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Auf dem Leipziger Gewerkschaftstag der ÖTV eskalierte der ver.di-Prozess zu einer handfesten organisationspolitischen Krise. Bis zum März 2001, dem Zeitpunkt der Gewerkschaftstage der fünf ver.di-Gewerkschaften und ihrer Verschmelzung, wird die Zitterpartie nicht beendet sein. Welche Schlussfolgerungen sich daraus zumindest aus Sicht von Aktiven der IG Medien für die Gewerkschaftslinke ziehen lassen, ist Thema des folgenden Beitrages.
Der ver.di-Prozess ist außer Kontrolle geraten. Alle Anstrengungen, die Kontrolle wiederherzustellen, werden selbst wenn sie erfolgreich sind etwas anderes hervorbringen als das visionäre Bild der elastisch-modernen Supergewerkschaft, die in Höhe, Tiefe, Breite und Länge so ziemlich alles umfasst, was man sich heutzutage als Gewerkschaft der Zukunft ausdenken mag. Was in Leipzig auf dem Gewerkschaftstag der ÖTV geschehen ist, hat schließlich den KritikerInnen des ver.di.Prozesses Recht gegeben, freilich mehr, als ihnen recht sein dürfte. Denn dem offenkundigen Kontrollverlust seitens der verantwortlichen Vorstände korrespondiert keineswegs ein Zugewinn an demokratischer Kontrolle und damit auch an Mitgliedernähe des gesamten Prozesses. Was dagegen stattfindet, ist eine verstärkte Verselbständigung der organisationspolitischen Logik und das Schlimme daran ist, dass der Zeitpunkt längst verstrichen ist, an dem konkrete Alternativen, die mehr als Ausstiegsszenarien darstellen, auf der Tagesordnung standen.
Der ver.di-Prozess erweist sich in der Bilanz von drei Jahren Verhandlungen und Debatten wie eine self-fullfilling-prophecy. Programmatisch angetreten, um die manifeste Krise der Gewerkschaften in strategischer Hinsicht zu überwinden, wurde der ver.di-Prozess selbst zu einem Beschleunigungsfaktor dieser Krise. Ohne Rechthaberei, vielmehr, um die Dringlichkeit des Problems zu verdeutlichen, hier nur der Hinweis auf die handfesten Folgen: Während sich in der Bundesrepublik ein sozialer Umbau ersten Ranges vollzieht, in dem so gut wie kein Essential gewerkschaftlicher Politik unberührt bleibt, und während in dieser sozialpolitischen Auseinandersetzung die Erosion der Gewerkschaften als Mitgliederorganisationen fortschreitet, leisten es sich fünf Gewerkschaften, in kaum noch zu übersehendem Ausmaß Ressourcen für eine organisationspolitische Reform abzuziehen. Dies wirkt sich bis tief in die Niederungen der gewerkschaftlichen Mitgliederbetreuung aus.
Was ver.di die beteiligten Gewerkschaften bislang bereits politisch gekostet hat, entzieht sich jedem Controlling. Je krisenhafter der Prozess wird und je länger er sich hinzieht, desto größer werden die so genannten "Zukunftsinvestitionen". Die Frage ist längst nicht mehr, wie viel ver.di überhaupt neu gewinnen oder mobilisieren kann, sondern wie viel schon an traditionellem Bestand verloren worden ist. Die Dimension der Krisenhaftigkeit des ver.di-Prozesses bleibt zumindest ehrenamtlichen Funktionären, die aktiv an diesem Prozess teilnehmen, selten verborgen. Wer dies nicht tat, sondern sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren auf das konzentrieren musste, was man landläufig das gewerkschaftliche "Kerngeschäft" oder "Handwerk" nennt, wird dies noch dramatischer beurteilen. Das Tempo des sozialen Umbaus, die Beschleunigung von Unternehmenszergliederungen, Neugründungen usw., also das alltägliche, aber substanzielle Handgemenge, in dem sich aktive GewerkschafterInnen befinden, hält sich nicht an den Zeitplan eines Lenkungsausschusses und der Planstellenverhandlungen auf ver.di-Ebenen.
In Gewerkschaften, in denen ver.di nicht so umstritten ist wie in der ÖTV, etwa der IG Medien, drückt sich dies als Sehnsucht nach einer Rückkehr zum alltäglichen "Handwerk" aus frei nach dem Motto: Egal, welche Strukturen wir haben werden, wir wollen endlich wieder Strukturen und Ansprechpartner haben. Genau dies ist die reale Folge einer self-fullfilling prophecy: In einer Gewerkschaft wie der IG Medien ist eine Rückverwandlung in den alten Zustand kaum noch denkbar, selbst wenn das, was heute in Gestalt von ver.di auf die Aktiven zukommt, weniger Anziehungskraft hat als eben dieser alte Zustand. Diese Rückverwandlung würde nämlich keineswegs ein Ende der organisationspolitischen Auseinandersetzungen bedeuten, im Gegenteil: Auf absehbare Zeit wäre die IG Medien zwar nicht mehr mit ver.di und der eigenen Zukunft darin, wohl aber mit sich selbst beschäftigt. Was auch immer an Rettungsplänen für den Fall eines Scheiterns von ver.di erarbeitet worden ist oder werden wird, Perspektiven für einen langen Marsch aus der Krise werden davon in keinem Fall zu erwarten sein. Wenn auch nicht dasselbe, so wird doch Ähnliches bei den anderen Gewerkschaften festzustellen sein.
