LabourNet Germany Dies ist das LabourNet Archiv!!! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home Über uns Suchen Termine

 

Martin Dieckmann*

"Der Ruf nach dem starken Mann beruht immer auf einem schwachen Sozialcharakter"

Rede bei der Kundgebung von REGENBOGEN in Hamburg am 21. September 2001

 

Selten sind von einer Bürgerschaftswahl in Hamburg so entscheidende Signale ausgegangen, wie es Übermorgen der Fall sein wird. Man sagt uns, bei dieser Wahl ginge es um Schill oder Nicht-Schill. Das ist nicht richtig, es geht um viel mehr - es geht um eine grundlegende Auseinandersetzung darüber, was hierzulande unter Recht und Unrecht verstanden wird. Nicht mehr, nicht weniger.

Denn Schill, die Schillpartei - das ist der Extremismus der Mitte in Reinkultur. Schill treibt CDU, FDP und insbesondere Rotgrün vor sich her. Schill nimmt diese Parteien beim Wort. Schill und die Schillpartei, das ist nur die Avantgarde, die Vorhut einer Partei der Ordnung, die tausendfach mehr Mitglieder und Anhänger hat als der schräge Haufen namens PRO. Diese Anhänger der Partei der Ordnung finden sich in allen gesellschaftlichen Schichten, in fast allen parteipolitischen Lager, - ja, und sie finden sich auch bei uns, in der Mitgliedschaft der Gewerkschaften.

Diese Partei der Ordnung hat politisch immens an Bedeutung gewonnen, ihre gesellschatfliche Macht ist noch größer. Rotgrün ist davon nicht ausgenommen, im Gegenteil, - Schill hält den PolitikerInnen von Rotgrün in Wahrheit nichts entgegen als den Spiegel, in dem sie ihre eigene Politik wieder erkennen - die Politik der Demontage sozialer und politischer Freiheitsrechte. So das Insistieren früherer Stadtregierungen auf Law and Order (erinnern wir uns an die einschlägigen Kampagnen unter Voscherau). So die Entrechtung von sozial Schwachen durch sozialstaatliche Zwangsmaßnahmen. So auch die unselige Verschiebung sozialer Ängste auf die angeblichen "Drückeberger" (erinnern wir uns an die "Faulenzer"-Sprüche des Bundeskanzlers). So der harte Abschiebungskurs (erinnern wir an das Selbstlob des letzten Innensenators, Hamburg habe mehr Menschen als Bayern abgeschoben).

Der Mechanismus, wie Angst, soziale Angst, Existenzangst, verschoben wird in Aggressionen gegen Feindbilder, - dieser Mechanismus ist hier in Hamburg unter Rotgrün erst richtig scharf gemacht worden. Ich erinnere an jene Studie, die vor längerer Zeit von der Innenbehörde veranlasst wurde. Damals fand in Polizeirevieren eine Umfrage statt über das tatsächliche Bedrohungspotenzial im Stadtteil und das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Der Befund war ähnlich, wie es viele Kriminologen landauf landab immer wieder fest gestellt haben: Das Sicherheitsbedürfnis von Menschen hat nicht unmittelbar zu tun mit der tatsächlichen Bedrohung. Aber was war die Konsequenz? Die Innenbehörde zog aus diesem Befund die Schlussfolgerung, ein Bewusstsein zu stärken, das auf Irrtum beruhte. Nicht in Unkenntnis der Wahrheit, sondern in Kenntnis der Wahrheit ging man zum Unwahren über: man zeigte übermäßig polizeiliche Präsenz und bestätigte dadurch noch ein verkehrtes Bewustsein, statt mit Aufklärung Selbstsicherheit zu stärken. Was, bitte schön, ist das für eine Politik, die manipulativ mit Ängsten arbeitet? War das Schill? Nein, es war Rotgrün.

Der Ruf nach dem starken Mann geht immer von einem schwachen Sozialcharakter aus. Man sagt uns, wir müssten die "realen Ängste" ernst nehmen. Oh ja! Wir müssen sie ernst nehmen, allerdings - verdammt ernst! Zum Beispiel die Angst einer früheren Kollegin von mir, die einmal meinte, man müsse ja im Bus Angst bekommen, wenn einem nur noch Ausländer gegenüber sitzen ... "Reale Angst"?

Ja, die Angst hat auch reale Gründe. Diese liegen aber nicht allein in objektiver Bedrohung und Verunsicherung. Es ist in Wahrheit die Angst, mit sich selbst konfrontiert zu sein in einer Zeit, in der tatsächlich von den Mächtigen im Lande alles andere als Schutz zu erwarten ist. Das ist die Konfrontation mit einer ziemlichen Herausforderung: der Notwendigkeit, Die Fähigkeiten zu entwickeln, selbstständig und solidarisch mit den Anderen die wirklich drängende Not in der Stadt zu wenden. Dagegen stellt die Partei der Ordnung eine unselige Allianz von Menschen her, denen Schutz und Solidarität verweigert mit, - mit Menschen, die Schutz und Solidarität konsequent verweigern. Vereinigt ist diese Partei der Ordnung durch das krasse Gegenteil von Zivilcourage - durch die Anrufung des "starken Mannes", des starken, autoritären Staates. Solche Allianzen sind brandgefährlich für die demokratischen und sozialen Freiheitsrechte.

