Bodo Zeuner
Nicht "rechts", nicht "links" wollen sie sein, sondern "moderne Sozialdemokraten", die kaum noch etwas mit der Arbeiterbewegung zu tun haben. Gemeint sind Tony Blair und Gerhard Schröder, die am 8. Juni 1999 ihr Programm zur "neuen Mitte" vorgestellt haben. Der Berliner Politikwissenschaftler Bodo Zeuner geht auf die Dimensionen der Debatte ein. Er erweiterte seinen Vortrag, den er kurz vor der Veröffentlichung des Blair/Schröder-Papiers vor dem Politischen Forum der IG Metall in Bad Orb am 4. Juni 1999 gehalten hat, um einen Exkurs. Das IG MEDIEN FORUM veröffentlicht das Referat im vollen Wortlaut.
Ich will zu zwei Bereichen etwas sagen: Erstens zum Thema Gewerkschaften als politische Organisationen heute und zweitens zum Thema Sozialpakte und "Bündnisse für Arbeit", auch im internationalen Vergleich und im Vergleich mit den n Aktionen der 60er und der 70er Jahre.
Bekanntlich waren Gewerkschaften in Deutschland immer politisch. Die ersten Dachorganisationen entstanden in Verbindung mit politischen Parteien, vor allem mit der Sozialdemokratie, aber auch mit dem Zentrum und den Liberalen. Als politische Kräfte wollten die deutschen Gewerkschaften immer mehr als nur ihre aktuellen Mitglieder vertreten. Im Prinzip verstanden sie sich als Organisation der gesamten Arbeiterklasse, also aller auf abhängige Arbeit angewiesenen Personen. Aber dabei gab es stets eine Arbeitsteilung sowohl in der sozialdemokratischen als auch in der christlichen Arbeiterbewegung, und auch in der kommunistischen, und die lautete vereinfacht: Gewerkschaften sind für das ökonomische Alltagsgeschäft zuständig, Parteien aber für die großen Fragen der Politik, vor allem der Staatspolitik. Bis 1933 haben die sozialdemokratischen Gewerkschaften diese Arbeitsteilung zwar akzeptiert, aber sich niemals, wie etwa die kommunistische RGO, bedingungslos einer führenden politischen Rolle der Partei unterworfen. Das war oft richtig, aber nicht immer - zum Beispiel 1933 nicht, als der ADGB sich, anders als die SPD, bei Hitler anzubiedern versuchte.
Auch nach 1945, in der formal überparteilichen Einheitsgewerkschaft DGB, blieb faktisch die Arbeitsteilung mit der SPD zunächst erhalten, allerdings wuchs die Bündnisfähigkeit auch gegenüber der CDU: Man denke etwa an den Pakt von Böckler und Adenauer, mit dem 1951 die Montanmitbestimmung gesetzlich gesichert wurde.
Brüchig wurde das arbeitsteilige System Ende der 50er mit dem Godesberger Programm der SPD. Der DGB vollzog zwar das Bekenntnis zur Marktwirtschaft in seinem Grundsatzprogramm zwei Jahre später nach - aber einen Schritt der SPD konnte er kaum mitgehen: Die SPD wollte nicht mehr Partei der Arbeiterklasse, sondern Volkspartei sein, d.h. alle gesellschaftlichen Interessen, auch die der Arbeitgeber, vertreten oder doch berücksichtigen und miteinander in Einklang bringen. Die Gewerkschaften konnten aber nun nicht auch noch gleich "Volksgewerkschaft" werden, etwa so, daß sie nunmehr die Interessen der Arbeitgeber gleichwertig mit denen der Arbeitnehmer mitzuvertreten hätten. Bei aller Sozialpartnerschaft und bei aller aktiven und überzeugten Mitwirkung als intermediäre Organisation am Interessenausgleich zwischen Lohnarbeit und Kapital - Interessenvertretung der Arbeitnehmer, also durchaus einseitige Sozialpartei, mußten die Gewerkschaften schon bleiben, wenn sie ihren Existenzgrund nicht verlieren und von ihrem Sozialpartner und der Regierung überhaupt noch ernstgenommen werden wollten.
