letzte Änderung am 20. November 2003

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»Die Trittbretter größer bauen«

Fortsetzung des Gesprächs über ver.di

Nachdem Gitta Süß-Slania und Kurt Seez in Teil I des Interviews die Probleme der »Matrix-Organisation« diskutiert haben und zu dem Schluss kamen, dass die »Buchhalter überleben, nicht die Politischen«, geht es in Teil II um das Verhältnis von ver.di zu den anderen Gewerkschaften und zum Umgang mit internen Finanzproblemen. Die Fragen stellten Kirsten Huckenbeck und Axel Stamm.

 

Ver.di und ›die anderen‹: Konkurrenz oder Kooperation?

Zum Thema Erfahrungen und Veränderungen in der und durch die Fusion gehört auch die Frage nach dem Verhältnis zu den Gewerkschaften, die jetzt nicht in ver.di vertreten sind. Mannheim ist ein Industriestandort, d.h. neben ver.di sind auch andere Gewerkschaften stark vertreten. Hat sich da in den letzten zwei Jahren etwas verändert?

Gitta: Berührungspunkte gibt es im Rahmen meiner Arbeit z.B. mit der GEW. In Mannheim hatten wir ehrenamtliche GEW-Spitzen, die sehr interessiert gewesen wären an ver.di. Aber aufgrund der internen Situation der GEW hat das bekanntlich nicht geklappt. Vor Ort drängt jetzt die GEW auf den Markt unter dem Motto: »Wer hat die besten Forderungen im Sozialbereich?« Nicht die Verantwortung zu haben heißt: Es ist einfacher, tolle Forderungen zu entwickeln. Ein Beispiel: Ich kann gut die These vertreten, dass die Ausbildung der Erzieherinnen gleichwertig ist zur Ausbildung der Lehrerinnen in der Grundschule und entsprechend zu bezahlen ist. Punkt. Alle meine KollegInnen sagen dann: »Ja, finde ich auch, ich will so bezahlt werden.« Da muss ich sie dann fragen: »Ihr habt mittlere Reife, wollt ihr etwa alle gekündigt werden?« ... Ich verkürze jetzt. Dann wird meinen KollegInnen klar, wir müssen überlegen, auf welchem Weg wir dahin kommen.

Es gibt also Ränder von ver.di, wo die GEW gewillt ist abzusahnen. Kann ich aus deren Sicht verstehen, ich muss mich als Lehrergewerkschaft auch ausweiten, und da bleibt nur, die ergänzenden Bereiche an Land zu ziehen. Und zum Bereich Bildung gehört dann auch die ErzieherInnen-Szene.

Zur IG Metall hier vor Ort gibt es zwar funktionierende Kontakte auf der informellen Ebene, aber nicht das, was man gute Zusammenarbeit nennt. Und in den öffentlichen Erklärungen der IG Metall steht nach wie vor, sie seien die größte Gewerkschaft. Da denke ich: Wenn’s Euch wichtig ist... Wäre ich Geschäftsführerin, würde ich sagen: Da müsste man mehr Dinge entwickeln. Aber vielleicht haben wir dazu im Moment gar nicht die Energie.

 

10 Prozent weniger für alle? Ver.di spart...

Ein anderes Thema: Es ist klar, dass ver.di in seiner jetzigen Form eine provisorische Konstruktion war, u.a. weil nicht klar war, ob über die Fusion der Trend zum Mitgliederrückgang aufzuhalten oder umzukehren wäre. Bis 2007, das ist der Termin, zu dem die Betriebsvereinbarung mit einem weitgehenden Bestandsschutz für die ver.di-Beschäftigten ausläuft, sollten daher bestimmte Auseinandersetzungen hinausgeschoben werden, die vorher schon auf der Tagesordnung standen – z.B. Personalabbau aufgrund des Mitgliederrückgangs. Jetzt hat sich gezeigt, dass man es nicht bis dahin schafft. Allein für dieses Jahr wird ein Defizit von 59 Mio. Euro erwartet. Ver.di hat daher jetzt die Vorgabe formuliert, 10 Prozent der Mittel einsparen zu müssen. Was bedeutet das konkret für Mannheim?

Gitta: Das ist gedanklich vor Ort noch nicht umgesetzt.

Welche Befürchtungen sind denn für Euch damit verbunden? Und wie sollte Eurer Ansicht nach mit dem Problem der Einsparungen umgegangen werden?

