letzte Änderung am 1. August 2003 | |
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Das System verändert sich...
Wenn ein Thema längere Zeit auf Konferenzen und Treffen diskutiert wird und dann den Weg in die Massenmedien findet, liegt es nahe, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es sich um einen Testlauf handelt, der da versucht wird. Dies gilt auch für die Serie in "Der Spiegel" in den Ausgaben 20 bis 22/2003 über "Die verstaubte Verfassung".
Verfassungsrichter, Politiker und (Unternehmer-) Verbandsfunktionäre zuhauf werden mit ihren Aussagen über die Untauglichkeit des Grundgesetzes für die "Zeiten der Globalisierung" zustimmend zitiert. Dass soll zunächst signalisieren: Fachleute sprechen. Wie auch der Spiegel-Redakteur, der Autor der dreiteiligen Serie war: Thomas Darnstädt wird in der "Hausmitteilung" vom 12.Mai 2003 als promovierter Staatsrechtler vorgestellt.
War eben noch das Grundgesetz die bürgerliche Musterverfassung schlechthin - und allen Mittel- und Osteuropäischen Staaten zur Übernahme "nahegelegt" - so sind dies heute: Nachrichten von gestern. Jetzt ist es, vielfach im Text, "eigentlich" von den Westallierten als Provisorium gedacht gewesen, das nur - vor lauter Wohlstand - einfach immer weiter existiert habe. Das ebenso illustre wie einschlägig (nicht vorbestrafte, sondern) bekannte Personal, das der Redakteur Darnstädt auffährt umfasst beispielsweise die Herren Josef Ackermann von der Deutschen Bank, Hans-Olaf Henkel - Dauertalker im Auftrag des Kapitalismus - Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts und, anscheinend unverzichtbar trotz permanenter Fehlprognosen (etwa: e-commerce) einer aus der Mc Kinsey Deutschland-Riege, der Boss gar, Jürgen Kluge. Diese ausgesprochen ehrenwerten Herren haben eindeutige Ansichten über "Politik". Der Oberste Richter der Republik etwa sieht das so: "Politik heisst wehtun und wehtun müssen".
Die grundlegenden Argumente der Serie sind schnell zusammengefasst:
a) Der Föderalismus: "Niemand hat mehr das sagen im Land. Aber jeder hat das Nein-Sagen."
(20/2003, Seite 39).
Ein zentraler Angriffspunkt ist der Föderalismus, insbesondere die Rolle des Bundesrates. Der Grund für diesen Angriff: Föderalismus macht schwerfällig, er verbietet rasches, konsequentes Handeln.
Lang und breitet wird aufgezählt, wieviele Ausschüsse, Unterausschüsse oder Koordinationsgremien es in allen möglichen Bereichen gibt: Wer soll dem Autor da nicht zustimmen, wenn die Fußangeln der Bürokratie benannt werden. Und erst recht, wenn die Bayern die bösen Buben geben dürfen oder müssen. In einem Textkasten expliziert, wofür rasche Handlungsfähigkeit gewünscht wird: Wegen des Dauerthemas "Reform des Sozialsystems", das andere Länder auch wegen ihres Zentralismus schneller realisieren könnten...
b) Die Verbände: "Wie sich die Verbände, allen voran die Gewerkschaften, in die staatliche Politik hineingedrängt haben,
betrachten Verfassungsrechtler seit Jahren mit Sorge." (22/2003, Seite 65).
Kaum gelingt es dem von seiner Redaktion zum Experten gekürten Darnstädt, Formulierungen zu finden, die ihn als Verteidiger von Prinzipien jenseits der Interessenspolitik ausweisen sollen, so macht er sich selbst mit seinem Eifer einen Strich durch die Rechnung.
Das liest sich denn zunächst so:
"Konsequenz: Das Grundrecht der Verbände muss eingeschränkt werden. Die Tarifautonomie von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden kann nicht vorbehaltlos gewährleistet werden." (22/ Seite 66).
Eine Formulierung, die zwar einen bisherigen Grundsatz attackiert, aber versucht nahezulegen, dies geschähe von einem technokratisch-neutralen Standpunkt aus.
Unmittelbar darauf aber ist der Schatten von Brötchengebers Taktstock zu sehen:
"Regierung oder Parlament muss die Möglichkeit bekommen, gegen maßlose Abschlüsse ein Veto einzulegen". (ebda)
Preisfrage: Gab es je einen Unternehmerverband, der noch ein paar Euros draufgelegt hat?
c) Die Parteien
Ja, auch die Parteien stehen im Fadenkreuz. Das klingt dann so:
"Das Volk will vielleicht gar nicht repräsentiert werden - es will lieber selbst entscheiden". (22, Seite 62).
Was zunächst in dem einen oder anderen Ohr gut klingen mag, führt dann zu solchen Aussagen:
"...: Da kommt es nicht auf das verfassungsrechtlich korrekte Verfahren bei der Herstellung der Entscheidung an, sondern auf die Akzeptanz dessen, was dabei herauskommt." (ebda)
Schreibt selbstverständlich nicht der Autor selbst, sondern indem er, als "Beinahe-Zitat" auf ein Buch des Politologen Fritz Scharpf verweist...