Es ist kein Zufall, daß unmittelbar nach dem Godesberger Programm im gewerkschaftlichen Umfeld erstmals eigenständige allgemeinpolitische Impulse und Inititativen entstanden, die sich dem Kurs der SPD widersetzten oder mindestens andere Akzente setzten als die SPD-Führung. Otto Brenners IG Metall, vor allem im Umfeld der Frankfurter Zentrale, war dabei besonders wichtig. Während Herbert Wehners SPD ihren Bannstrahl gegen den Sozialistischen Deutschen Studentenbund schleuderte, formierte sich mit Unterstützung Brenners ein linksgewerkschaftlicher Flügel im SDS, woraus eine Keimzelle der 68er-Bewegung wurde. In der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze standen IG Metall und IG Druck und Papier einerseits und die SPD-Führung andererseits auf verschiedenen Seiten der politischen Frontlinie. Die DGB-Gewerkschaften, jedenfalls ein Teil von ihnen, hatten begonnen, eigenständig, jenseits der traditionellen Arbeitsteilung mit der Sozialdemokratischen Partei, politische Positionen zu beziehen und Aktivitäten zu organisieren.
Warum dieser ausführliche Rückgriff auf die deutsche Gewerkschaftsgeschichte? Selbstverständlich geht es mir um Lehren für heute, für die politische Positionierung der Gewerkschaften unter der Schröder-Regierung und der vom Kanzler Schröder geführten SPD. Ich denke, daß in diesem Jahr 1999, ähnlich wie 1959, ein neuer Qualitätssprung der SPD stattgefunden hat, der die Gewerkschaften wiederum vor Probleme einer Neudefinition ihrer politischen Rolle stellt.
Der Unterschied zum Qualitätssprung vor 40 Jahren liegt meines Erachtens darin, daß damals die SPD eine linke Volkspartei in der reformistischen Tradition der Arbeiterbewegung werden wollte. Heute dagegen möchte jedenfalls derjenige Flügel, der sich im innersozialdemokratischen Machtkampf gegen Lafontaine durchgesetzt hat, die SPD zu einer modernen Wirtschaftspartei machen, bei den Wählern um eine sozialstrukturell ganz ungenau definierte Mitte werben und sich explizit und demonstrativ aus der lästig gewordenen politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschieden. Tony Blair hat es vorgemacht, daß sich damit Wahlen gewinnen lassen; bei ihm ist die Distanz zu den Gewerkschaften ein besonders stolz und deutlich vorgezeigtes politisches Markenzeichen.
Ich möchte noch einen kurzen Moment beim Unterschied zwischen 1959 und 1999 verweilen:
1959 bedeutete programmatisch die Abkehr vom Klassenkampf, von der marxistischen Tradition, von der Erwartung eines Zusammenbruchs des Kapitalismus und von der Option für möglichst viel Gemeineigentum an den Produktionsmitteln. Es bedeutete eine Hinwendung zu keynesianischer Globalsteuerung, zu einem starken Interventionsstaat, der für soziale Verteilungsgerechtigkeit sorgen will und versucht, die Mechanismen von Markt, Kapital, Profit und Akkumulation nutzbar zu machen, zu zivilisieren und gemeinwohlorientiert zu regulieren. Im übrigen entsprach der programmatischen Theorie auch die spätere Regierungspraxis: Karl Schiller gehörte zu den Konzeptoren des Godesberger Programms und setzte dieses Programm ab 1966 als Wirtschaftsminister um. Es war ein dezidiert sozialdemokratisches wirtschaftspolitisches Konzept, das als modern und gestalterisch empfunden wurde und sich deutlich von dem altbackenen Wirtschaftsliberalismus der Erhard-CDU und der FDP absetzte. Es enthielt die Konzertierte Aktion als Institution der Einbindung der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Bundesbank in die Wirtschaftssteuerung.
1999 hat der 1959 siegreiche keynesianische Flügel der SPD, vertreten durch den Parteivorsitzenden und Finanzminister Lafontaine, den Kampf um Programmatik und Politik verloren, und dies gerade infolge einer erneuten Regierungsübernahme der SPD. Parteivorsitzender wurde ein Bundeskanzler, der zwar oft betont, die SPD sei eine Programmpartei, von dem aber wenig Programmatisches zu ökonomischen und sozialen Fragen bekannt ist. Überliefert sind Sprüche wie die, es gebe keine spezifisch sozialdemokratische Wirtschaftspolitik, er sei der Kanzler aller deutschen Autos und ohne die Zustimmung der Wirtschaft laufe mit ihm gar nichts. Zwar wurde angesichts der Massenarbeitslosigkeit von den Wählern der SPD die höhere Kompetenz zur Bewältigung dieses Problems zugetraut als der CDU/FDP - aber dies nicht auf der Basis eines klar vertretenen Konzepts, jedenfalls nicht beim Schröder-Flügel. Gewiß scheint nur zu sein, daß man von Keynes, Schiller und Lafontaine Abschied nehmen und sich den weltweit ideologisch und materiell herrschenden neoliberalen und monetaristischen Ideen der Deregulierung und des minimal state zuwenden möchte. Dabei wird der Staat als nationaler Wettbewerbsstaat, der wie ein Privatunternehmen um die Gunst der großen Kapitale zu werben und zu konkurrieren hat, gedacht. Als Erklärung für Arbeitslosigkeit wird weitgehend die neoklassische Theorie, nach der der Preis der Arbeit eben zu hoch sei, übernommen. Wo dabei die Grenze ist, die noch das spezifisch Sozialdemokratische dieser Politik markieren könnte, ist im Augenblick schwer auszumachen. Klar scheint jedenfalls, daß eine Politik, die sich auf eine "neue Mitte" richtet, mit den Benachteiligten und den Verlierern von ökonomischen Umwälzungsprozessen wenig zu tun haben will. (Dies gilt übrigens auch für die Grünen, mit denen ich mich aber deshalb nicht ausführlich beschäftige, weil bei den Gewerkschaften keine entwickelte politische Bindung an diese Partei vorhanden ist.) Kurzum: Der Qualitätssprung von 1959 bedeutete die Abwendung der SPD von der Tradition des Marxismus. Der Qualitätssprung von 1999 besteht, wenn mich nicht alles täuscht, in der Abwendung der SPD von der Tradition der Arbeiterbewegung überhaupt.
All dies wurde gesagt, bevor das Positionspapier von Blair und Schröder "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten" erschien (vgl. FR-Dokumentation v. 10.6.99). Das Papier bestätigt die hier aufgestellte These in allen Punkten. Ich zögere, das Papier "programmatisch" zu nennen, denn dazu fehlt es meist an Konkretion und immer an begründender Argumentation. Es ist eher eine Anhäufung von suggestiv-plakativen Setzungen, mit denen Definitionsmacht beansprucht wird, mit fließenden Übergängen zum Peinlich-Banalen, etwa: "Moderne Sozialdemokraten lösen Probleme, wo sie sich am besten lösen lassen." Dennoch ist die Richtung eindeutig: Gesetzt wird auf fast alle Dogmen von Neoliberalismus, ökonomischer Angebotstheorie, Marktabsolutismus und Konkurrenzverschärfung - einschließlich der sozialdarwinistischen Implikationen. Dieses Papier verdammt in unfreiwilliger Komik "ideologische Vorbedingungen", obwohl es einen ideologischen Glaubenssatz auf den anderen türmt. Das Vertrauen in "Unternehmensgeist", "Wettbewerb", "einwandfreies Spiel der Marktkräfte", "Bildung von Sparkapital" (zur Bildungsfinanzierung) ist grenzenlos; folglich gilt die Senkung von Unternehmenssteuern als Königsweg zur Senkung der Arbeitslosigkeit.
