschaft Kunst und der IG Druck und Papier. Unter dem Dach der Gewerkschaft Kunst waren verschiedene Fachverbände vereint: Rundfunk-, Fernseh- undFilmschaffende, Bühnenangehörige, Artisten, Orchester- und Solomusiker, Schauspieler, Maler und Bildhauer, Musiklehrer und Angehörige anderer kreativer Berufe. In der IG Druck und Papier waren neben den "klassischen" Beschäftigten im Druck- und Druckvorstufenbereich auch der Verband Deutscher Schriftsteller (VS) und die Deutsche Journalisten Union (dju) organisiert.
Der Zusammenschluß zur einheitlichen Mediengewerkschaft hatte also Sinn.
Spätere Gewerkschaftszusammenschlüsse sind aber von dem Diktat der ökonomischen Probleme geprägt: Die Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft (GGLF) wurde 1993 von der IG Bau, Steine, Erden „insolvenzfusioniert"; sie bekam den Namen IG Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU). Im letzten Jahr schlossen sich die drei Gewerkschaften IG Chemie, IG Bergbau und Gewerkschaft Leder zur IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) zusammen. Die beiden Gewerkschaften Textil-Bekleidung und Holz & Kunststoff beschlossen den Anschluß an die IG Metall.
Hartnäckig wird dementiert, daß die Gewerkschaft den Namen IG Mieder, Möbel, Metall bekommt.
Der DAG-Chef Roland Issen erklärt das Tempo so: „Wir müssen den Zeitraum, in dem die Gründungsmitglieder als Konkurrenzorganisationen nebeneinander arbeiten, möglichst kurz halten. So soll verhindert werden, daß sie in den Betrieben in alte Gegnerrituale zurückfallen."
Daß Kollege Issen nicht irrt, beweist doch seine Organisation immer wieder. So beispielsweise vor wenigen Monaten bei Motex, Hörselgau bei Eisenach, wo die DAG einen Billig-Tarifabschluß unterzeichnete und im Gegenzug den „closed shop" garantiert bekommt.
Ein weiteres Beispiel:
Die Beschäftigten des Warenverteilzentrums der Firma Elba-Bürosysteme werden nach den gültigen Tarifverträgen der Papierverarbeitung bezahlt. Zuständige Gewerkschaft ist die IG Medien. Elba gründete die Firma Häring Logistik GmbH und wollte den günstigeren ÖTV-Tarif annehmen. Die ÖTV war dazu bereit und bot sich an, sowohl einen Tarifvertrag abzuschließen als auch die Mitglieder der IG Medien zu übernehmen. Doch die Beschäftigten wollten keinen Tarif- und Organisationswechsel und setzten mit zwei Warnstreiks den IG Medien-Tarifvertrag durch.
Diese Beispiele werden in der neuen Mega-Gewerkschaft der Vergangenheit angehören. Sie werden aber ersetzt werden durch neue Konkurrenzen unter den DGB-Gewerkschaften, wie z.B. zwischen IGM und Dienstleistungsgewerkschaft (Industrienahe Dienstleistung). Eine sich ständig wandelnde Wirtschaftsstruktur wird nicht durch Fusionen, die eh nur neue starre Strukturen schaffen, aufgefangen werden.
Die Abschaffung der Konkurrenz DGB und DAG wird ein Vakuum hinterlassen, das höchstwahrscheinlich anderen gelben Gewerkschaften neuen Zulauf verschafft. In Thüringen, Jena, bekommt man diese durch Lothar Spät, dem BdA und dem CGB (christlicher Gewerkschaftsbund) live vorgeführt. Gegen den Willen der Belegschaft von Jenoptik unterschrieb der CGB (Metall) einen Haustarifvertrag unterschrieben, der weit unter der Branche liegt und Arbeitszeitreglungen vorsieht, die die/den ArbeitnehmerIn gänzlich zum Spielball unternehmerischer Entscheidungen werden lassen.
