Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Zur Neubestimmung der „Politischen Plattform" / Bernd Riexinger und Werner Wild

Fünf Gewerkschaften des privaten und öffentlichen Dienstleistungssektors bereiten sich darauf vor, ihre organisatorische Eigenständigkeit zugunsten einer neuen gemeinsamen Organisation mit der Zielsetzung aufzugeben, eine bessere Interessenvertretung für die Arbeitnehmer des gesamten Dienstleistungssektors zu schaffen.

Von Anfang an wurde in erster Linie darüber geredet, welche Organisationsstrukturen sich diese neue „Supergewerkschaft" mit voraussichtlich 3,4 Millionen Mitgliedern geben wird, statt die Frage aufzuwerfen: Welche neuen politischen Zielsetzungen ergeben sich aus veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, und was sind die angemessenen organisatorischen Strukturen, die diesen Zielsetzungen dienlich sind?

Nachdem insbesondere die Vorstände von HBV und IG-Medien auf den Gewerkschaftstagen des vergangenen Jahres daran erinnert wurden, daß man zuerst die Ziele kennen muß, um die Frage der Mittel zu beantworten, soll nun mit einem politischen Programm „nachgebessert" werden.

Nach der Erfahrung mit der Diskussion um die „Politische Plattform" – die keine politischen Inhalte enthielt – und dem „Programmkongreß" in Hannover kann die Frage der politischen Inhalte nur durch eine breite Diskussion der Mitglieder dieser fünf Gewerkschaften geklärt werden. Mit unserem Diskussionspapier wollen wir einen Anstoß zu der längst überfälligen Diskussion geben. Dieser Anstoß lädt ein zum Mitdiskutieren. Er ist keineswegs vollständig, aber er zeigt eine Richtung an. (...)

Nach unserem Ermessen müssen von einer politischen Plattform drei Fragen beantwortet werden:

 

I. Krise der Gewerkschaften

(...) Einen Bruch mit dem Neoliberalismus haben die Gewerkschaften und auch die SPD bis heute nicht vollzogen. Voraussetzung und Bedingung für die Durchsetzung des Sozialstaates und der Tarifautonomie nach dem 2. Weltkrieg waren hohe Wachstumsraten und Vollbeschäftigung. Im wesentlichen aus der Verteilung der hohen Zuwachsraten des Wirtschaftswachstums wurde die Anhebung der Massenkaufkraft und die materielle Ausgestaltung sozialstaatlicher Regelungen ermöglicht. Dies war die Basis des Reformismus und des Sozialstaatskompromisses. Gegenmacht war das Drohpotential zur Erzwingung der Sozialpartnerschaft. Dieses Modell hat die Gewerkschaften bis heute geprägt, und bis heute besteht die Hoffnung in erheblichen Teilen des Führungsapparates und der Mitgliedschaft, daß sich diese Verhältnisse wieder einstellen. Genau diese Vorstellung führte zur Krise der Gewerkschaftsbewegung.

Seit Mitte der 70er Jahre sind die Wachstumsraten der Wirtschaft erheblich zurückgegangen und damit die ökonomische Basis des Sozialstaates. Der Neoliberalismus setzt mit seinen Verheißungen an diesem Punkt an. Durch weniger Staat und mehr Markt seien die erforderlichen Wachstumsraten wieder zu erzielen. Nach dieser Durststrecke könne auch die Frage der Verteilung des Wachstums wieder gestellt werden. Seit der Schmidt-Regierung („Haushaltssicherungsgesetze") ist die Senkung der Lohnnebenkosten auf der Tagesordnung. Die durch Arbeitslosigkeit und Globalisierung herbeigeführten „leeren Staatskassen", die geschwundenen Reformspielräume haben auch auf die Gewerkschaften gewirkt. Bis hin zu den „Bündnissen für Arbeit" spielt die Vorstellung mit, dem Kapital vorübergehend entgegenzukommen und so – am Ende – wieder zu den alten Bedingungen zurückzukehren. Die „andere Politik" und „das Ende der Bescheidenheit" sind noch längst nicht der Bruch mit dem Neoliberalismus, und nach wie vor ist die Gewerkschaftsbewegung in der Defensive.

Gerade die Gewerkschaften im Dienstleistungssektor sind die geborenen Gegner neoliberaler Politik. Neoliberalismus setzt nicht nur auf die Märkte schlechthin; er setzt in erster Linie auf die Finanzmärkte. Dort werden Renditeerwartungen erzeugt, die Maßstäbe schaffen für die internationalen Konzerne, die aber in der Industrie – und erst recht bei den weniger rentablen, arbeitsintensiven Dienstleistungen – nur mit massivem Arbeitsplatzabbau erzielt werden können. Die Massenarbeitslosigkeit ist in dieser neoliberalen Strategie beabsichtigt, um Staaten, Gesellschaften und Institutionen (auch Betriebsräte und Gewerkschaften) erpressen zu können.

Arbeitslosigkeit, Kapitaltransfer, Umverteilung über Steuern entziehen dem Staat die finanziellen Mittel. So wird der Staat zur Kürzung der Ausgaben, zur Deregulierung und zur Privatisierung im großen Stil gezwungen. Die Frage: Welche öffentlichen und privaten Dienstleistungen braucht eine Gesellschaft, und welchen Preis will sie dafür bezahlen, wird nur noch unter Effizienzgesichtspunkten gestellt, und soziale Standards werden als markt- und damit regelwidrig wegdefiniert.

Neoliberalismus ist somit keine vorübergehende Erscheinung zur Wiederherstellung von Wirtschaftswachstum; er ist die dauerhafte Umverteilung von Geld und Macht. (...)

Wir Gewerkschaften müssen mit aller Klarheit erkennen: Gegen den Neoliberalismus hilft nur die Gegenmacht! (...)

 

II. Ziele, Aufgaben und Handlungsfelder für die Gewerkschaften

Neoliberalismus ist eine politische und ökonomische Strategie des Kapitals; er ist eine „Gegenreform von oben":

Dieser politischen Strategie muß eine Repolitisierung der Gewerkschaften, die am Prinzip der gesellschaftlichen Gegenmacht orientiert ist, entgegengesetzt werden.

 

Beschäftigungspolitik und Binnenmarktorientierung – Arbeit schaffen, Arbeit teilen!

Das entscheidende Grundproblem, das gelöst werden muß, ist die Arbeitslosigkeit. Gegen den neuen Sozialdarwinismus muß wieder das Prinzip durchgesetzt werden: „Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben und Arbeit, Einkommen und Existenz."

Die Gewerkschaften des Dienstleistungssektors müssen die Diskussion um die Frage führen: Welche öffentlichen und privaten Dienstleistungen braucht die Gesellschaft, und welchen Preis sind die BürgerInnen dafür bereit zu bezahlen? Von der Beantwortung dieser Frage wird auch abhängen, wo welche neuen Arbeitsplätze entstehen können (und welche Arbeitsplätze nicht erwünscht sind).

Die Schaffung neuer Arbeitsplätze setzt aber voraus, daß

Nach Jahren der Einkommenszuwächse der Selbständigen mit jährlichen Zuwachsraten in zweistelligen Prozentzahlen und Reallohnverlusten der Arbeitnehmer ist die Zeit der Rückumverteilung gekommen, um dem Staat die Mittel zu geben, Arbeitsplätze zu schaffen und so den Druck auf die Sozialkassen bzw. Lohnnebenkosten zu nehmen. Die Mittel dazu sind: Steuer-, Sozial- und Zinspolitik. Folgende Grundsätze müssen gelten:

