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"Toleranz ist der schwächere Wert, Solidarität der stärkere!"

Redebeitrag für die IG Medien bei der Kundgebung vor Gruner + Jahr gegen die Nazi-Aufmärsche in Hamburg, von Martin Dieckmann, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Gruner + Jahr, Verlag Hamburg.

Wir sind heute hier her gekommen als Angestellte und Redakteure von Gruner + Jahr. Wir sind Sachbearbeiterinnen, Redakteure, Dokumentarinnen, wir kommen aus Abteilungsleitungen, wir sind Zeitarbeiterinnen, wir sind Buchhalter und Aushilfen. Wir haben viele Pässe, Hautfarben, unter uns gibt es eine Brasilianerin mit blonden Haaren und es gibt Afrodeutsche. Wir haben viele Religionen oder keine, wir wählen verschiedene Parteien und machmal auch gar nicht. Wir sind unterschiedlicher Auffassung darüber, wodurch Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit entstehen. Wir unterscheiden uns voneinander, aber wir sind mit ein und derselben Forderung hierher gekommen: dass den Nationalsozialisten der öffentliche Raum versperrt werden muss. Um die Versammlungsfreiheit zu retten, darf man nicht die Demokratie verhaften. Der Nazismus, nicht die Demokratie, gehört in Gewahrsam.

Wenn wir hier sind, dann zeigen wir uns in all unserer Unterschiedlichkeit. Wir führen Tag für Tag untereinander manchmal harte Kontroversen, wir fechten Standpunkte aus, oft sehr gegensätzliche Standpunkte. Wir sind hierher gekommen, um uns in dieser Unterschiedlichkeit zu zeigen. Wir verteidigen damit auch unsere eigene politische Kultur von Kontroversen und Auseinandersetzungen unter Kolleginnen und Kollegen. Ich will meinen eigenen Standpunkt so darstellen, wie wir es in unseren Versammlungen gewöhnt sind: Man nimmt Stellung und spricht für sich – aber im eigenen Argument kommen die Anderen noch vor.

Im Verlag haben wir damit begonnen, darüber zu sprechen, was wir tun können. Wie können wir in unserem eigenen Umfeld dazu beitragen, das Umfeld der Nazis zurückzudrängen? Was geschieht in unserem eigenen Umfeld, hier, am Baumwall in der Hafen-City?

Wir leben in der Mitte einer gespaltenen Gesellschaft und diese Spaltungslinien sind keineswegs immer eindeutig. Sie gehen manchmal mitten durch uns hindurch. Ein Teil dieser Gesellschaft leistet sich den Spaß, sich selbst "Spaßgesellschaft" zu nennen. In diesem Teil der Gesellschaft gilt als es als ein hervorragendes Persönlichkeitsmerkmal, dass einer "durchsetzungsfähig" ist. Zur Karikatur wird diese Mentalität in Tschaka-Typen, die ihre Seelen in Fitness-Zentren stählen. In diesem Teil der Gesellschaft scheint es nur Gewinner zu geben – "fit for fun" in der Freizeit, "win to win" in der Arbeit. Freiheit ist dort die Freiheit des Stärkeren, des Siegers. In der demokratischen Mitte der Gesellschaft, in den Konzernwelten des schnellen Geldes, dort, wo binnen Stunden über die Lebensbedingungen von Zehntausenden irgendwo in der Welt entschieden wird, ja, auch in den Glamour-Fabriken der Medienunternehmen – dort wird ein Menschenbild produziert, das gar kein Bild eines wirklichen Menschen ist, sondern das Bild eines ewigen jugendlichen Erfolges.

Wer in dieses Bild nicht hinein passt, muss sich mit dem Sozialstaat herum schlagen. Keine leichte Tour, sie endet auf Arbeitsämtern, dann womöglich auf den Sozialämtern. Erschrocken stellen neuere Prognosen fest, dass in Zukunft ein unerwartet hoher Teil der Gesellschaft von der so genannten Internet-Welt schlicht abgekoppelt bleibt. Man erwartet massenhaft Sozialfälle der "Wissensgesellschaft".

Die Nationalsozialisten heute wissen genau Bescheid über diese neue soziale Frage. Ihre Propaganda ist rassistisch, sie ist es auf demagogische Weise auch sozial: "national-sozialistisch". Sie richtet sich gegen den "Weltkapitalismus", gegen das von ihnen erfundene "jüdische Finanzkapital", gegen die "Globalisierung". Und sie versprechen ein perverses Selbstbewusstsein: Wenn du nach unten trittst, dann überstehst du den Druck von oben! Auf brutale Weise radikalisieren die Nationalsozialisten ein Prinzip, das in der demokratischen Mitte der Gesellschaft fast schon total akzeptiert ist: Dass sich der Mensch das Recht zu leben erst verdienen muss. Dass das Recht auf Leben von Nützlichkeit und Leistung abhängt. Über zwanzig Jahre lang hat die Politik in diesem Lande dies in die Köpfe eingehämmert: das Prinzip des Siegers und den Mythos der unbezwingbaren eigene Stärke. Sieger kann es aber nur geben, wenn es Besiegte gibt. Und die Besiegten sind dann selber schuld an ihrer Misere.