Ja, es stimmt, das Rechtsbewusstsein im Land ist in Frage gestellt. Man beruft Kongresse zur Wert-Orientierung ein, man gründet Ethik-Kommissionen. Man wundert sich über das Nachlassen sozialer Bindungsfähigket, über das Nachlassen der Fähigkeit zum Mitgefühl. Aber, bitte schön, was ist es denn für ein Beitrag zur Wertorientierung, wenn eine Verkäuferin im Einzelhandel einen Niedriglohntarif hinnehmen muss, um nicht arbetislos zu werden. Während der Unternehmer, der Menchen in die Arbeitslosigkeit entlässt, danach noch vom Sozialstaat dafür belohnt wird, wenn er - trotz steigender Gewinne - weniger Beiträge zur Arbeitslosenversicherung als zuvor bezahlen muss. Rechtsempfinden? Gerechtigkeit? Wertorientierung?

Wir stellen, gerade unter Rotgrün, eine dramatische Veränderung von Rechtsaufassungen fest. Und das geht weiter als nur die Neufassung oder Verschärfung einzelner Gesetze. Das zielt auf die Substanz von Grundrechten. Rotgrün hat damit begonnen, Grundrechte, Bürgerrechte nur noch dahingehend zuzulassen, wenn zuvor Pflichten erfüllt wurden. So das erklärte Ziel der neuen Sozialdemokratie. Das hebelt die menschenrechtliche Bestimmung der Grundrechte aus. New Labour und die neoliberal gewendete Öko-Partei haben in der Sozialpolitik, in der Arbeitsmarktpolitik - also auf den Feldern der sozialen Unsicherheit - jenen Ordnungsstaat nach vorn gebracht, dessen städtischer Verwalter jetzt Schill werden will.

Ihrem Anspruch nach ist die Bundesrepublik ein Rechtsstaat. Wenn sie es jemals geworden ist, dann nur durch massive gesellschaftliche Anstrengungen, Grundrechte im politischen und sozialen Leben als Menschen- und Bürgerrechte zu stärken. Wir erleben - eben nicht erst mit Schill - ein massives Roll-Back, das die Grundgedanken der Rechtsreformen nach 1969 de facto zunichte macht. Denn damals wusste man noch, dass sich der Rechtsstaat eben nicht allein im Schutz von BürgerInnen bewährt, sondern gerade in den Menschen- und Bürgerrechten, die selbst Tätern zuzugestehen sind. Von rein Verdächtigen ganz zu schweigen. Und wie sieht dies in Hamburg aus? Schill wird "Richter gnadenlos" genannt. Wie "gnadenlos" ist eine Senatspolitik, die Brechmittel gegen Strafverdächtige - ich betone: Verdächtige! - einsetzt? Wie gnadenlos muss ein Ortwin Runde (SPD), muss eine Krista Sager (GAL) empfinden, wenn sie sich einmal nur für Sekunden das Bild eines Menschen, der zwangsweise zum Erbrechen gebracht wird, vor Augen führt?

In dieser Auseinandersetzung - in Hamburg - geht es nicht um Schill oder Nicht-Schill. Es geht um die Verteidigung demokratischer und sozialer Grundrechte - gegen die allgegenwärtige Partei der Ordnung - von Schill bis Rotgrün. Gegen diese Partei der Ordnung steht allein REGENBOGEN als Alternative. REGENBOGEN hat viele starke Frauen, auch starke Männer, - aber REGENBOGEN bietet keinen "starken Mann" an. REGENBOGEN stützt sich nicht auf sozial schwaches Verhalten, REGENBOGEN emutigt die sozial Schwachen in ihrer menschlichen Stärke - in der Lust an der Autonomie, in der Freude an Solidarität, gerade an einer Solidarität, die nicht auf persönlichen oder nationalen Eigennutz berechnet ist.

Und das sage ich meinen KollegInnen in den Gewerkschaften, hier in Hamburg: Wer glaubt Schill durch die Wahl von Rotgrün verhindern zu können, der irrt. Man beeinflusst die Politik einer Partei nicht mit deren Wahl. Man legitimiert sie. Wer in diesen Tagen Rotgrün in Hamburg wählt, um sich Schill vom Halse zu schaffen - was eine Illusion ist -, der legitimiert nicht nur Brechmittel gegen Tatverdächtige, der wählt zudem die Kriegsparteien in Kosovo, in Mazedonien und morgen in Afghanistan. Der wählt eine Kultur von Vergeltung, Rache, - der wählt die Kultur einbetonierter Herzen, in denen das Mitgefühl von gestern schon heute in den Hass von morgen umschlägt.

Und zum Schluss: Jede Stimme für REGENBOGEN ist eine Ermutigung für andere - all die Anderen, für die REGENBOGEN verlässlich, mutig, und ohne jeden modischen Konformismus eingetreten ist und weiter eintreten wird. Ermutigung für die Opfer von Sozialbehörden, Ausländerbehörden, die Opfer von Polizeiübergriffen und Unternehmerwillkür, Ermutigung gerade auch für diejenigen, die REGENBOGEN gar nicht wählen können, weil sie keinen deutschen Pass haben. Ja, ich sage: "Opfer", aber REGENBOGEN sagt diesen Menschen nicht: Sucht Schuldige! Jagt sie! Lasst sie jagen! Sondern: Lasst uns etwas zusammen tun, lasst uns Zivilcourage nicht nur propagieren in Werte-Kommissionen, sondern überall dort, wo sie gefordert ist - praktisch. Jede Stimme, die REGENBOGEN aus wahltaktischen Gründen entzogen wird, geht diesem Aufruf zur Eigeninitiative und Solidarität verloren. Deshalb: mit beiden Stimmen REGENBOGEN!

Martin Dieckmann ist Fachgruppenleiter beim ver.di-Bundesvorstand und Mitglied von "REGENBOGEN - für eine neue Linke"


Home
LabourNet Germany: http://www.labournet.de/
LabourNet Germany: Treffpunkt für Ungehorsame, mit und ohne Job, basisnah, gesellschaftskritisch
The virtual meeting place of the left in the unions and in the workplace
Datei:
Datum: