Warum der Streit um ver.di so selten trefflich ist

nicht nur am Beispiel IG Medien

Noch ist ver.di nicht geboren und schon kracht es im Gebälk. Nachdem die Opposition gegen dieses Projekt einer Mega-Gewerkschaft auf den Gewerkschaftstagen fast zu Restgrößen niedergestimmt worden ist, sind es nun eher die Protagonisten von ver.di selbst, die in die Brennnesseln der eigenen Politik geraten sind. Dass es dazu gekommen ist, ist freilich nicht verwunderlich. Die KritikerInnen hatten es vorhergesagt: ein derart bürokratisch angelegtes Projekt wird zwangsläufig zu Auseinandersetzungen und Verteilungskämpfen auf den verschiedenen Apparat-Ebenen führen. "Hauen und Stechen" nennen es die einen, andere bevorzugen das höfliche Wort vom "Klärungsbedarf".

Dieser Zustand führt jedoch nicht zu einer erneuten politischen Debatte über das Selbstverständnis und die grundlegenden Orientierungen gewerkschaftlicher Praxis, sondern wahrscheinlich zu einer noch stärkeren Entpolitisierung der innergewerkschaftichen Auseinandersetzungen. Ist ver.di, im Positiven wie im Negativen, überhaupt ein Ansatzpunkt für eine Perspektiven-Debatte innerhalb der gewerkschaftlichen und betrieblichen Linken?

IG Medien: Alles soll bleiben, wie es nie war ...

Gerade aufgrund ihrer Besonderheiten zeigt sich innerhalb der IG Medien die ganze Spannbreite der ver.di-Problematik, letztlich auch die Ausweglosigkeit jedes Versuches, auf irgendeine Weise reformierend auf das ver.di-Projekt Einfluss zu nehmen. Der würzburger Gewerkschaftstag der IG Medien 1998 fasste innerhalb kurzer Zeit zwei Beschlüsse, von denen wahrscheinlich die wenigsten ahnten, dass sie sich in der Sache diametral widersprachen. Der erste Beschluss war die Ablehnung eines Antrages aus Wiesbaden, der eine Stornierung des Fusionsprojektes vorsag - zugunsten einer langfristig und an der realen Praxis angelegten Kooperation der Einzelgewerkschaften in verschiedenen Branchen und Bereichen. Also eine Wiederaufnahme oder Fortsetzung der bisherigen Verbund-Versuche (mit HBV, DPG und anderen). Angenommen wurde stattdessen ein Antrag des Hauptvorstandes, der eine Fortsetzung des Fusionsprojektes befürwortete, und zwar auf der Grundlage jener ominösen "politischen Plattform", von der selbst Hauptvorstands-Vertreter meinten, dass sie keine politische, höchstens eine "organisationspolitische" Plattform sei.

Kurz danach aber erhielt ein weiterer Antrag eine mehr als 90-prozentige Mehrheit, wonach alle Fachgruppen der IG Medien auch innerhalb der geplanten, auf voraussichtlich 13 Fachbereichen basierenden Säulenstruktur von ver.di einen eigenständigen, gemeinsamen Fachbereich bilden sollten. Die Urfassung des Antrages sah eigentlich nur den Erhalt des Zusammenhanges von Druckindustrie und Verlagen in einem Fachbereich von ver.di vor. Durch mehrere Zusätze wurde diesen Zusammenhang dann aber um alle anderen Fachgruppen der IG Medien erweitert. Die IG Medien sollte sich in ver.di auflösen und offenbar sofort - in alter Zusammensetzung - wieder neu gründen? Eine ebenso eindeutige Mehrheit fanden alle Anträge, die organisationspolitisch auf eine weitgehende "Autonomie" der ver.di-Fachbereiche gegenüber der ver.di-Gesamtorganisation (den "Ebenen") drängten.

