Von Klaus Pickshaus
Am 6. Juli tagt erneut das "Bündnis für Arbeit" unter Leitung von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Auf dieser Sitzung wird entschieden, ob das Konzept der Schaffung eines "Niedriglohnsektors" als "Radikalkur gegen die Arbeitslosigkeit" noch eine Chance besitzt. Mit diesem Anspruch hatten am 10. Mai die Wissenschaftler und Regierungsberater Wolfgang Streeck und Rolf Heinze im "Spiegel" (Nr. 19/1999) ein Konzept vorgestellt, das staatlich subventionierte Niedriglöhne als Instrument zur Schaffung von neuen Dienstleistungsarbeitsplätzen vorsieht.
Gegen diesen Plan hatten zunächst die IG Metall und dann auch diejenigen Gewerkschaften Stellung bezogen, die sich im Dienstleistungsbereich zu einer neuen Formation namens Ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) zusammen- schlie-ßen wollen. Hierzu zählen ÖTV, DAG, HBV, DPG und IG Medien. Der Lenkungsausschuß dieser fünf Gewerkschaften verabschiedete am 20./21. Mai 1999 ein programmatisches Positionspapier, das sich ausführlich mit der Perspektive der Dienstleistungsarbeit befaßt. Am 1. und 2. Juni veranstalteten die Gewerkschaften eine Tagung in Düsseldorf, in deren Mittelpunkt die aktuell brisante politische Auseinandersetzung um einen "Niedriglohnsektor" im Dienstleistungsbereich stand.
Die Konturen einer eigenen politisch-programmatischen Positionsbestimmung der Ver.di-Gewerkschaften sind hiermit deutlicher geworden. Dies zeigt vor allem ein Blick in das Positionspapier.
Karl Georg Zinn hatte bereits nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß die Ausprägung des Strukturwandels in den kapitalistischen Ökonomien in Richtung steigender Dienstleistungsproduktion unterschiedlichen politischen Gestaltungsoptionen unterliegt: "Die Zukunft der Arbeit ist teils vorherbestimmt - durch den Tertiarisierungstrend -, aber ob wir in einer humanen oder inhumanen Dienstleistungsgesellschaft leben werden, hängt von der politischen Entwicklung, also dem politischen Handeln - unserem Handeln - ab!" (1)
Zinn sieht die Gefahr einer "tertiären Krise", die durch den Einkommensrückgang breiter Schichten, durch damit verbundenen Nachfrageausfall nach Industrie- und Dienstleistungsgütern, durch kumulierende strukturelle Arbeitslosigkeit und durch die Entstehung prekärer Arbeitsverhältnisse charakterisiert wird. Verschärft wird dieser Krisenprozeß durch eine neoliberale Angebotspolitik. Demgegenüber könnten eine Steigerung der Massenkaufkraft und öffentliche Finanzmittel für neue Dienstleistungsnachfrage das Volumen neuer qualifizierter Dienstleistungs-arbeitsplätze erhö-hen. Dies allerdings verlange Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse. Nach Zinn erfordert eine "tertiäre Wohlstandsgesellschaft" erhebliche Interventionen und möglicherweise eher noch mehr gesellschaftliche Regulierung als in der Vergangenheit. Von diesem Grundszenario ist das programmatische Positionspapier geprägt, das dem eigenen Anspruch nach programmatische Ziele und Aufgaben der neuen Gewerkschaft "auf die spezifischen gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedingungen im Dienstleistungsbereich, in der dienstleistungsnahen Industrie, im Medien-, Kultur- und Bildungssektor" zuspitzen will. Als Alternative zu "einer an kurzfristiger Kapitalverwertung interessierten neoliberalen Angebotspolitik" wird "eine gemeinwohlorientierte Politik" gefordert, "die die erforderlichen Rahmenbedingungen für qualitatives Wachstum, öffentlich geförderte Dienstleistungen und Umverteilung der Arbeit schafft".