In ihrem Mißtrauen gegenüber dem Staat dagegen sind Blair und Schröder bemüht, hinter ihren Vorgängern Thatcher und Kohl/Rexrodt keineswegs zurückzubleiben. Zwar wird zuweilen vom "aktiven" Staat, der "steuern" soll, gesprochen, aber bei näherem Hinsehen heißt das nur Abbau eines gemeinwohlorientierten Interventionsstaates: Nicht nur die "Steuerbelastung von harter (sic!) Arbeit und Unternehmertum" wird als zu hoch definiert, es wird auch eine ebenfalls zu reduzierende "Regulierungslast" entdeckt. Und beim Thema öffentlicher Dienst verfallen die "modernen Sozialdemokraten" sogar in das Vokabular des Unmenschen: Es geht ihnen darum, "die Qualität öffentlicher Dienste rigoros zu überwachenund schlechte Leistungen auszumerzen" (Hervorhebung B.Z.). Befehlston auch, wenn es um die Arbeitsbeziehungen geht: Blair und Schröder sind sicher, "daß die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz überwunden werden müssen". Gesellschaftlich wird mehr Ungleichheit nicht nur in Kauf genommen, sondern angestrebt: "Soziale Gerechtigkeit" sei etwas anderes als "Gleichheit", "Diversität und herausragender Leistung" gebühre mehr Belohnung, den Verlierern des Modernisierungsprozesses wird dagegen angeboten, genauer: angedroht, daß "moderne Sozialdemokraten ... das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln" wollen. Ein Niedriglohnssektor gilt als erwünscht, um Arbeitslosigkeit zu mindern. Zusammengefaßt: "Moderne Sozialdemokraten" fordern und fördern eine Gesellschaft, in der alle Menschen als "Kapital"-Besitzer zueinander in Konkurrenz gesetzt werden und die Verlierer noch mehr verlieren und die Gewinner noch mehr gewinnen. Die schon eingetretene und sich weiter verschärfende Gesellschaftsspaltung ist für sie kein Problem. Sie zielen auf eine "neue Mitte" und meinen damit dasselbe, was einst ein FDP-Generalsekretär meinte, als er seine Partei als "Partei der Besserverdienenden" anzupreisen versuchte. Es ist deshalb ideologisch konsequent, wenn die FDP-Fraktion des Bundestages das Blair-Schröder-Papier als ihren Entschließungsantrag in den Bundestag einbringt. - Ende des Exkurses; zurück zum Vortragstext vom 4. 6. 99.
Wenn die Diagnose, daß die SPD sich unter Schröder definitiv aus der politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschiedet hat, zutrifft, dann hat die traditionelle Arbeitsteilung zwischen SPD und Gewerkschaften endgültig ihre Grundlage verloren, weil die SPD nicht mehr als der politische Arm einer Bewegung betrachtet werden kann und will, deren ökonomischer Arm die Gewerkschaften sind.
Für die Gewerkschaften und ihre politische Selbstverortung stellt sich eine völlig neue Frage - nämlich die, ob sie ohne eine bestimmte Partei, gewissermaßen auf sich gestellt und im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und mit einer etwa gleichen Distanz zu allen Parteien, die politische Tradition der Arbeiterbewegung fortführen wollen. Die Alternative wäre auch denkbar. Man könnte sie Anglo-Amerikanisierung nennen: Wie in den USA seit eh und je und zunehmend in England, gäbe es auch in Deutschland keine sozialdemokratische Partei mehr, und die Gewerkschaften würden sich zu rein partikularen und gegeneinander konkurrierenden Interessenvertretungen ihrer jeweiligen Mitgliedergruppen ohne jede politisch motivierte übergreifende Solidarität der Klasse entwickeln.
In diesem Fall würden die Gewerkschaften die These akzeptieren, daß sich die Tradition der einst sozialistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung politisch erschöpft hat, daß das, wie die Wahlforscher es nennen, traditionelle Links-Rechts-Cleavage als sozio-ökonomisch fundierte politische Konfliktlinie nichts mehr hergibt.
Ich denke, daß die deutschen Gewerkschaften die Diskussion führen müssen, ob sie diese These vom Ende der Arbeiterbewegung übernehmen wollen oder nicht. Diese Diskussion ist durch die Formelkompromisse des Dresdner DGB-Grundsatz-programms keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil denke ich, daß ein politisches Programm, das wirklich handlungsanleitend ist und nicht gleich wieder in der Schublade verschwindet, dringender gebraucht wird denn je - sonst droht den Gewerkschaften im Wirbel von verschärfter globaler Konkurrenz der Nationalstaaten und ihrer Einbindung in Bündnis genannte Erpressungsverhältnisse rasch der Absturz in die politische Bedeutungslosigkeit.
Nach dem Gesagten dürfte klar sein, daß ich den Gewerkschaften, vor allem der IG Metall, aber auch der neuen Dienstleistungsgewerkschaft, nicht empfehlen möchte, den Abschied von der Arbeiterbewegung nachzuvollziehen, sondern sich im Gegenteil deutlicher und autonomer politisch zu artikulieren und zu positionieren.