Der Widerspruch war so eklatant wie seine Verleugnung: Erst hatte man jeden Ansatz einer Kooperation auf der Grundlage realer Eigenständigkeit niedergestimmt, nicht zuletzt durch Beschwörung eines "neuen Typs" von Gewerkschaft - und kurz danach schottete man sich schon wieder ab. Also doch ganz der "alte Typ" von Gewerkschaft? In der Debatte wurde zwar auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht, aber derlei Einwände wurden entweder gar nicht wahrgenommen oder schlicht nicht verstanden. Vielleicht wollte man sich auch nur die lästige Auseinandersetzung vom Halse schaffen, indem man alles Weitere einfach an den Hauptvorstand delegierte - freilich mit der Auflage, den Erhalt der bisherigen Organisation durch die "Autonomie" der zukünftigen ver.di-Fachbereiche zu gewährleisten.

Seitdem wurde "Autonomie" zum Zauberwort, mit dem sich alle Türen wie von alleine zu öffnen schienen. Die Anträge zum außerordentlichen Gewerkschaftstag im November 1999 sind voll von diesen "Autonomie"-Ansprüchen, aber in diesem Zauberwort verbergen sich völlig unterschiedliche Interessen. Da war und ist einerseits das Interesse als gewerkschaftlicher Zentralverband, noch immer dominiert durch die Gruppe aus Druckindustrie und Verlagen; da sind andererseits die schon innerhalb der IG Medien wirksamen berufspolitischen und bereichs-spezifischen Verselbständigungstendenzen, etwa im journalistischen Bereich. Eine merkwürdige Allianz von branchen-gewerkschaftlichem Beharrungsvermögen mit einem stärker werdenden koroporativen Organisations-Separatismus, die sich da unter dem Banner der "Autonomie" auf den Weg in ver.di macht.

Überdeckt wird damit ein Konflikt, der schon lange innerhalb der IG Medien schwelt und exemplarisch für das ist, was mit ver.di ins Haus steht. Immerhin geht die IG Medien ja nicht mehr jungfräulich in die Fusion, sie hat selbst einen Fusionsprozess hinter sich - eben das Projekt Mediengewerkschaft, das über Jahre von der früheren IG Druck und Papier verfolgt wurde, 1986 in der formellen Gründung der IG Medien und 1989 mit der Auflösung von IG Druck und Papier, Gewerkschaft Kunst und RFFU in die IG Medien endgültig Realität wurde. Eine mehr oder weniger rein organisationspolitische Realität, denn je näher ver.di rückt, um so häufiger und lauter sind die Stimmen zu hören, die von dem faktischen Scheitern der "Mediengewerkschaft" sprechen. Die Ironie der Geschichte:

Seit 1989 klagen Gruppen - wie Journalisten oder Künstler oder KollegInnen aus neuen Medien-Berufen - über die Dominanz der Fachgruppe Druckindustrie.

Erzählt werden immer wieder die schönen, ersten Begegnungen von Musik-Lehrern mit Druckern im Ortsverein, wo man sich anfänglich nett begrüßte, danach politisch aber nichts mehr zu sagen hatte. (Weil "Politik" in der Gewerkschaft eben immer Tarif-Politik bedeutet und ein Arbeitskampf prekärer Musical-ArbeiterInnen für Betriebsräte in einer Tiefdruckerei halt immer noch ein recht exotisches Ereignis geblieben ist.) Die gescheiterte Begegnung dieser Art wäre eigentlich ein Lehrstück ersten Ranges für ver.di, doch stattdessen setzt sich die Logik derartiger Fusionen fort: Jetzt, 10 Jahre nach der Fusion zur IG Medien, zeichnet sich ein neuer, scheinbar unbezwingbarer Koloss am Horizont ab, die ÖTV. Und nun sind es ausgerechnet die bislang dominierenden Gruppen innerhalb der IG Medien, die sich zur Wagenburg versammeln. War es bislang die Gruppe der Druckindustrie, der der Vorwurf der Dominanzkultur gemacht wurde, wendet sie diesen Vorwurf nun gegen die ÖTV.