Um diese Argumentation populär zu machen, wird zunächst über Parteien geschrieben - wohl wissend, dass die Erfahrungen mit diesen Gebilden in der Regel negativ sind. Von da aus geht es zum "Gesetzesvorbehalt" im Grundgesetz - das unter anderem besagt, Gesetze müssten demokratisch zustandegekommen sein - bis zu jenen (diesmal 5,5) altbekannten Milliarden an Investitionen die wegen des bürokratischen Rechtsstaates auf "Halde" liegen bleiben müssen...
"Der Rechtsstaat hat sich zum Investitionshindernis entwickelt." (ebda)
Das ist dann die eigentliche, die schwerste Anklage gegen den Übeltäter.
Die damit verbundene Kritik an den politischen Parteien in der BRD hat gar nichts zu tun, mit jenen Kritikpunkten (Machterhaltungsapparate etc) die demokratisch engagierte Menschen zu laufend grösserer Distanz zu Parteien und entsprechend kontinuierlichem Mitgliederrückgang bewegen: Es ist ein Plädoyer für den "Macher", der sich nicht um Wahlen zu scheren braucht.
Diese drei Komplexe sind die Grundpfeiler der Attacke, die sich dann, als "Gegner" gegen die "Verfassungspatrioten" richtet, jene entmannte und abstrakte deutsche Variante des bürgerlichen Republikaners, die der BRD-Hausphilosph Jürgen Habermas entwickelt hat. Sie, zusammen mit den "Alliierten" (die am Grundgesetz "schuld" sind) sind die (in diesem Falle : wehrlosen) Popanze, auf die eingeschlagen wird. Zur Popularisierung des Projekts "Weg mit dem GG" werden dann Volksabstimmungen und ähnliche Massnahmen aufgezählt - als Alternative aber eben nicht zu den zahlreichen Beschränkungen bürgerlicher Demokratie, die das GG enthält, sondern als Mittel , die vorne skizzierten unternehmerischen Ziele zu verfolgen.
Wenn so nebenbei die "Werte der Verfassung" weggewischt werden und behauptet wird, Verfassungen seien sozusagen die "Geschäftsordnung" eines Staates, dann überrascht es nicht, dass es vor allem die Grundsatzparagraphen sind, die ausdrücklich als überflüssig genannt werden - die ersten 19 des GG. Wenn die BRD jetzt durch die Politik der Bundesregierungen an einem Punkt angekommen ist, der die endgültige Zerstörung der Grundlagen des Konzepts vom "Sozialstaat" bedeutet, so liegt es in der Logik der Sache, dass auch die grundlegenden Regelungen, die eben dieses Konzept bestimmten und ihm den juristischen Rahmen geben, beseitigt werden müssen. Und wenn dieser Prozess von der Ankündigung der "geistig-moralischen Wende" bis zur Vernichtung der Arbeitslosenversicherung rund 20 Jahre gedauert hat, liegt es für die Profiteure des Prozesses nahe, dass Beschleunigung angesagt ist. Und - zur Erinnerung - in dieser Serie des "Spiegel" werden ja keine Neuigkeiten verbreitet, sondern gewollte Einzelheiten lanciert aus einem Diskussionsprozess der offensichtlich in Teilen des Bürgertums seit längerem stattfindet. So sehr der Schreiber über den Wust der Ausschüsse - vor allem zwischen den Bundesländern - sich verbreitet, so wenig findet sich andrerseits etwas über die gewaltige Bürokratie, die BDI und BDA in Gang zu setzen in der Lage sind, wenn es um jene Gesetze geht, die sie haben wollen. niemand beschäftigt schliesslich mehr ReferentInnen als die Unternehmerverbände... Schliesslich: Auch wenn die BRD jener EU-Staat ist, in dem am wenigsten von "Korruption" - als sei dies ein Skandal und nicht System - die Rede ist: In die "Verlegenheit" eines Herrn Berlusconi, mal eben die Gesetze ändern zu müssen, um Prozessen den Garaus zu machen, möchte hierzulande niemand gerne kommen, auch wenn in der BRD - im Gegensatz zu allen anderen Ländern - alle "Affären" stets endeten wie das Schiessen in Hornberg. Eine juristische Flexibilisierung tut not ...