Gitta: Dazu habe ich eine ziemlich genaue Vorstellung. Das erste ist: Man muss hinterfragen, ob die Zahlen stimmen. Das ist Job der Ehrenamtlichen und vom Gesamtbetriebsrat. Wenn die Zahlen stimmen, dann gibt es folgende Möglichkeiten: Entweder ich greife ins Vermögen. Das ist aber nicht immer zu verflüssigen, weil es sich z.T. um Immobilien oder anderweitig gebundene Werte handelt. Oder ich muss relativ schnell und rigide Personal abbauen. Oder ich gehe an die Arbeitszeit. Die vierte Variante wäre: Wer noch eine Alternative dazu hat, soll sie bitte nennen, damit man darum streiten kann.

Alle Varianten sind mit einer hohen emotionalen Betroffenheit derer, um die es geht, verbunden. Die würden daher im Zweifelsfall wahrscheinlich lieber sagen: »Geht ans Vermögen, bevor ich an einer bestimmten Stelle weniger arbeite.« Die Frage ist nur, ob die Organisation sich das erlauben kann.

Denn: Mein worst case ist, wenn wir die Streik-Fonds nicht mehr bedienen können. Wenn ich ans Vermögen gehen würde, wäre das so, als ob ich in einem Betrieb anfangen müsste, die Immobilien zu verpfänden. Die Vorstellung, sich als Hauptamtlicher einfach dadurch zu schützen, dass man auf seinen Arbeitsvertrag pocht, finde ich daher schwierig. Ich glaube, dass es deshalb nur zwei Möglichkeiten gibt: zum einen die Frage, ob jemand eine Alternative zu dem hat, wie es bisher diskutiert wird, und zum anderen zu klären, was die Kürzungen für betroffene Menschen bedeuten.

Wenn aber, wie es derzeit der Fall ist, weder die Hauptamtlichen noch der Gesamtbetriebsrat sagen: »Das ist unsere alternative Strategie...« – und ich kenne kein Papier, in dem so etwas stünde –, dann muss ich mich eben im Rahmen der vorgelegten Strategie bewegen.

Und die lautet?

Gitta: Arbeitszeitverkürzung. Wenn das nicht auf ein Rasenmäher-Modell hinauslaufen soll, muss ich überlegen, wie man die Arbeitszeitverkürzung verteilt. Die Postler haben z.B. einen Arbeitsvertrag mit Lebensarbeitszeit. Dann habe ich Teilzeitler, mit denen ich auch anders umgehen muss. Das ist schwierig, und deshalb kann man an dieser Stelle dann auch auf die Idee kommen, doch ans Vermögen zu gehen. Aber das stellen sich die Leute so leicht vor... Wir können im Moment z.B. unsere Bildungsstätten nicht verkaufen. Oder nimm die ganzen Alt-Gebäude der früheren ÖTV, da hieß es beim Umzug von ver.di: »Die Bank neben dran hat ein Interesse, die nimmt das.« Jetzt steht das alte Gebäude leer, und das ist nicht das einzige. Und ich muss es im Moment leer stehen lassen, in der Hoffnung, dass irgendwann die Zeiten kommen, wo nicht mehr in jeder Großstadt in unserem Land unendlich viele Schilder stehen: »Büroflächen zu vermieten«. Ist doch logisch, dass ich mir dann wirklich wichtige und gute Immobilien halte und versuche, damit irgendwann noch mal einen Reibach zu machen, und sei es in zehn Jahren.

Entweder gibt es also einen Wettbewerb um die bessere Alternative. Wenn der BR und die Hauptamtlichen den nicht führen, dann beißen sie die Hunde. Und die Hauptamtlichen in der Landesleitung, die haben an der Stelle Profil zu haben. Entweder sind sie die ›Klassensprecher‹ ihrer Hauptamtlichen in der Hierarchieleiter, dann kann man sich auseinandersetzen, oder sie sagen: Ich habe eine Führungsaufgabe im Interesse der Organisation. Dann müssen sie Organisationsentscheidungen vertreten, die weh tun, aber dafür kriegen sie auch ein bisschen mehr Kohle. Eine dritte Variante gibt es eigentlich nicht. Doch genau die wird gerade praktiziert: Alle tauchen ab. Urplötzlich ist niemand da. Das kann nicht sein. Das große Abtauchen der Hauptamtlichen wird Grenzen haben.