Gemessen an der offiziellen Begründung von ver.di, wie sie der Hauptvorstand der IG Medien auf dem würzburger Gewerkschaftstag 1998 vertreten hat, ist dieses Verhalten ein krasser Widerspruch zum "historischen Auftrag" der neuen Gewerkschaft. Offiziell wird ver.di mit dem sozial-ökonomischen Strukturwandel begründet: zum einen mit der nachlassenden Bedeutung der rein industriellen Bereiche (sprich: der Druckindustrie), zum anderen mit der Entstehung neuer, im Übrigen aber noch nicht klar voneinander abgrenzbarer Berufs- und Branchenstrukturen, und darüber hinaus mit der Auflösung der historischen "Normal-Arbeitsverhältnisse" mitsamt überhand nehmender prekärer Beschäftigungsformen. Gewiss, eine gesellschaftstheoretisch und gewerkschaftspolitisch anspruchsvolle Begründung. Aber wie verträgt sich diese mit der haargenauen Rekonstruktion branchen- und berufs-gewerkschaftlicher Strukturen innerhalb von ver.di? Auch wenn es immer wieder abgestritten wird, - es geht gar nicht um diesen "Strukturwandel", sondern um Rationalisierungs-Effekte innerhalb der Apparate. Nach offizieller Lesart soll eine Fusion zur Mega-Gewerkschaft in erster Linie "Synergie-Effekte" bewirken, die dann finanzielle, sprich personelle Kapazitäten freisetzen sollen, um sich verstärkt in neuen Branchen und Bereichen zu engagieren.

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass diese Rechnung so nicht aufgehen wird. Schon heute, innerhalb der traditionellen und notwendigen gewerkschaftlichen Betreuungsarbeit, sind die Aufgaben des hauptamtlichen Apparates sprunghaft angewachsen, umgekehrt auch der Rationalisierungsdruck in finanzieller Hinsicht. Zwar sind die Mitgliederverluste zur Zeit nicht mehr so dramatisch wie vor einigen Jahren, aber eine Trend-Wende ist nicht in Sicht. Zugleich verbraucht die gewerkschaftliche Betreuung für den rein organisationspolitischen "Bestandsschutz" - allein aufgrund der Verwilderung der tarifpolitischen Landschaft, sprich einer Unmenge an jeweils einzeln auszuhandelnden Haustarifverträgen usw. - jede Menge an Ressourcen. Weil es in anderen ver.di-Gewerkschaften nicht überall danach aussieht, als wäre dort Geld im Überfluss vorhanden, werden sich die (durchaus denkbaren) "Synergie-Effekte" auf Dauer als reine Rationalisierungs-Effekte herausstellen. Wobei dann allen anspruchsvollen Zielen und Projekten einer sozial und politisch "erneuerten" Gewerkschaft durchs Spar-Diktat die nackte Geiselnahme droht.

Selbst wenn die offizielle Begründung von ver.di ernst gemeint ist widerspricht das ver.di-Projekt von seiner Anlage her diesen Argumenten. Auf den wichtigsten "Strukturwandel" geht man gar nicht mehr oder in höchst fragwürdiger Weise ein, nämlich den "Strukturwandel in den Köpfen", auf die sich auflösende gewerkschaftliche Bindung, also die Erosion von Gewerkschaften als politischen Mitgliedsorganisationen. Wer das Glück oder Pech hatte, im Einzelnen verfolgen zu können, was auf diversen Tagungen der ver.di-Gewerkschaften dazu geäußert wurde, dem ist klar: dass durch den Nachvollzug der Dienstleistungs-Ideologie innerhalb der gewerkschaftlichen Praxis (Gewerkschaften als "Service"-Unternehmen) ArbeiterInnen und Angestellte für die gewerkschaftliche Organisierung geworben werden sollen - mit eben jener Folie, die heute in den Unternehmen über alle sozialen Beziehungen gelegt wird. Leitbild der gewerkschaftlichen Identität wird sein, wovon sich gewerkschaftliche Praxis zu emanzipieren hat.