Ein Krisenfaktor waren selbst die innergewerkschaftlichen Oppositionen, wie zuletzt in dramatischer Weise durch die Sperrminorität auf dem Leipziger Gewerkschaftstag der ÖTV demonstriert. Wenigstens in diesem Punkt ist Michael Wendl (ÖTV-Bayern) zuzustimmen, wenn er davor warnt, mit Sperrminderheiten den Willen einer politischen Mehrheit zu blockieren. Diese Mehrheit auf Gewerkschaftstagen hat nun wahrlich wenig zu tun mit dem politischen Willen der Mitglieder, dagegen aber durchaus mit deren Unwillen. Wenn die Oppositionen der ver.di-Gewerkschaften völlig im Recht waren und sind, dass der gesamte ver.di-Prozess über die Köpfe selbst der interessierten Mitglieder hinweggegangen ist, dann können sie aber ebensowenig für sich beanspruchen, dass ihre eigene Position auch nur annähernd zu einer demokratischen Oppositionsbewegung in der Mitgliedschaft beigetragen hat. Pro und Contra tragen sich in der dünnen Luft der Führungsebenen aus. (Und zu diesen Ebenen gehören auch Gewerkschaftstage.) Mitgliedern, denen es sehr wohl um Betreuung und Organisierung vor Ort geht, werden schlecht nachvollziehen können, wie Delegierte auf Gewerkschaftstagen durch eine fatale Taktik das noch verbleibende Rahmenwerk aufs Spiel setzen. So hat man jedenfalls von außen links wie rechts den Gewerkschaftstag der ÖTV wahrgenommen. Dass die Oppositionen dies nicht wollen, ist die eine Sache; eine ganz andere Sache ist, dass sie selbst darüber nicht entscheiden können.
Erschwerend kommt hinzu, dass man sich in der Ablehnung von ver.di zwar einig war und ist, aber keineswegs in der Begründung und auch nicht in den Alternativen. Selbst dort, wo gleich zu Beginn der Auseinandersetzungen Alternativen genannt wurden, und zwar in konkreten Vorstellungen von Ausmaß und Zeitplan, haben diese nicht wirklich greifen können. Dies war etwa in der IG Medien der Fall. Dort hat die Opposition 1998 vorgeschlagen, Kooperationen mit verschiedenen Gewerkschaften in Angriff zu nehmen bzw. auszubauen, dies auch als Basis zukünftiger Zusammenschlüsse. Freilich hat es selbst im Fall einer solchen konstruktiven Opposition an einer wirklich strategischen Perspektive gefehlt, zumindest waren die Begründungen der Alternativen recht unterschiedlich. Entsprechend leicht fiel es dann den ver.di-Berfürwortern, der Opposition pauschal "Alternativlosigkeit" vorzuwerfen. Heute hat sich das Blatt schon halb gewendet. Beim Bielefelder Gewerkschaftstag im November 2000 mussten ausgerechnet Delegierte aus den Reihen der ver.di-KritikerInnen anmahnen, mit einem möglichen Scheitern von ver.di nicht auch die bereits vorhandenen Kooperationen aufs Spiel zu setzen.
Tatsächlich sind ja derartige Kooperationen vorhanden, und zwar auf unterschiedlichsten Ebenen. Zum einen haben in verschiedenen Regionen nicht wenige aktive Mitglieder und ehrenamtliche Funktionäre die für Fusionen typische Erfahrung gemacht, wie angenehm es sein kann, die einzelgewerkschaftliche Abschottung zu überwinden. Zum anderen gibt es ältere wie neuere Kooperationsprojekte etwa im Bereich der "neuen Branchen" , die zwar auch ohne ver.di hätten zustande kommen können, deren Fortbestand mit einem Scheitern von ver.di aber gefährdet sein dürfte. Vieles an dem, was heute als erste positive Erfahrungen auch von Seiten ehrenamtlicher Funktionäre und aktiver Mitglieder gemeldet wird, ist schlicht der Tatsache geschuldet, über den eigenen Tellerrand hinaus geschaut zu haben. Die bisherigen Erfahrungen mit Fusionen zeigen freilich, dass dies meistens ein zeitlich begrenztes Erfolgserlebnis ist, das später von der Binnenlogik der reinen Facharbeit verdrängt wird. Nur ändert dies nichts daran, dass gerade die ver.di-KritikerInnen diese positiven Erfahrungen stärken müssen, um einer späteren Aufspaltung innerhalb der Gesamtorganisation entgegenzuwirken.