  1. Als Signal, das unmißverständlich auch eine symbolische Bedeutung hat, schlagen wir eine Luxussteuer auf Konsumgüter vor. Ab einem bestimmten Betrag für einen Konsumartikel soll ein erhöhter Mehrwertsteuersatz erhoben werden. Auf diesem Weg kann eine Einstiegsfinanzierung geschaffen werden für die dringend erforderlichen öffentlichen Beschäftigungsprogramme zum Abbau der Arbeitslosigkeit.
  2. In den arbeitsintensiven Dienstleistungsunternehmen spielen die Lohn- und Gehaltskosten und damit die Lohnnebenkosten eine bedeutendere Rolle als in den kapitalintensiven (Export-) Industrien. Deshalb schlagen wir vor, daß die Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen als Wertschöpfungsabgabe erhoben werden. So werden arbeitsintensive Dienstleistungen entlastet. Dem Argument, man brauche einen Niedriglohnsektor im Dienstleistungsbereich (vor allem für Frauen), wird damit die Grundlage entzogen. Der Wettbewerbsdruck und Arbeitsplatzabbau in diesen Bereichen wird gebremst, und eine deutliche Binnenmarktorientierung wird signalisiert.
  3. Erträge aus Kapitalanlagen und Geldtransaktionen an den internationalen Kapitalmärkten werden extra besteuert. Damit können Volumen und Umschlagshäufigkeit an den internationalen Kapitalmärkten begrenzt werden. Auch die Wirkung der "Renditepeitsche", die von diesen Märkten ausgeht und am Binnenmarkt Arbeitslosigkeit schafft, würde abgeschwächt. Die Instrumente dazu sind vorhanden und bekannt, wie z.B. Wertpapierumsatzsteuer, Versteuerung der Kursgewinne, Devisentransaktionssteuer.
  4. Ergänzung der Maastricht-Verträge um die Verpflichtung, daß es in keinem Land der Europäischen Union (EU) mehr als fünf Prozent Arbeitslosigkeit geben darf.
  5. Ökologisches Umsteuern zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch den Ausbau des Schienenverkehrs und der Solartechnik.
  6. Unabdingbar für den Abbau der Arbeitslosigkeit ist die Arbeitszeitverkürzung und eine neue Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Voraussetzung dieser Politik, insbesondere in den kleinbetrieblichen und oft durchsetzungsschwächeren Dienstleistungsunternehmen, ist eine gesetzliche Begleitung der Arbeitszeitpolitik.

Wir müssen daher ein neues Arbeitszeitgesetz fordern, in dem zum einen die gesetzliche Regelarbeitszeit deutlich abgesenkt wird und zum anderen die Überstunden ab einer bestimmten Stundenzahl generell in Freizeit genommen werden.

Arbeitszeitverkürzung wird aber nur dann ein gangbarer Weg sein, wenn die Massenkaufkraft ansteigt und begleitend Kompensationsregelungen durch den Gesetzgeber geschaffen werden. Eine Steigerung der Massenkaufkraft setzt voraus, daß eine aktive Lohnpolitik die Linie der Gewerkschaften wird. Arbeitszeitverkürzung muß aber so schnell wie möglich begonnen werden, deshalb müssen die Gewerkschaften im Dienstleistungssektor gemeinsame Mindestlohnbedingungen festlegen, um die Konkurrenz zwischen den Teilbranchen und Tarifflucht zu verhindern. Ohne Mindestbedingungen beim Einkommen ist Arbeitszeitverkürzung keine Perspektive, und viele Kolleginnen und Kollegen werden weiter dazu bereit sein, Überstunden zu leisten.

Vom Gesetzgeber muß ein Anreiz für die Unternehmen gefordert werden, die bereit sind, Arbeitszeitverkürzungen zu vereinbaren. In Deutschland muß möglich sein, was in anderen Ländern (z.B. Frankreich und Belgien) bereits Rechtslage ist: Unternehmen, die die Arbeitszeit verkürzen, zahlen weniger Sozialabgaben als die, die es nicht tun.

Die Gewerkschaften müssen außerdem für eine neue Arbeitsteilung der Geschlechter eintreten. Damit nicht nur Frauen, sondern auch Männer Familienarbeit übernehmen können, sind staatliche Zuschüsse für Teilzeitarbeit Voraussetzung dafür, daß tarifvertragliche Regelungen auf Teilzeit mit Rückkehrrecht in Vollzeit wahrgenommen werden können.

Genauso muß die Lebensarbeitszeit verkürzt werden, damit Arbeitsplätze für junge Arbeitnehmer entstehen. Dazu ist eine attraktive Altersteilzeit und eine Senkung des Rentenalters für Männer und Frauen erforderlich.