Gemeinsame gewerkschaftliche Organisationen kann man weder strukturell noch organisatorisch erzwingen, sondern sie sind Ergebnis unterschiedlicher Orientierungen bei den abhängig Beschäftigten und den Kapitalinteressen. Daher wird der Wegfall der DAG ein Vakuum schaffen, das wie das Beispiel von Jenoptik zeigt, von anderen „gelben Gewerkschaften" ausgefüllt werden wird.
Die Beteiligten betonen zwar, daß es keine aufnehmende und keine aufgehende Gewerkschaft geben wird. „Damit unterscheiden wir uns schon von den Konzentrationsprozessen, die es unter dem Dach von IG Chemie und IG Metall gegeben hat", sagt Issen. Man ist sich einig, ein völlig neues Gebäude zu errichten: „Die alten Gewerkschaften wird es dann nicht mehr geben." Verschwiegen wird hierbei, daß es mehr das Diktat der Ökonomie und die Tatsache, daß ÖTV und DAG auch ohne die anderen zur Verschmelzung bereit wären, das Tempo bestimmen.
Die hbv Thüringen gehört in diesem Prozeß zu den Skeptikern, hat daher aktiv an der Entwicklung harter Kriterien, an der Bildung einer neuen Gewerkschaft mitgewirkt und hat mit der Durchsetzung der Option, daß im Herbst 1999 80 Prozent der Delegierten der neuen Gewerkschaft zustimmen müssen, eine Hürde mit durchgesetzt, die es ermöglicht, Fehlentwicklungen zu stoppen.
Die verbleibende Zeit muß genutzt werden, um einerseits die Ansprüche an die "neue Gewerkschaft" zu präzisieren und andererseits glaubwürdige Alternativen zu entwickeln, die unseres Erachtens in einer Stärkung des DGB und der Entwicklung gewerkschaftlicher Strategien gegen Deregulierung, Tarifflucht und der Erhöhung der Kampffähigkeit und Organisationsgrad in den Betrieben liegen.
Die einfachste und konsequenteste Lösung, die direkte Mitgliedschaft im DGB, was Abgrenzungsproblemen ein Ende bereiten würde und außerdem viel Geld in der Gewerkschaftsverwaltung einsparen würde, wird nicht zu Ende gedacht - das muß sich jedoch in den nächsten Monaten ändern -, weil es die Macht der Einzelgewerkschaften beschneiden würde.
"Die Bildung einer vereinten Dienstleistungsgewerkschaft und die Auflösung der hbv wird abgelehnt. Statt dessen wird die HBV ohne Fusion selbständiger Teil einer Kartellgewerkschaft. Angestrebt wird eine einheitliche DGB-Mitgliedschaft." heißt es im Antrag des Landesvorstandes. Ein zweiter Antrag definiert inhaltliche Anforderungen, die bisher in der Debatte keine Rolle gespielt haben: "Die Voraussetzung zur Bildung einer vereinten "Dienstleistungsgewerkschaft" bzw. alternativer Organisationsformen ist die Entwicklung gewerkschaftspolitischer Ziele für eine neue Organisationsform. Die massive Kritik, die auch auf dem Bremer Gewerkschaftstag wegen der fehlenden politischen Inhalte in der "Plattform" erhoben wurde, wurde nicht ernst genommen, und statt der gewerkschaftspolitischen Debatte fand in den letzten Monaten wieder nur eine Strukturdebatte statt. Mit dem Eckpunkte-Papier zur "Dienstleistungsgewerkschaft " ist die Vorgabe gemacht, wer in welchem Raum einzieht, allerdings wurde dabei vergessen, den Architekten zu beauftragen, den Entwurf für das Gesamtgebäude und die Inneneinrichtung zu erstellen. Ein solches Gebäude wird zusammenbrechen..."
Mai 1999
Angelo Lucifero, Stellv.Landesleiter der Gewerkschaft hbv Thüringen