In Reaktion auf den Lafontaine-Rücktritt und die drohende - wenngleich etwas moderater und sozial abgefederter betriebene - Fortsetzung neoliberaler Politik durch die rot-grün Regierungskoalition formuliert das Positionspapier, daß es nach wie vor notwendig sei, "einen nachhaltigen Richtungswechsel in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik herbeizuführen, die weltweite Vorherrschaft neoliberaler Politik einzuschränken und die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben zu stoppen".
Als Kernpunkte dieser Reformpolitik werden benannt:
Daraus wird die Schlußfolgerung gezogen: "Eine solche gewerkschaftliche Reformpolitik setzt die Veränderung der Machtverhältnisse und damit der Verteilungsverhältnisse voraus."
Völlig konträre Schlußfolgerungen formulieren Streeck und Heinze, die mit ihrem Konzept eines staatlich subventionierten Niedriglohnsektors im Rahmen eines neokorporatistischen "Bündnisses für Arbeit" in die Debatte um die Zukunft der Dienstleistungsarbeit eingriffen. (2) Sie feiern den Rücktritt Lafontaines als Abschied vom "Vulgär-Keynesianismus" und von einer "deutschen Hochpreisversion des Normalarbeitsverhältnisses", die den radikalen institutionellen Umbau des Sozialstaates vermeiden wolle. Dieser sei aber zur Förderung von neuen Dienstleistungsarbeitsplätzen erforderlich.
Millionen neuer Arbeitsplätze insbesondere im Bereich niedrigproduktiver Dienstleistungsarbeit könnten geschaffen werden, wenn man Abschied nehme von "Gerechtigkeitsvorstellungen" aus der Industriegesellschaft, eine stärkere Lohnspreizung nach Produktivitätskriterien durchsetze und Billigjobs für Geringqualifizierte staatlich subventioniere. Zentral geht es ihnen um eine noch stärkere Abkoppelung der Löhne im Dienstleistungssektor von den Löhnen im industriellen Sektor. Insofern wollen sie auch keine einheitlichen staatlichen Lohnleitlinien, sondern eine stärkere Orien-tierung der Tarifpolitik an Wettbewerbs- und Standortkriterien. Die oberste Leitlinie dieser sich sozialdemokratisch verstehenden Vertreter eines "Dritten Weges" zwischen Keynesianismus und Neoliberalismus lautet: "Das wichtigste Instrument einer neuen Arbeitsmarktpolitik im Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft ist - der Markt." (3)
Im direkten Gegensatz zum Kon-zept von Streeck/Heinze wendet sich das programmatische Positionspapier "entschieden gegen die immer wieder vertretene Auffassung, die Beschäftigungspotentiale in Dienstleistungsbereichen könnten nur durch die Schaffung eines Niedriglohnsektors für sogenannte 'einfache' Dienstleistungen erschlossen werden." Zudem werde oft mit einer Unterstellung gearbeitet: "Soziale und personenbezogene Dienstleistungen sind keineswegs einfache unqualifizierte Arbeiten. Sie setzen oftmals hohe berufliche Kompetenz voraus und eignen sich nicht für 'Billig-Jobs'." Zu einer solchen Legendenbildung haben aber auch gewerkschaftliche Vertreter eines "Niedriglohnkonzepts" beigetragen, die wie der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte "staatlich subventionierte Löhne zum Beispiel im Pflegebereich" für sinnvoll erachten. "Hier könnten vollkommen neue Beschäftigungsfelder entstehen, die heute noch gar nicht existieren, weil die Tariflöhne dafür zu hoch sind." (4)
Im Organisationsbereich der neuen Gewerkschaft wären durch die Ausweitung eines Niedriglohnsektors in erster Linie Frauen von der geplanten Absenkung der Löhne betroffen. Schon heute erfaßt die Verbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse insbesondere Frauen. Das Positionspapier nennt als Folgen einer solchen Strategie: "ein zweigeteilter Arbeitsmarkt, geschlechtsspezifische Ausgrenzung und eine Verschärfung der ungerechten Verteilung von Vermögen und Einkommen". Hinzu kommen "erhebliche abträgliche Sogwirkungen auf alle Dienstleistungsbereiche". Überdies würde die Schaffung von "Teilzeitarbeit in anspruchsvollen und zukunftsfähigen Tätigkeitsfeldern und Berufen" hierdurch behindert. Eine gewerkschaftliche Gegenstrategie - so das Positionspapier - wird deshalb auch Fragen einer "Neubewertung der Arbeit und die Aufnahme von Bewertungskriterien in die betrieblichen und tariflichen Entlohnungssysteme, die die für Dienstleistungsarbeit spezifischen Qualifika-tionsanforderungen - wie z.B. soziale Kompetenz - erfassen", mitbedenken müssen. "Diese Neubewertung muß insbesondere zu einer besseren Bezahlung der typischerweise von Frauen verrichteten Arbeit in Dienstleistungsberufen führen."