"Opfer" IG Medien - "böse" ÖTV?

So selbstbewusst und sicher sich die Delegierten der IG Medien auf dem Gewerkschaftstag in Wurzburg noch gaben, so ahnungslos waren sie angesichts der Hürde, die sie selbst mit ihren Beschlussen fur ver.di errichtet hatten. Denn der würzburger Beschluss, alles solle so bleiben, wie es war, und doch sollte ver.di das werden, was die IG Medien nie geworden ist, trifft krass Interessenlagen innerhalb der ÖTV. Ob es nun im Einzelnen die Interessen der einflussreichen Kreis-Geschäftsführer der ÖTV waren oder, darüber hinaus, im Allgemeinen die kommunalen und landespolitischen Vertretungsstrukturen innerhalb der ÖTV: Der Eklat des "Begleitbeschlusses" der ÖTV war mehr als eine Sommerloch-Affäre. Plötzlich stellte sich heraus, dass es auf der Fuhrungsebene der ÖTV keine Mehrheit fur ver.di geben wird, wenn nicht zugleich das ausgehebelt wird, was fur die IG Medien-Mehrheit absoluten Vorrang hat: die Autonomie der Fachbereiche, und zwar möglichst weit hinauf bis zur Bundesebene.

Vor der Moral kommt das Geld. Eine alte Lehre und niemand kann sich wundern, dass ausgerechnet in Finanzierungs-Fragen die hehren Ziele einer neuen Gewerkschaft verblassen. Der Konflikt stellt sich, etwas verkürzt, so dar: Wahrend die IG Medien will, dass auf möglichst hoher Ebene - durch die Landesbezirke - die Gelder der ver.di-Gesamtorganisation in die Fachbereiche verteilt werden, die dann auch finanziell auf Landes- und Bezirksebene relativ autonom agieren können, beharrt die ÖTV mit ihrem "Begleitbeschluss" darauf, dass die Finanzierung der Fachbereiche auch noch auf Bezirksebene durch die Gesamtorganisation, also die ver.di-Bezirksvorstände, geregelt wird. Angesichts der Lokalmacht der Kreis-Geschäftsführer der ÖTV und deren nomineller Mitglieder-Basis löscht dieses Anliegen natürlich alle Vorstellungen einer Branchen-Autonomie weitgehend aus.

Die Kontroverse ist so zugespitzt, dass selbst zur Zeit - kurz vor den außerordentlichen Gewerkschaftstagen der ver.di-Gewerkschaften - nicht klar ist, wie sie ausgetragen oder umgangen werden kann. Doch egal, welche Lösung oder auch nur Vertagung dieser Konflikt finden wird, - es ist jetzt schon sichtbar geworden, was noch vor einem Jahr als notorischer Pessimismus von KritikerInnen abgetan worden ist: dass ein rein organisationspolitisches Projekt auch nur organisationspolitische Widersprüche erzeugen kann, die aber keinesfalls immer identisch sind mit politisch-inhaltlichen Polarisierungen. Es ist aber noch schlimmer gekommen. Denn vielerorts wird innerhalb der IG Medien der Konflikt mit der ÖTV wie ein politischer Grundsatzstreit wahrgenommen. Das ist er aber nicht. Das historische Feindbild ÖTV ist nichts weiter als das Bild der eigenen gewerkschaftlichen Existenz, freilich in einem Zerrspiegel.