Kurt: Die entscheiden erst gegen die Ebene und sagen dann: »Macht mal was dagegen.«

 

Ver.di vor Ort: Überhänge und Unterbesetzungen

Wie ist denn konkret die Personalsituation bei Euch? Ich bekomme mit, dass öfter Leute in Ruhestand gehen, die nicht ersetzt werden.

Gitta: Wir haben ein Problem, an dem wir uns in Mannheim einig sind wie das gallische Dorf. Wir liegen relativ nah an sämtlichen Budgetrichtlinien und Personalvorgaben. Jetzt sind einige gegangen bzw. gehen noch. Unabhängig von denen, die noch gehen, haben wir gesagt: Es gibt doch Überhänge. Die gibt es z.B. im Bereich Land in der Größenordnung von plus/minus 20 Stellen. Wobei man fairer Weise sagen muss, dass in diesen Überhängen auch Cateringfrauen, Reinigungsfrauen und Drucker enthalten sind, aber eben auch politische Sekretäre und VerwaltungssekretärInnen. Nichtsdestotrotz haben wir irgendwann mal gesagt: Das kann ja wohl nicht sein. Wir leiden hier Not, jetzt schon, und wenn weitere Leute gehen, sowieso. Die Stellen können nicht besetzt werden, weil interne Ausschreibungen relativ wirkungslos sind und weil die Ländergrenzen eine Rolle spielen – das wäre nämlich praktisch eine externe Einstellung. Wir wollen also, dass Ihr Euren Überhang ein bisschen zu unseren Gunsten abbaut. Da haben wir eine sehr konfliktträchtige Situation, weil die Landesleitung einerseits uns gegenüber gar nicht reagiert, aber andererseits in unserer Abwesenheit von unsäglichen Beschlüssen in Mannheim redet, z.B. in meiner Abwesenheit im Landesbezirksvorstand, statt mit uns zu kommunizieren. Es gibt also einen großen Konflikt zwischen der Landesleitung und uns, über den noch nicht mal geredet wird.

So, und dann hast du die Überhänge im Bereich Berlin, die auch abgearbeitet werden müssten. Da sagt unsere Landesleitung: »Leute, was wollt Ihr eigentlich? Unser minimaler Überhang von 20 im Verhältnis zu Berlin...« Verhältnismäßig ist das ja tatsächlich nicht so groß. Dann guckst Du nach Berlin, da sagt Bsirske: »Wir machen eine Organisationsuntersuchung bei uns, um zu sehen, an welcher Stelle wir falsch gewichtet haben.« Aus meiner Sicht – wir haben das noch nie gemeinsam besprochen – haben wir da folgende verrückte Situation: Es gab externe Einstellungen, z.B. im Bereich Wirtschafts- und Sozialpolitik, über die bin ich eigentlich heilfroh, weil wir dieses Segment intern überhaupt nicht abdecken konnten. Du musstest jemanden einkaufen mit einer wissenschaftlichen Qualifikation, aber m.E. eben nur an bestimmten Stellen. Ob und wie das an anderen Stellen aussieht, warum es z.B. unendliche viele Konferenzen gibt, die man bereisen kann, wer da noch wo rumturnt und wer das Geld dafür bereit stellt, weiß ich gar nicht. An der Stelle würden wir doch alle sagen: »Kollege Bsirske, Du hast Recht, mach Deine interne Organisationsuntersuchung.« Nur, die Landesleitung sagt natürlich, dass in Berlin die großen Polster liegen. Das ist die Kunst der möglichst geschickten Schuldzuweisung an die jeweils höhere Ebene. Und die wird betrieben.

Und wo brennt es konkret derzeit in Mannheim?

Gitta: Es brennt bei der Nicht-Besetzung aller leeren Stellen, die politische SekretärInnen hinterlassen. Und wir haben außerdem schon ein rechnerisches Defizit im Bereich der Verwaltungsleute. Uns beißen die Hunde.

Kurt: Das kann man getrost sagen. Wir haben dazu ja, wie auf der Landesbezirkskonferenz, wo wir Anträge gestellt hatten, entsetzliche Auseinandersetzungen gehabt, um irgendwie an Lösungen dran zu kommen.

Wie können solche Lösungen aussehen?