Die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Regierung gegenüber direktem oder indirektem Wählerwillen - und schliesslich spiegelt der Bundesrat diesen auch wieder, ein Thema das bezeichnenderweise niemals behandelt wird - ist der Kernpunkt all dieser so lancierten Argumente. Es stört das Geschäft des Regierens, wenn die Akteure sich Gedanken machen (lassen) müssen, wie WählerInnen an die Urnen zu bringen wären, wo sie keine Wahl haben. Auch hier: Die politiwikwissenschaftliche Analyse sah die "begrenzte Souveränität" der Bundesregierung immer durch zwei interne Festlegungen als gegeben an. Zum einen die Existenz der zweiten Kammer, des Bundesrates eben, und zum anderen - muss noch erwähnt werden, dass der promovierte Verfassungsrechtler dies nicht erwähnt - durch die Unabhängigkeit der Bundesbank, die die Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik begrenzt. Auch die Kritik an den Parteien entspricht eben bestenfalls oberflächlich den Erfahrungen, die viele Menschen mit diesen seltsamen Gebilden des modernen Klientelismus gemacht haben. Es geht in Wirklichkeit um das Konzept der sogenannten Volksparteien - dessen Überflüssigkeit jede neue neoliberale Wende der ehemaligen Sozialdemokratie beweist. Zur Konzeption des investitionsfödernden Staates gehört nicht nur die Behandlung aller "gefährlichen Regungen" durch hightech Polizei, sondern auch politische Organisationen eher wie die Westerwelle-FDP. Will heissen der direkte Klientelismus statt des durch Komplexität verbrämten. Während die Attacke gegen die Gewerkschaften nicht vor allem den um Flexibilität bemühten unflexiblen Apparaten gilt, samt ihren Funktionären, die so gerne auf Augenhöhe mit ihren Sozialpartnern verdienen möchten, sondern prinzipiell dem Recht auf Organisation. Denn natürlich werden auch etwa die juristischen Einsprüche von Bürgerinitiativen als lähmend empfunden - nicht wenige der blockierten Investitionsmilliarden, die durch die Argumentation hindurch immer wieder auftauchen, sind eben solchen Gruppierungen zu "verdanken". Der Titel "Verstaubte Verfassung" erscheint in dieser Sicht als mit dem Herzblut der Investoren geschrieben. Selbstverständlich: Noch jedenfalls geht "es" auch mit dem GG - aber ohne wäre besser. Deswegen wird jetzt versucht, die Sache der Reform des Grundgesetzes mehr in die Öffentlichkeit zu bringen. Und wann der Zeitpunkt kommt, da es endgültig nicht mehr mit dieser Verfassung geht, weiss niemand so genau abzuschätzen.
Möchte jemand das Grundgesetz gegen seine langjährigen Fans verteidigen?
Ein Grundgesetz, dessen Bestandteil Notstandsgesetze sind? Dessen Bestimmungen zum Asylrecht letzteres längst zur Makulatar haben werden lassen? Eine Verfassung, die dem Schutz des Eigentums dient, auf Blut-und-Boden Staatsbürgerrecht beruht? Es gibt wenig Grund dazu. Sicher: Wenn die Verteidigung des (kapitalistischen) Sozialstaats zur letzten Strategie geworden ist, würde auch die Verteidigung des Grundgesetzes dazu passen. Stattdessen wäre es sinnvoller, alles zu vertreten, was Emanzipation einfacher machen könnte - als Alternative zu jenen "Denkern", die vor allem die Erleichterung der Investition haben möchten.
Sicher wäre die Abschaffung der Sondergesetzgebung eine prinzipiell richtige "Forderung". Das sogenannte Ausländergesetz - als extremstes Beispiel - abzuschaffen wäre nicht nur richtig im Sinne gleicher Rechte für alle die hier leben, sondern auch Voraussetzung zur Abschaffung eines der grössten bürokratischen Apparate: Den ganzen Ausländerbehörden samt Ausländerzentralregister. Gegen die Macht von Bürokratien - wie etwa des BDI und BDA und der von ihnen durchsetzten und belieferten Ministerien - und Grossverbänden, wäre die Stärkung individueller Rechte ein Fortschritt - als Alternative zum (etwa im "Spiegel") geforderten technokratisch-populistischen Diktator. Ein Streikrecht für Belegschaftsmitglieder - etwa in Frankreich normal - wäre ein demokratischer Fortschritt. Wahrscheinlich schlecht für die Investitionen, aber gut für die Menschen. Für Organisationen: Je nachdem. Als letztes Beispiel zu erwähnen wären die diversen Sicherheitsgesetze, deren Linie von Zimmermann bis Schily die einer Entfaltung der Überwachung ist - dagegen alternativen zu entwickeln dürfte ebenfalls machbar sein - und andere Beispiele gibt es noch mehrere, aber hier soll weder noch kann es, ein Programm entwickelt werden (ganz abgesehen davon, dass Programme ohnehin nicht zum fruchtbarsten gehören, wenn es um Alternativen emanzipatorischer Art geht) - es soll nur versucht werden zu zeigen, dass "verteidigt das Grundgesetz" keine vielversprechende Alternative ist, wenn es darum geht, den Befürwortern von "Investition statt Emanzipation" entgegen zu treten...
Wer statt des (schlecht-)bürgerlichen Habermasschen Verfassungspatriotismus den investiven Standortpatriotismus einführen will, sollte nicht in seinem eigenen - jetzt für ihn selbst überflüssig oder hinderlich gewordenen Beritt bekämpft werden, sondern prinzipiell.
Mail an Helmut Weiss
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