Als Beleg reichen ein paar Hinweise. So ist ohne Widerspruch durch die IG Medien ein programmatisches Papier der ver.di-Gewerkschaften verabschiedet worden, an dem nur diejenigen neue und wichtige Orientierungen feststellen können, die dabei waren, als diese Orientierungen in Kompromissformeln verschwanden. Ebenso ist die Integration der IG Medien in das Bündnis fur Arbeit innerorganisatorisch bislang weitgehend als alternativlos akzeptiert worden. Alles, was einmal als besondere Tradition der IG Medien galt, Repräsentantin eines ‚kämpferischen Reformismus‘ zu sein, wird bei verschiedenen Veranstaltungen, mehr oder weniger zu Recht, als rein historisches Ornament denunziert. Was auch immer als bloße Tradition oder wirklich nachwirkende Praxis innerhalb der IG Medien ein "Gegenmacht"-Konzept repräsentiert, muss also nicht von ÖTV oder anderen demontiert werden, es beklagt sich selbst als Anachronismus und damit als zum Sterben verurteilt.

Der Widerspruch, in den sich viele innerhalb der IG Medien hinein begeben, liegt darin, dass man beides zugleich sein will: "autonome" Fachgewerkschaft innerhalb von ver.di und zugleich jene politische Richtungsgewerkschaft, als die die IG Medien neben anderen im DGB aufgetreten ist. Nur ist das mit der "Richtung" eben so eine Sache - angesichts einer friedlichen und nicht diskutierten Koexistenz von handfestem Betriebs-Korporatismus, der das Bündnis für Arbeit à la New Labour schon praktizierte, bevor SPD-Schröder die Bundestagswahl gewonnen hatte, mit berufsständischen Verselbständigungstendenzen - und daneben noch die Kärnerarbeit eines neu zu entwickelnden gewerkschaftlichen Widerstandes in Bereichen, die von den korporativen Großbetriebs- und Berufs-Politiken nichts zu erwarten haben. In all dem unterscheidet sich die IG Medien nicht von anderen Gewerkschaften und diejenigen innerhalb der IG Medien, die zu Recht auf eine grundlegende Neuorientierung hin arbeiten (sei es in Gestalt traditioneller "Gegenmacht"-Konzepte, sei es als umfassende sozialpolitische linke Opposition), dürften sich eher selbst schwächen, wenn sie den eigenen Wirkungskreis auf sich voneinander abschottende Branchengewerkschaften eingrenzen.

Warum ver.di nicht zu reformieren ist

In fast jedem Detail zeigt die Strukturdebatte über ver.di, wie wenig "trefflich" der Streit um ver.di sein kann. Um dies an einer der Hauptfragen, dem Verhältnis der politischen Gesamtorganisation zu den Fachbereichen deutlich zu machen: Eine gesellschaftspolitisch agierende Linke müsste ein Interesse daran haben, nicht nur die branchen-übergreifenden Strukturen stark, sondern auch so durchlässig, also so "demokratisch" wie möglich zu machen. Der Rückzug in die fachgewerkschaftlichen Strukturen aber überlässt die gesamtpolitischen Entscheidungen weitgehend den obersten Führungsebenen.

Dass dies als Problem in der IG Medien häufig nicht gesehen wird, hat mit der politischen Orientierung selbst zu tun: einer weitgehenden Beschränkung auf die Fragen der Tarifpolitik, in der ja die Fachbereiche souverän bleiben sollen, während höchst politische Fragen wie Sozialversicherungen, Arbeitszeitpolitik und Gesundheitsschutz innerhalb der Gesamtorganisation entschieden werden. Insofern entspricht das Beharren der ÖTV, die Gesamtorganisation gegenüber den Fachbereichen stark zu machen, scheinbar einer durchaus fortschrittlichen Öffnung des rein branchen-gewerkschaftlichen Vorgehens. Natürlich ist real das Gegenteil der Fall: Durch ihr Übergewicht dürfte sich die ÖTV mehr oder weniger immer wieder als Mehrheit einer politischen Gesamtorganisation rekonstruieren, damit auch tonangebend werden fur die reale Politik von ver.di.