Gitta: Umsetzungen aus Stuttgart. Da muss geprüft werden, ob die rechtlich gehen, weil der oder die Kollegin sich vielleicht auf Grundlage des Sozialplans wehren wird. Aus meiner Sicht muss da Überzeugungsarbeit geleistet werden. Die andere Möglichkeit besteht in externen Einstellungen, befristet und auf eigene Kohle, aber Gott sei Dank haben wir die ja noch. Wobei es Teil des Vermögens der Gesamtorganisation ist, was man nicht vergessen darf. Es ist also nicht unkompliziert. Wir haben dazu aber Beschlüsse gefasst, dass wir notfalls auf eigene Kosten befristet externe BewerberInnen finanzieren, und vielleicht kriegen wir dazu sogar die Zustimmungen.

Außerdem glaube ich, dass die politische Betreuungsarbeit sich an vielen Stellen ändern muss. Das betrifft vor allem die Idee des omnipotenten Gewerkschaftssekretärs, von der ich ohnehin glaube, dass sie eine Fiktion war. Wir müssen prüfen, an welchen Stellen wir investieren müssen, damit sich selbst etwas entwickelt: autonome Betriebsgruppen, Vertrauensleute, sprich: Die »vierte Ebene« muss entwickelt werden. Und sie muss die Chance haben, sich zu verselbstständigen, mit viel Vertrauen und einem Minimum an Kontrolle – weil engagierte Ehrenamtliche das nicht so gut vertragen. Da muss man investieren, investieren, investieren, damit eine politische und betriebliche Autonomie entsteht – nicht im Sinne von: »Mir ist die Organisation egal«, sondern im Sinne von: »Ich traue mich und ich stehe dafür«.

Kurt: ... also so ein ähnliches Verhältnis wie »Stammkunden bedienen Laufkunden«, nur müsste es funktionieren.

 

Eine Antwort auf die Krise? Patenbetriebe gesucht

Aber woher kommt der Aufbau ehrenamtlicher Arbeit? Es sind ja zwei Szenarien denkbar: Entweder führen die 10-Prozent-Kürzungen wie in einer Art Verstärkereffekt dazu, dass auch diese notwendige Arbeit zum Aufbau betrieblicher Strukturen mit den Bach runter geht. Oder man überlegt sich Konzepte, wie man trotz und wegen der Finanzmisere neue Wege gehen kann. Was sind Eure Perspektiven für diese Arbeit in Mannheim? Wie wollt Ihr trotz Misere der Organisation ein Leben der Organisation ermöglichen?

Kurt: Ich gehe mal von meinen bisherigen Erfahrungen aus an den neuen Zustand. Für uns war es immer wichtig, dass der hauptamtliche Sekretär für die Betriebe da war. Er hat die Betriebe betreut und deren Aktionen mit unterstützt. Wenn wir in Streiks gegangen sind, hat er alles mit den Ehrenamtlichen abgesprochen, damit jeder wusste, wann wir anfangen wollen, was wir erreichen wollen, wie viele Leute wir zur Verfügung haben, wer wie lange durchhält etc. Er hat also im Vorfeld gestärkt und gefestigt. Das und die Werbung dazu – das müssen die Hauptamtlichen leisten, denn auch die Werbung muss ja gemeinsam mit den Ehrenamtlichen so aufgebaut werden, dass daraus auch etwas entstehen kann. Wir sind früher bei HBV aus Arbeitskämpfen immer mit vielen neuen Mitgliedern herausgegangen. Das ist ganz wichtig für unser Fortbestehen und für unsere Stärke in der Zukunft. Davon leben wir. Wenn wir da immer weiter zurückgehen, werden wir irgendwann an dem Punkt sein, dass wir noch weiter Personal abbauen müssen. Das darf in keinem Fall passieren. Der springende Punkt daran ist, dass das eine sehr intensive Betreuungsarbeit ist, die von zwei Seiten geleistet werden muss, nämlich vom hauptamtlichen Sekretär und vom Ehrenamtlichen. Wenn der Hauptamtliche nicht mehr da ist, dann muss hintendran eine ehrenamtliche Gruppe aufgebaut sein, die funktioniert. Die selbst so stark ist, von ihrer Erfahrung und ihrem Wissen her, um – wie es die Gitta vorhin schon gesagt hat – die Hauptamtlichen teilweise von der Betreuung entbinden zu können.

Wir haben verschiedene Betriebe, wo das bisher funktioniert hat. Das ist aber nicht überall so. Wie geht man jetzt mit dieser Situation um? Wir hatten früher bei HBV »Patenbetriebe«. Die hatten wir gegründet, als die Angst war, dass der Ladenschluss noch mehr gekippt wird und daraus noch schwächere Betriebsvereinbarungen resultieren. Da sind wir hergegangen und haben einen innerstädtischen Arbeitskreis gebildet, in dem wir uns über die Ladenschlussproblematik absprechen und beraten wollten, und haben alle Betriebsräte einbezogen – auch die, die gar nicht bei uns organisiert waren. Wir haben uns auf neutralem Boden getroffen, damit das für die anderen nicht so gefährlich war. Um das hinzukriegen, haben wir Patenbetriebe gebildet. Der Arbeitskreis hat sich nach der Hertie-Schließung leider aufgelöst, da ist das wieder weggebrochen. Und genau an der Situation sind wir jetzt. Wir haben nicht überall aktive Gitta Süß-Slanias. Damit meine ich das Gremium, nicht die Einzelpersonen. Und wir haben Betriebsräte, die sehr schwach sind. Wenn ich an die Streikfähigkeit in Baden-Württemberg im Moment denke – da bricht der eine Betrieb weg, der andere hat Angst, der nächste will nicht etc. Da bräuchte es intensive Betreuung, die die Fachgruppen einfach nicht leisten. Wir hatten früher starke und große Arbeitskreise mit starken Betriebsräten, die die Schwachen mitgezogen haben. Wenn das nicht funktioniert, d.h. wenn wir weniger SekretärInnen haben und die andere Linie hintendran nicht funktioniert – und ich sehe die im Moment eher abbröckeln – dann kommt es zu einer Situation, wie wir sie jetzt in der Tarifrunde im Handel hatten.

Das Wissen darum bereitet mir große Sorgen. Ich habe mit Leuten gesprochen, weil ich rausfinden wollte: »An was liegt es, dass Ihr das in 2003 nicht hingekriegt habt?« Das hat an der Angst um den Arbeitsplatz gelegen, aber auch daran, dass sie nicht mehr so betreut worden sind, wie das vorher der Fall war. Die Mitglieder spüren uns praktisch zu wenig. Sie lesen über ihre Gewerkschaft in der Zeitung, sie lesen dort mal was, sie lesen dort was. Aber nur das gemeinsame Planen, Mittragen und zusammen Umsetzen führt zum Erfolg.

 

»Jeden Tag ein neues Wutzel« – Gewerkschaft unter Druck

Ein Wort zur aktuellen Situation: Im Moment gibt es eine sehr breite »Front« dagegen, dass gewerkschaftliche Interessenvertretung überhaupt noch eine Legitimation hat – bis dahin, nicht nur die Idee, sondern auch die physische Existenz gewerkschaftlicher Organisationen zu bestreiten. Wie seht Ihr vor Ort, in Mannheim, die Chance, gemeinsam mit dieser Situation umzugehen, d.h. mit dem Druck auf die Gewerkschaften und den harten Eingriffen in die sozialen Rechte von Beschäftigten und Erwerbslosen wie beispielsweise in der Agenda 2010?

Gitta: Es gibt zu viele nicht genutzte Möglichkeiten. So, wie ich vorhin das Abtauchen geschildert habe in Bezug auf die Tarifpolitik und den Personalabbau bei ver.di, erlebe ich im Moment eine ziemlich gespaltene Organisation in Bezug auf die Agenda 2010. Offiziell wird jeder, der in ver.di arbeitet, die Haltung vertreten, die in Sachen 2010 auch sehr differenziert veröffentlicht worden ist. Praktisch führt das aber nicht unbedingt dazu, dass die politischen SekretärInnen vor Ort z.B. mit ihrem Personalrat reden und ihn fragen: »Wo könnt Ihr Euch vorstellen, in Sachen 2010 initiativ zu werden?«, oder ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister suchen etc. Manche sagen vielleicht auch: »Eigentlich weiß ich gar nicht, wie ich das machen soll.« Wir haben politische Sekretäre, die auch politische Sekretäre sind, und wir haben politische Sekretäre, die nie politisch arbeiten mussten.

Dann hast Du hinter denen teilweise Ehrenamtliche, die ein politisches Verständnis haben und dagegen anrennen, und andere sagen: »Da soll ver.di jetzt mal ganz aktiv werden«, zur Not stellen sie sich auch mal an den Infostand, aber sie diskutieren nichts.