Sollten sich die fünf Gewerkschaften nicht nur in ihrem programmatischen Positionspapier auf eine ablehnende Haltung, sondern auch auf eine konkrete Gegenstrategie verständigen können, wäre das Konzept von Streeck/Heinze bzw. des Kanzleramtes kaum gegen einen solch gewichtigen Teil der Gewerkschaftsbewegung durchsetzbar. Auf der Fachtagung Anfang Juni lehnten die fünf Ver.di-Gewerkschaften das "Niedriglohnkonzept" jedenfalls entschieden ab. Das Handelsblatt (v. 2.6.1999) resümierte: "Wie vor diesem Hintergrund das Bündnis für Arbeit zum Erfolg geführt werden soll, blieb mehr als unklar. Als Exponent des Bündnisses dürfte Streeck jedenfalls wenig Ermutigung von der Tagung mitgenommen haben..."
Der politisch bedeutsamste Ertrag der vereinten Kraft von Ver.di für die gesamte Gewerkschaftsbewegung könnte aktuell in der Vereitelung einer "Niedriglohnstrategie" liegen, die auch diejenigen beeindrucken würde, die durch den Gewerkschaftszusammenschluß ausschließlich verschärfte Konkurrenz in den neuen Bereichen der Telekommunikation und Informationstechnologie befürchten. Dabei werden durchaus Alternativen für die Perspektive der Dienstleistungsarbeit benannt.
Chancen für Beschäftigungszuwächse im Dienstleistungsbereich werden im Positionspapier "beispielsweise in den Sozial- und Gesundheitsdiensten, bei den Informations- und Telekommunikationsdienstleistungen, bei industrienahen Dienstleistungen sowie im Beratungs- und Freizeitbereich" gesehen. Damit diese Beschäftigungspotentiale erschlossen werden, bedürfe es geeigneter Rahmenbedingungen. Hierzu werden dann in eher bekannter Weise Qualifikations- und Forschungspolitik sowie "verbesserte Beratung und Unterstützung für Existenzgründer" genannt.
Politisch innovativ ist zweifellos die Forderung nach einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, der insbesondere im Bereich der sozialen und personenbezogenen Dienstleistungen, auf Feldern wie Bildung und Kultur, Gesundheitsfürsorge, Erziehung, Pflege und Sozialberatung ausgestaltet werden könnte. Die Begründung dafür laut Positionspapier: "Viele dieser Dienstleistungen können nicht zu marktgängigen Preisen erbracht werden und bedürfen deshalb der öffentlichen Förderung."
Wachsende Bedarfe benennt das Positionspapier "beispielsweise im Bereich öko-effizienter Dienstleistungen bei der Einsparung von Ressourcen und der Gewährleistung umweltverträglicher Mobilität im kommunalen und wohnnahen Umfeld sowie im präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutz, in der Versorgung und Betreuung älterer und hilfsbedürftiger Menschen oder im Ausbau eines Weiterbildungssystems, das die institutionellen Voraussetzungen für das erforderliche lebenslange Lernen schafft". Es wird klargestellt, daß sich dies schon aufgrund des professionellen Charakters dieser Arbeiten "nicht für kurzatmige Lösungen eines öffentlich geförderten Niedriglohnsektors eignet".
Die Durchsetzung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektor müsse sich "auf bereits vorhandene Strukturen gemeinwirtschaftlicher Organisationen stützen" und mache als Finanzierungsbasis "eine stärkere Besteuerung von Gewinn- und Vermögenseinkünften erforderlich".
Erfolge in der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit verlangen darüber hinaus ein ganzes Strategiebündel, zu dem neben schon genannten Komponenten die Reduzierung der Arbeitszeit in großdimensionierten und vielfältigen Formen gehört. "Arbeitszeitverkürzung ist auch im Dienstleistungsbereich das Gebot der Stunde, da auch hier neue Informations- und Kommunikationstechnologien erhebliche Rationalisierungspotentiale schaffen."
Der Spiegel stellte das Streeck/Heinze-Konzept mit der Kernthese vor, "daß die neuen Jobs der Dienstleistungsbranche nicht zu den Bedingungen der alten Industriegesellschaft entstehen können". (5) Die Konsequenzen aus der Ablösung fordistischer Strukturen, deren Erscheinungsformen u.a. der industrielle Großbetrieb und das männlich dominierte Normalarbeitsverhältnis waren, bestimmen auch den Hauptteil des programmatischen Positionspapiers.
Allerdings ist hier die Leitfrage prägend, wie zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und wachsende soziale Ungleichheit verhindert sowie sozialer Schutz für alle, deren Arbeitsbedingungen von denen des sogenannten "Normalarbeitsverhältnisses" abweichen, künftig gesichert werden kann, ohne in allen Fällen konkrete Antworten parat zu haben: "Es muß eine neue Normalität des Erwerbslebens gestaltet werden, die die bestehenden Geschlechterverhältnisse nicht fortschreibt, sondern dazu beiträgt, die Benachteiligung von Frauen und die geschlechtsspezifische Teilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zu überwinden." In einem eigenen Abschnitt werden beispielsweise auch die Formen der sich ausweitenden selbständigen Arbeit behandelt und neue Schutzrechte eingefordert - für die Gewerkschaften insgesamt, wenn auch nicht für die IG Medien, ein neues Thema der Interessenvertretung.
Damit werden keineswegs veraltete starre Normen der Industriegesellschaft konserviert, sondern gewerkschaftliche Instrumente wie die Tarifpolitik und soziale Sicherungsregelungen auf ihren Reformbedarf hinsichtlich der neuen Erfordernisse geprüft und weiterentwickelt.
Selbst wenn das aktuelle Streeck/Heinze-Konzept eines "Niedriglohnsektors" bei den Ver.di-Gewerk-schaf-ten auf Ablehnung stößt, wird die Beteiligung am "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" für anhaltenden Konfliktstoff sorgen. Da das "Bündnis" keineswegs als temporäre Veranstaltung, sondern als eine dauerhafte neokorporatistische "Modernisierungskoalition" angelegt ist, sind die Folgewirkungen für die beteiligten Gewerkschaften gravierend. Bei der Verteidigung der gewerkschaftlichen Autonomie und demokratischer Willensbildungsprozesse sind Kontroversen absehbar. Auf Antrag der IG Medien beschloß die außerordentliche DGB-Landesbezirkskonferenz Baden-Württemberg am 8. Mai mit sehr großer Mehrheit einen Katalog von Mindestforderungen für die weitere Beteiligung am "Bündnis", die sich als konditionierte Ausstiegsbedingungen erweisen könnten. Weitere Debatten über diese zentrale strategische Frage sind vorprogrammiert.
* Klaus Pickshaus ist Gewerkschaftssekretär beim Hauptvorstand der IG Medien und Mitglied der Arbeitsgruppe Programmatik im Interimskonstrukt Ver.di.
Anmerkungen
Dieser Artikel ist erschienen in express 6-7/1999, wir danken der Redaktion!