Die Debatte über die Strukturen und die Auseinandersetzung über die eigene politische Orientierung, das Selbstverständnis von gewerkschaftlicher Praxis heute, schließen sich also einerseits aus. An der formalen Demokratie allein ist nichts Gutes festzumachen. Umgekehrt liegen den Auseinandersetzungen um Planstellen nicht nur finanzielle Motive einer Besitzstandwahrung zugrunde. Es geht dort auch um die Verteidigung bislang erfolgreicher Strukturen. Dann nämlich, wenn sich diese als "Gegenmacht"-fähig herausgestellt haben, zum Beispiel in einigen Bereichen der HBV. Ähnliches gilt für die IG Medien, nur sind diese jeweils praktisch sinnvollen Strukturen im Gesamtkonzept de facto auf absehbare Zeit miteinander inkompatibel, wobei ‚absehbare Zeit‘ heißt: bis es zu wirklich übergreifenden gemeinsamen Mobilisierungen und Aktionen kommt.

Ver.di braucht kein eigenes Programm, die Frage nach dem Inhalt erübrigt sich, weil die Form von ver.di ihr eigener Inhalt ist. Was in ver.di Gestalt annimmt, das ist jener Typ von Gewerkschaft, der für eine Phase erneuerter Regulierungspolitik notwendig ist und sich seit Jahren in der gewerkschaftlichen Politik schon entwickelt. Es ist mehr als nur eine formale Analogie zum "Bündnis für Arbeit", sondern ein Ergebnis derselben Logik, die auch das "Bündnis für Arbeit" beherrscht und prägend werden dürfte für den neuen Typ von Sozialpartnerschaft, um den den seit langer Zeit gerungen wird: dass die Gewerkschaften einerseits auf höchster und damit zentraler Ebene einbezogen werden in die staatliche Regulierungspolitik, auf dieser Ebene dann Rahmenvereinbarungen getroffen werden, die schließlich über einen breiten Fächer dezentraler, subalterner Instanzen an die konkurrierenden und vereinzelten Basis-Einheiten delegiert werden. Ver.di setzt seiner Struktur nach die Entwicklung der "Verbetrieblichung" fort, bietet aber zugleich eine zentrale Steuerungsinstanz an, auf die Regierung wie Unternehmerverbände zurückgreifen können.

Wie man es dreht und wendet, die rein organisationspolitischen Varianten des Streits um ver.di gehen in jedem Fall in ein und dieselbe Richtung: eine Reorganisierung der Sozialpartnerschaft zu Lasten einer vielleicht tatsächlich eines Tages einmal erneuerten gewerkschaftlichen Praxis, die mehr als nur sektoral wirksam wäre, also Teil einer sozialpolitischen Opposition sein will. Das Beharren auf der Autonomie sogenannter Fachgewerkschaften entspricht dabei durchaus dem Interesse an einer höchst-instanzlichen Zentralisierung gesellschaftspolitischer Entscheidungen. Während umgekehrt das Primat der zukünftigen Gesamtorganisation das besondere Apparat-Interesse einflussreicher ÖTV-Kreise zum allgemeinen Interesse erhebt.

Das Fazit daraus ist nicht neu, aber der Streit um ver.di verdeutlicht noch einmal die Dringlichkeit, dass sich die gewerkschaftliche und betriebliche Linke - jenseits und quer zu den existierenden wie zukünftigen Organisationsstrukturen - eigenständig formieren muss. Was bis heute aber nicht ersichtlich ist, das ist die weitere Konsequenz: dass sie dann nicht mehr nur eine bloß "gewerkschaftliche" Linke ist, sondern eine Linke, die sich auch innerhalb von Betrieben und Gewerkschaft betätigt. Ihre Maßstäbe, ihre Orientierungen und ihr praktisches Vorgehen kann sie nicht von der Binnen-Logik der gewerkschaftlichen Organisation abhangig machen. Sie kann und muss gewerkschaftliche Strukturen nutzen, wo es denn geht und sinnvoll ist, und wo dies nicht möglich ist, hat sie sich selbst zu einer handlungsfähigen Minderheit zu organisieren. Davon sind wir heute noch immer weit entfernt - in der IG Medien wie anderswo.

Martin Dieckmann

Dieser Artikel ist erschienen in: express Nr. 10/1999

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