Vielleicht hängt uns die Novemberrevolution im Genick – hätten wir damals einen Weg wählen können, gewerkschaftliche und personalrätliche Arbeit nicht zu trennen, hätten wir also eine gemeinsame Schiene, wie z.B. in Frankreich, dann wären wir vielleicht an manchen Stellen schwach, wir hätten aber nicht zwei Gre-mienszenen, wo die eine sich immer auf den gesetzlichen Rahmen ihrer Arbeit bezieht und von der anderen die politische Arbeit verlangt. Trotzdem haben wir jetzt eine Form gefunden, um einen gemeinsamen Austausch zu organisieren. Es gibt einen Workshop darüber, wie man mit der Agenda 2010 umgeht. Für mich ist das im Moment die wichtigste Aufgabe: mit der Agenda 2010 offensiv umzugehen. Da gefällt mir ziemlich gut, was da auf offizieller Seite eingetütet worden ist. Es ist nur so, dass die Wagen noch nicht nah genug hintereinander und hinter der Lokomotive stehen. Da muss noch was zusammen wachsen. Wir haben in Mannheim z.B. Betriebe, die das Thema seit einem Jahr bearbeiten, und wir haben andere, da wissen Haupt- und Ehrenamtliche nicht, wie sie damit umgehen können.

Dahinter verbirgt sich ein reales Problem: Es geht derzeit gar nicht um Repolitisierung, denn in Bereichen, wo Du nie eine Politisierung hattest, kannst Du auch nichts repolitisieren. Hier müssen wir vielmehr beginnen, politische Sekretäre zur politisch kontrollierten Arbeit zu motivieren.

Ich glaube außerdem, dass es den Menschen, die politisiert sind, zu weh tut, den Zerriss aushalten zu müssen zwischen ihrem Parteibuch und ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft. Wir müssen überlegen, was die Agenda 2010 für die Menschen bedeutet, die z.B. das SPD-Parteibuch haben und für sich eine ehrenwerte, korrekte Gewerkschaftsarbeit machen wollen. Es gibt da ein Missverhältnis zwischen der Eigendynamik auf Großveranstaltungen wie Gewerkschaftskongressen, wo man den Eindruck hat, von der Stimmung her kurz vor der Revolution zu stehen, und der Frage, ob das vor Ort, im Betrieb trägt.

Kurt: Das große Problem zur Zeit ist, dass nicht nur die Arbeitgeberfront und die Front aller drei großen Parteien – FDP, SPD und CDU – gemeinsam gegen die Gewerkschaften steht, sondern die Krise der IG Metall, in der vorher noch halbwegs dagegen gehalten worden ist, noch hinzu kommt. Und jeden Tag treibt eine der drei großen Parteien noch ein neues Wutzel durch den Ort. Alle hauen auf die Gewerkschaften drauf, und siehe da: Genau zu dem Zeitpunkt lassen sie sich in der IGM auch noch besonders beeindrucken davon. Anstatt mal kräftig zurückzuhauen und zu sagen: »Ihr habt selber genug Probleme«, verkriechen sie sich. Aber es ist auch manchmal fatal: Wenn so ein Schlachtfest beginnt, dann vereinigen sie sich ja alle – alle konservativen Sender, vom ZDF angefangen über Sabine Christiansen bis zu den ganzen privaten Sendern, die Arbeitgeberverbände, die FDP usw. Das ist, als ob das abgesprochen wäre. Und es geschieht nichts dagegen. Die Gewerkschaften reagieren verunsichert, wehren sich nicht entsprechend, und das Schlimme ist: Verunsicherte Arbeitnehmer, die bislang eigentlich immer hinter ihrer Gewerkschaft gestanden haben, fangen jetzt auch an und plappern das alles gleich nach: dass die Gewerkschaften an der Krise schuld seien, weil die Löhne und Lohnnebenkosten zu hoch seien, dass sie Blockierer seien, reformunwillig usw. Dabei waren die Parteien und Verbände in den letzten 20 Jahren absolut reformunfähig – wie jeder weiß.

Damit ist die Frage der Autonomie der Tarif- bzw. Gewerkschaftspolitik aufgeworfen, die derzeit wieder von vielen Seiten her in Frage gestellt wird. Woran würdet Ihr eine solche Autonomie festmachen: an dem Rechtsstatus? Oder an den Inhalten? Entscheidend scheint doch im Moment weniger die rechtliche Unabhängigkeit zu sein, sondern ob die Gewerkschaften ihre Zustimmung zu der These geben, dass sie im Wesentlichen die Verantwortung für die ökonomische Krise tragen.