Die Einigung auf diese Ansatzpunkte im Europäischen Gewerkschaftsbund ist auch die Voraussetzung dafür, daß die EU als Sozialunion eine Chance hat. Diese würde sich durch demokratische Teilhaberechte, Beschäftigungspolitik statt Standortkonkurrenz und Tarifautonomie auszeichnen.

 

Reform der Mitbestimmung und des Tarifvertragsrechtes

Die Erforderlichkeit der Reform der gesamten betrieblichen und überbetrieblichen Mitbestimmung sowie des Tarifvertragsrechtes ist offensichtlich. Dazu gibt es auch eine Reihe von Vorschlägen des DGB. Hier einige Forderungen, die speziell im Dienstleistungssektor eine Rolle spielen:

 

Frauenpolitik – Gleichstellungspolitik

Gerade in der Arbeitszeitpolitik, der Einkommenspolitik und der Qualifizierungspolitik müssen die fünf Gewerkschaften im Dienstleistungssektor ihr Verhältnis zur Frauenerwerbsarbeit radikal neu bestimmen. Gleichstellung muß die Maxime sein, nachdem wir im Dienstleistungssektor weite Bereiche vorfinden, in denen in keiner Weise von Gleichstellung die Rede sein kann. Das Profil der Dienstleistungsgewerkschaft wird davon abhängen, ob Hunderttausende von Frauen diese Organisation annehmen können oder nicht. (...)

Im industriellen Sektor werden weiter Arbeitsplätze abgebaut. Ob, wieviel und welche Arbeitsplätze für Frauen im Dienstleistungssektor entstehen, wird von der gesellschaftlichen Gegenmachtstellung der Dienstleistungsgewerkschaften abhängen, d.h. von diesen fünf Gewerkschaften wird mitentschieden, ob ein Niedriglohnsektor entsteht. Der Weg zu mehr und qualifizierter Beschäftigung erfordert den Abschied von einem Arbeitsmarkt und einem Sozialrecht, das nach wie vor auf der Vorstellung des männlichen Alleinverdieners beruht, d.h. umgekehrt: Mehr Arbeitsplätze für Frauen bei gleichzeitigem Schutz vor sozialer Ausgrenzung werden nur dann möglich werden, wenn sich das Modell des Privathaushaltes mit zwei Einkommen bei gleichzeitiger eigenständiger sozialrechtlicher Absicherung der Frauen durchsetzt.

Mit diesem Modell können die Dienstleistungen nicht länger durch private Familienarbeit erbracht werden. Die Gewerkschaften des Dienstleistungssektors müssen die Diskussion um die Kultur der öffentlichen und privaten Daseinsfürsorge anführen als Voraussetzung von Frauen- und Gleichstellungspolitik.

 

Antirassismus

Neoliberale Spaltungspoltik mit ihrer Ideologie der „Kostgänger" und die Defensive der Gewerkschaften und der Linksparteien haben inzwischen in ganz Europa zu einem rassistischen Wohlstandschauvinismus geführt, der nicht zu unterschätzende Teile der Ausgegrenzten, aber auch Facharbeiter und Mittelschichten, in die Arme der Rechtsradikalen und Rechtspopulisten getrieben hat. Alarmierend sind insbesondere die neuesten Untersuchungen darüber, inwieweit rechtsradikale Haltungen in die Gewerkschaftsjugend eingedrungen sind. Mit dem oben skizzierten Umsteuern wird die Ausgrenzung in den westeuropäischen Gesellschaften zwar zurückgenommen, allerdings werden die Gewerkschaften sich nach wie vor klar gegen Rechtsradikalismus politisch positionieren müssen. Darüber hinaus werden die Gewerkschaften gemeinsam mit anderen Organisationen gesellschaftliche und kulturelle Formen und Einrichtungen schaffen und unterstützen müssen, die eine Kultur der Integration sichern. Die Forderung nach Einbürgerung braucht ihre Basis im alltäglichen betrieblichen und gesellschaftlichen Leben.

 

Internationalismus

Neben den Forderungen zur internationalen Solidarität und zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung werden die Dienstleistungsgewerkschaften vor allem die europäische Zusammenarbeit fördern müssen.