Wir sind nicht in der Schreckenswelt, die die Nationalsozialisten ihren Anhängern versprechen und uns androhen. Aber der Weg dahin? Wo sind die Haltepunkte? Wenn diese Frage aufkommt, stellt sich Hilflosigkeit ein. Wo findet die demokratische Mitte der Gesellschaft – in ihrem eigenen Umfeld – die Maßstäbe, um zu sagen: Bis hierhin und nicht weiter? Wer heute den Konkurrenzkampf aller gegen alle, preist, ist weiß Gott kein Nazi. Auch wer, wie ein Hamburger DGB-Funktionär noch vor wenigen Jahren, sagte, die Bevölkerung sei mit der Einwanderung "überfordert", – auch der ist kein Nazi. Er mobilisiert jetzt gegen sie! Aber was tun, wenn dieses Prinzip des Überlebenskampfes aller gegen alle, wenn die Abschottung der Gesellschaft durch Überwachungsanlagen an den Grenzen des Landes und des Stadtteils – wenn diese Prinzipien und Praktiken von den Rechtsextremisten zur entscheidenden Maxime erhoben werden? Was tun, wenn die demokratische Mitte der Gesellschaft von den Nationalsozialisten bei diesen Worten genommen wird? Wie sich dann noch abgrenzen?

Die Wurzeln des Nazismus sind nicht auf eine einfache Formel zu bringen. Auch darüber haben wir unter uns in den letzten Tagen sehr kontrovers diskutiert. Ich halte es viel zu simpel, zu behaupten: Wenn einer arm wird oder keinen Ausbildungsplatz erhält, dann läge es nahe, er würde Nazi. Das ist nicht nur von den Fakten her Unsinn, es ist eine Beleidigung von Millionen Menschen im Land, die in sozialer Not sind. Die Obdachlosen, die hier nebenan nachts unter den Fleetbrücken schlafen, das sind keine Nationalsozialisten! Sie sind deren potentielle Opfer! Rechstextremistische Einstellungen finden sich auf allen Ebenen der Gesellschaft. Harte rechtsextremistische Haltungen finden sich auch bei jungen Menschen, die eine Ausbildung genossen haben, die Industriefacharbeiter in fester und ungekündigter Anstellung sind. Rechtsextremistische Einstellungen finden sich in der Wählerbasis der Sozialdemokratie und auch bei uns, in der Mitgliedschaft der Gewerkschaften. Es geht nicht einfach um die soziale Lage, sondern um Haltungen. Rechtsextreme Haltungen werden heute gleichermaßen mit Facharbeiterlöhnen wie mit Staatssekretärsbezügen honoriert.

Wie können wir diese Haltungen bekämpfen, wie können wir erreichen, dass sich im eigenen Umfeld solche Haltungen nicht verfestigen? Niemand kann erwarten, durch einzelne Beiträge, hier auf dieser Kundgebung oder anderswo, eine Antwort darauf zu finden. Die Antwort kann nur gemeinsam gefunden werden, in der Herausbildung einer Haltung, die ein wirklich gelebtes Beispiel ist. Wir haben es bei der Versammlung am Donnerstag im Verlag erlebt: Wir haben Ideen, wenn wir nur zusammenkommen und zusammen bleiben. Und dadurch erreichen wir noch mehr Menschen innerhalb des Verlages, können uns mit anderen verbinden, in anderen Betrieben und in der Stadt. Wir sollten daran gehen und eine Reihe machbarer Projekte und Initiativen starten, so, wie sie am Donnerstag von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen vorgeschlagen wurden.

Aber einen Teil der Antwort geben wir heute schon – indem wir hier sind und uns zeigen. Mit all unseren Unterschieden zeigen wir, dass und wie wir Toleranz verteidigen. Aber Toleranz ist der schwächere Wert, Solidarität der stärkere. Solidarität heißt nämlich wirklich "Mut" zum Eingreifen – aber nicht allein, individuell, nachts in einer dunklen Straße. Die Appelle zum "Mut gegen Gewalt", die heute durch die Medien gehen, verkennen, dass Zivilcourage durch Gemeinsamkeit, durch Solidarität entsteht. Zivilcourage durch Solidarität, das heißt auch: Halt! sagen, wenn Menschen im Strom des Gewinner-Rauschs mitschimmen und bei nächster Gelegenheit darin unterzugehen drohen. Zivilcourage durch Solidarität, das heißt: für soziale und politische Freiheitsrechte einzutreten, aber so, dass wir sagen können: Was wir für uns tun, tun wir für alle!

Und hier fangen wir damit an. Wir sind hier, gerade weil die Nazis ihren Aufmarsch vor Gruner + Jahr für diesen Tag abgesagt haben. Eine Reporterin rief mich gestern an und fragte mich nach der Kundgebung morgen, in Altona. Ich fragte sie, ob sie denn auch zu unseren Kundgebung heute käme. Sie meinte: "Das besprechen wir noch." Ich fragte: "Ach so, sie gehen wohl nur dahin, wo die Nazis sind und nicht die Menschen, die gegen die Nazis Stellung nehmen?" "Na ja ..." sagte sie, was deutlich als "Ja" zu verstehen war. Trotz aller Aufrufe, "Gesicht" zu zeigen, zeigt man wohl lieber Stiefel und Uniformen der Nazis. Eben deshalb sind wir heute hier, weil es nicht darum gehen kann, immer nur dorthin zu gehen, wo die Nazis sind; es kann nicht dabei bleiben, uns von ihren Aktionen das eigene Handeln diktieren zu lassen. Stattdessen treten wir vor die eigene Tür zeigen, wofür wir eintreten: dass diese Stadt eine offene Stadt für alle Menschen wird, egal woher sie kommen, wie sie aussehen oder welcher Religion sie haben. Eben so durcheinander gewürfelt, wie wir uns selbst hier zeigen – mit all unseren Unterschieden und Kontroversen. Wenn es überhaupt etwas gibt, auf das wir stolz sein können, dann darauf, dass "Deutschsein" bei uns keine Bedeutung hat.

Wir zeigen es den Nazis: Wir sind vor Euch da – und wenn Ihr kommt, sind wir immer noch da! Dieser Platz, diese Stadt, dieses Land gehören Euch nicht, Ihr habt hier nichts verloren! Haut ab!


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