Gitta: Das ist genau der Punkt: Wie definiert sich Gewerkschaftspolitik jetzt in der Krisensituation, d.h. in einer Situation mit strategisch konkurrierenden Gewerkschaftsspitzen, mit einer Arbeitslosenquote, die so hoch ist wie nie, mit einer Worst Case-Lage des realen Kapitalismus, die wir objektiv bisher so nicht hatten?

Kurt: Viele »NormalbürgerInnen« und auch Gewerkschaftsmitglieder, die bis jetzt z.B. bei der Gesundheitsversicherung gesagt haben, es müsse etwas geschehen, sagen jetzt, wo die Gesetzesvorlagen auf dem Tisch liegen, auf einmal: »Ja, so geht es aber nicht. Warum haben uns die Gewerkschaften nicht erklärt, was da kommen könnte? Ihr hättet das doch verhindern müssen, Ihr hättet Euch klarer und deutlicher einbringen müssen.« Und es stehen Hämmer drin, die vor allem die Arbeitnehmerschaft belasten.

Du meinst die komische Situation, dass alle sagen, es muss etwas passieren, aber dass man die Leute erst mobilisieren kann, wenn es konkret ist?

Kurt: Ja, zu warten, bis das Kind im Brunnen liegt und dann erst zu sagen: »Aber jetzt müssen wir etwas machen.« Dann ist das Gesetz aber verabschiedet.

Sind diese massiven sozialstaatlichen Änderungen eine Chance, wieder jenseits von Fachbereichs-Strukturen oder gar gewerkschaftsübergreifend zu diskutieren?

Kurt: Ich denke schon. Diese Betroffenheiten verbinden grenzüberschreitend, denn es betrifft alle im DGB Organisierten. Da müsste es auf jeden Fall Möglichkeiten geben, einen gemeinsamen Arbeitskreis für Initiativen einzurichten. Denn wenn nicht jetzt, wann dann? Unsere Mitgliedschaft interessiert das Problem jetzt und hier, die wollen wissen: »Wie weit habt Ihr das mitgetragen, abgenickt, gar nichts dazu gesagt?« Das werden die zwar auch von ihren Bundestags-Abgeordneten wissen wollen. Doch von ihrer Gewerkschaft, da haben sie noch weniger gehört. Wir brauchen Antworten darauf, und wir werden mit den Mitgliedern reden müssen, was wir dagegen machen – und ob man an dem ein oder anderen Punkt noch Chancen hat, nachzuhaken. Denn wenn ich mir vorstelle, was unsere Mitglieder teilweise nur verdienen, wird das enorme Auswirkungen haben. Ich denke, wir müssen die Trittbretter an dem Zug so groß bauen, dass auch die noch aufspringen können, die uns bislang fern stehen.

Gitta: Ich sehe das genau so. Ich denke, wir haben aus der Rentendebatte nicht schnell genug gelernt. Die war auch komplex, die einzelnen Dinge erst transportabel, als Betroffenheit da war, also zu spät, dann haben wir bei unseren eigenen Transporteuren nicht genug deren Stärken und Schwächen eingeschätzt. Seither wiederholt sich ununterbrochen das gleiche Spiel: Wie gehen wir mit komplexen Themen um, und wie gehen wir mit dem Problem um, dass die Menschen oft erst dann reagieren, wenn sie unmittelbar betroffen sind? Wir müssen uns also überlegen, wie wir früher Betroffenheit herstellen und was das heißt für Betriebs- und Personalräte, die manchmal den Konflikt nicht aushalten können. Das sind auch pädagogische Aufgaben.

Was halten die nicht aus?

Gitta: Vielleicht haben sie Angst vor Konflikten mit Menschen, die zur Gewerkschaft gehören, aber Parteibücher haben, oder auch ver.di-kritisch sind. Zum anderen müsste man an der Stelle aber auch zugeben können: »Meine Wurzelpartei hat mich im Stich gelassen.« Daraus müsste ich eine Schlussfolgerung ziehen. Das heißt intensiver diskutieren, nicht rausgehen, das halte ich für falsch.

Vielen Dank Euch beiden für dieses Gespräch und viel Erfolg für Eure Vorhaben.

 

Das Gespräch wurde im Auftrag von ver.di Mannheim für die Internetseite des Bezirks geführt: www.verdi.de/baden-württemberg/mannheim

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/03

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