Dazu gehören eine gemeinsame Verfassung, die für alle EU-Bürger einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat garantiert, und die Förderung der Fähigkeiten zum interkulturellen Austausch bei Funktionären und Mitgliedern, damit in europa- und weltweiten Konzernen eine gemeinsame Gegenmacht aufgebaut werden kann.

Friedensarbeit ist dringlicher denn je Bestandteil der Gewerkschaftsarbeit. Dabei muß unmißverständlich klargestellt sein: Für die Sicherung der Menschen- und Völkerrechte sind die Völker und als internationale Gemeinschaft die UNO zuständig – und nicht Militärbündnisse wie die Nato.

 

III. Neue Strategien und Arbeitskampfformen

Die zuvor beschriebenen Ergebnisse des kapitalistischen Wandels, insbesondere die Prekarisierung wachsender Beschäftigungsgruppen, die Spaltung und Differenzierung der sozialen Lage der Beschäftigten, die Zunahme der Massenarbeitslosigkeit, die Zunahme der Konzentration einerseits bei gleichzeitiger Zergliederung der Betriebe andererseits und die wachsende internationale Ausrichtung der Konzerne machen es notwendig, neue zusätzliche Arbeitskampfformen und Strategien zu entwickeln.

Kampagnenpolitik

Angesichts der Veränderung des klassischen Betriebes greifen Warnstreiks und Streiks oft zu kurz, um die Konzerne wirtschaftlich zu treffen. Hinzu kommt oft noch ein geringer Organisationsgrad. Die Konzerne im Dienstleistungssektor sind jedoch sehr empfindlich, wenn ihr Image geschädigt wird und Kunden weniger oder zeitweise nichts mehr bei ihnen kaufen. Kampagnen, die soziales ‘Fehlverhalten’ aufgreifen und Konzerne ins soziale ‘Abseits’ stellen, sind deshalb wichtige ergänzende Kampfformen. Dazu gehört auch die Androhung und Organisation von Boykottmaßnahmen.

Zur dauerhaft erfolgreichen Kampagnenarbeit ist der Aufbau von sozialen Netzwerken erforderlich. (...) Der Aufbau von Solidaritätskomitees gegen Schließungen und Verlagerungen kann eine Form solcher Bündnisse sein.

 

Betriebsbesetzungen: Sand ins Getriebe

Eine weitere Antwort auf die neuen Methoden der Konzerne können Betriebsbesetzungen und sogenannte Inplantstrategien sein. Betriebsbesetzungen können eine angemessene Reaktion auf Schließungsabsichten, Verlagerungen oder Ausgliederungen sein, weil sie geeignet sind, die Region und die Öffentlichkeit zu mobilisieren und betriebliche zu regionalen oder gar gesellschaftlichen Problemen zu machen. (...) Es geht darum, mit organisierten Maßnahmen Sand ins Getriebe zu streuen, ohne daß zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen wird.

 

Störung von Logistik und Verkehr

Die Fernfahrerstreiks der letzten Jahre haben bewiesen, wie anfällig die Konzerne bei der Störung des Verkehrs und der Logistik sind. Die Dienstleistungsbereiche, die Logistik und Verkehr in einer Organisation vereinigen, könnten hier wirkungsvolle Arbeitskampfmaßnahmen entwickeln, die ganze Ballungsräume lahmlegen könnten.

 

Internationalisierung der Kämpfe

Unter den veränderten Bedingungen sich internationalisierender Märkte und Produktionsstrukturen erfordert eine nachhaltige Bewahrung bzw. Verbesserung von Kampfkraft eine grenzüberschreitende Koordination gewerkschaftlicher Politik auf Konzernebene, entlang logistischer Produktionsketten und auch auf der Ebene der Tarifpolitik. Dazu ist es notwendig, Kämpfe, Kampagnen und Aktionen zu internationalisieren (ein gelungenes Beispiel ist der grenzüberschreitende Protest der Alcatel-KollegInnen aus 4 Ländern in Paris gegen Arbeitsplatzabbau). Dazu ist jedoch auch der Aufbau von direkten Kontakten und Zusammenkünften von Aktivisten an der Basis der Konzerne unerläßlich. (...)

 

Politisierung der Aktionen und Enttabuisierung des politischen Streiks

Die Regierungspolitik ist ein gesellschaftlich umkämpftes Feld, und die Arbeitgeber machen seit Jahren ‘außerparlamentarischen’ Druck, um ihre Interessen durchzusetzen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik veränderte und verändert derart radikal die Rahmenbedingungen für gewerkschaftliche Politik und das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital, daß dagegen mit rein tariflichen Mitteln nicht mehr anzukommen ist.

Die Politisierung der Aktionen, Kampagnen und Streiks ist deshalb die angemessene Antwort. Die Gewerkschaften müssen endlich dazu übergehen, durch außerparlamentarische Mobilisierung die Regierungspolitik zu beeinflussen und für die Beschäftigten, Arbeitslosen und ihre Familien positive Rahmenbedingungen durchzusetzen. Die Enttabuisierung von politischen Streiks kann daher die Durchsetzungsfähigkeit gewerkschaftlicher Politik erheblich verbessern. Eine große Chance hierfür bietet ein vereinigtes Europa, denn in den meisten anderen Ländern sind politische Streiks nicht verboten und fester Bestandteil der gewerkschaftlichen Arbeitskampfformen.

 

Standbein in Orten und Stadtteilen

Die Dienstleistungsgewerkschaft kämpft gegen Arbeitslosigkeit, soziale Ausgliederung, zunehmende Spaltung und Geschlechterdiskriminierung. Das geht nur mit den Betroffenen zusammen in sozialen Bündnissen und durch die stärkere Einbeziehung in die Gewerkschaften sowie Beteiligung an den Kampagnen und Aktionen.

Dies alles erfordert einen stärkeren örtlich/regionalen Organisationsansatz neben dem betrieblichen. Der Aufbau von örtlicher und stadtteilorientierter Gewerkschaftsarbeit bekommt hier eine wichtige Bedeutung. Die Gewerkschaft ist dabei am Aufbau einer kritischen, der Förderung von Emanzipation, Freiheit und Solidarität verpflichteten Gegenkultur beteiligt.

 

Demokratisierung

Die neue Gewerkschaft tritt nicht nur für mehr Demokratie in Staat und Gesellschaft ein, sondern demokratisiert sich selbst durch eine stärkere Beteiligung der Mitglieder. Die ‘neuen’ Arbeitskampfformen werden dabei so angelegt, daß eine größtmögliche Beteiligung und Offenheit möglich wird.

Wenn aber Demokratisierung selbst Gegenstand der Strategie werden muß, dann läßt sich die Diskussion um die Or-ganisationsstruktur einer neuen Gewerkschaft erst recht nicht ablösen von der Frage der politischen Zielsetzungen. Denn die Voraussetzung für eine solche Strategie besteht darin, daß die mit der Vielfalt und Ungleichzeitigkeit gewerkschaftliches Auseinandersetzungen entstehenden Spannungen durch die Organisationsstruktur auch abgesichert sind und produktiv ausgetragen werden können. Je größer und komplexer Organisationen sind, um so mehr muß die Demokratisierung gewährleistet und institutionell abgesichert sein. (...)

Die Diskussion um die „Politische Plattform" einer neuen Gewerkschaft im Dienstleistungssektor könnte bereits eine solche demokratisierende Aktion sein. Ob dies eintrifft, darüber entscheiden die Kolleginnen und Kollegen, die die Frage der politischen Zielsetzungen einer neuen Gewerkschaftsbewegung zu ihrer eigenen Sache machen. Wir hoffen, daß wir dazu einen Anstoß geben können. Nach wie vor sind wir der Auffassung, daß viele mit uns die Überzeugung teilen: „Das Herz wird nicht an der Börse gehandelt. Es hat einen Standort: es schlägt links."

 

Dieser Beitrag erscheint voraussichtlich auch in der Zeitschrift Sozialismus.

 

Bernd Riexinger ist Geschäftsführer der HBV-Bezirksverwaltung Stuttgart, Werner Wild ist Landesvorsitzender der HBV Baden-Württemberg.

 

Anmerkung

1) Das vollständige Papier kann bezogen werden über die Landesbezirksleitung HBV Baden-Württemberg, Willi-Bleicher-Str. 20, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 20 28-387, Fax (0711) 226 19 66