Wie wenig sich ver.di dazu eignet, zu einem Streitfall zwischen Rechts und Links oder der Fragestellung "Gegenmacht oder Co-Management" zu machen, lässt sich an den Positionen der Gewerkschaftslinken festmachen. Im Netzwerk der Gewerkschaftslinken ist die Diskussion nicht geführt worden; maßgebliche VertreterInnen des Netzwerkes sind allerdings ProtagonistInnen im innerorganisatorischen Streit um ver.di. Auch hier teilen sich die Positionen und ProtagonistInnen auf alle denkbaren Varianten auf, wobei sich nicht einmal nur Unterschiede hinsichtlich des Für und Wider ergeben, sondern auch in den jeweiligen Begründungen.
Versuche, so etwas wie eine "ver.di-Linke" zu konstituieren, sind bislang wenig erfolgreich gewesen. Weder gab oder gibt es eine gemeinsame Konzeption von Alternativen zu ver.di noch Alternativen für oder innerhalb von ver.di. Daran aber muss gearbeitet werden, je früher, desto besser. Voraussetzung dafür ist freilich, dass man sich nicht in der Binnenlogik der eigenen Organisation erschöpft oder nur eine allgemeine programmatische Diskussion führt, die ja weit über ver.di hinaus greift und letztlich bereits mit dem Netzwerk der Gewerkschaftslinken in Gang gekommen ist. Kurz, es fehlt eine Vermittlung zwischen den Diskussionen im Netzwerk mit der alltäglichen und organisationspolitischen Praxis "vor Ort". Um dies am elendigen Streit über den Vorrang von Ebenen und Fachbereichen deutlich zu machen: Es geht nicht darum; stattdessen muss sich die Linke darum kümmern, dass die gesellschaftspolitischen Inhalte in den "Niederungen" des Alltags von Fachbereichen und Fachgruppen konkret werden. Die Gewerkschaftslinke könnte, gerade mit den jetzt erreichten Vernetzungsansätzen, ein Gegengewicht zur branchenbornierten Verselbstständigung bilden, aber auch zu einer Programmdiskussion und Antragspolitik, die möglicherweise Abstimmungsmehrheiten schafft, aber sich um Umsetzungen in praktische Handlungen nicht schert.
Von Seiten ihrer Propagandisten ist ver.di gern als "Prozess" vorgestellt worden, dies aber in der neumodernen Gestalt eines selbstlernenden Organismus, möglicherweise als Hyperkybernetik einer Höheren Intelligenz, die nach Art der Größenphantasien von Systementwicklern alles mit allem verbindet und dazu auch noch transparent macht. Die Hochenergie, die ver.di mittlerweile zeigt, deutet indessen eher auf die Existenz eines Schwarzen Lochs hin, das jede Menge Kraft von einer ganzen Galaxie abzieht, nicht aber auf die Super Nova eines neu geborenen Sternenkranzes. Wie bislang wird auch in Zukunft ver.di ein "Prozess" sein, freilich keine prozessierende Krisenlösung, sondern eine prozessierende Krise. Das festzustellen und dennoch für Handlungsräume und -möglichkeiten zu kämpfen, ist ein Widerspruch in der Wirklichkeit; sich diesem Widerspruch nicht zu stellen, verdammt zur Alternativlosigkeit.
Sollte ver.di zustande kommen, werden die bislang zwischen und in den Einzelgewerkschaften aufgetretenen Streitfragen möglicherweise schneller als erwartet gegenstandslos werden, dafür aber ganz andere Konflikte innerhalb von ver.di, vor allem mit anderen DGB-Gewerkschaften, potenziert an die Oberfläche treten. Ob verharmlost, verschwiegen oder schlicht nicht erkannt: An solchen Konfliktherden mangelt es bereits heute nicht. Wenn sich sowohl die Linken wie die bisherigen Oppositionen in diesen zu erwartenden Streitfragen ebenso verhalten wie bislang, werden sie mehr und mehr Teil und nicht Lösung der Krise werden. Dies kann man sich ganz konkret und praktisch am Beispiel von Konkurrenzsituationen innerhalb von ver.di und zwischen ver.di und anderen Gewerkschaften vorstellen. Ob dort Linke Protagonisten der Konkurrenz werden oder zu deren Aufhebung beitragen, ist dann viel entscheidender als die Antwort auf die Frage, ob sie 1998, 1999, 2000 oder 2001 für oder gegen ver.di waren.
Der innergewerkschaftliche Kampf für und gegen ver.di ist jedenfalls nicht der, der in den nächsten Jahren für mehr selbsttätige gewerkschaftliche, branchenübergreifende Bewegungen geführt werden muss. Es wird Zeit, dass sich die Linken in den ver.di-Gewerkschaften auf einen Diskussions- und Arbeitszusammenhang als ver.di-Linke verständigen.
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