Gegen diesen Abschied sprechen einige, hier nur kurz zu benennende Argumente:
Sozialstrukturell besteht trotz aller Differenzierung der Arbeitnehmerschaft die Konfliktlinie zwischen denen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angwiesen sind, und denen, die Arbeitskraft kaufen, um sie mit Profit zu nutzen, weiterhin. Mit der Privatisierung öffentlicher Dienste weitet sich der Interessengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital sogar auf neue Branchen und Bereiche aus. Es ist nicht zu sehen, daß wir, wie dies einige Propheten verkünden, eine Gesellschaft gleichgestellter Kleinkapitalisten und Vermögensbesitzer mit Shareholder-Interessen werden.
Folglich besteht politisch ein Bedarf an staatlich hergestelltem sozialen Ausgleich, an sozialer Gerechtigkeit, an Umverteilung von Einkommen, Vermögen und materiellen Lebenschancen und an Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Unregulierter Kapitalismus produziert weiterhin sozialen Sprengstoff. Die um diese Fragen formierte Konfliktlinie "links-rechts" hat sich nach allen Kenntnissen der Politikwissenschaft keineswegs überlebt; und sie wird von den Wählern auch nach wie vor verstanden und bedient. # Im übrigen produziert der unregulierte Kapitalismus auch ökologische Katastrophen - eine Erkenntnis, die ursprünglich ein Bindemittel für Rot-Grün war.
Schließlich ist, wie wir alle wissen und immer wieder betonen, angesichts der Globalisierung der kapitalistischen Ökonomie die Internationalisierung gewerk-schaftlicher Gegenmacht besonders wichtig - und das wird kaum gehen, wenn die deutschen Gewerkschaften sich nach US-amerikanischem Muster auf die Unterstützung ihrer nationalen Kapitale und ihrer nationalen Regierung beschränken. Bei der internationalen Zusammenarbeit, die die Gewerkschaften brauchen, um nicht von den global players gegeneinander ausgespielt zu werden, ist jedenfalls die internationalistische Tradition der Arbeiterbewegung eher wegweisend, als nationalistisch-populistische Konzepte einer "Firma Deutschland" es sein können.
Ich will jetzt die Quintessenz des ersten Teils meines Referats in einer These formulieren:
Nachdem sich im Jahre 1999 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, mit der die Gewerkschaften bisher im Sinne einer arbeitsteiligen Tradition verbunden waren, aus der politischen Tradition der Arbeiterbewegung verabschiedet hat, stehen die Gewerkschaften vor der Frage, ob sie als alleiniger Nachfolger dieser Tradition willens sind und sich stark genug fühlen, diese Tradition ohne die Verbindung mit einer bestimmten Partei politisch zu vertreten. Es gibt sehr gute Gründe dafür, daß die Gewerkschaften diesen Weg einer eigenständigen Politisierung und nicht den Weg einer Reduktion ihres Anspruchs auf einen Interessenpartikularismus nach amerikanischem Muster beschreiten.
Gerhard Schröder hat die Wahl mit dem Versprechen gewonnen, die Arbeitslosigkeit mit Hilfe eines Sozialpakts, eines "Bündnisses für Arbeit", zu bekämpfen. Hier gibt es einen bemerkenswerten Unterschied zu Tony Blair. Der hat seine Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, den Gewerkschaften keinesfalls mehr Mitsprache einzuräumen als die Konservativen; deshalb gibt es in London keine Initiativen für einen Sozialpakt gegen die Arbeitslosigkeit.
Die Gründe für diesen Unterschied sind historisch und für die Gegenwart besonders lehrreich. Denn in den 70er Jahren gab es in Großbritannien ebenso wie in der Bundesrepublik unter sozialdemokratischen Regierungen dreiseitige korporatistische Institutionen und Pakte von Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Hier hieß das Konzertierte Aktion, dort Social Contract.
In beiden Ländern galten die Sozialdemokraten bei den Wählern als wirtschaftlich kompetent und wurden auch von Teilen der Unternehmer unterstützt, weil ihnen besser als den Konservativen zugetraut wurde, die Gewerkschaften einschließlich ihrer Basis einbinden und zähmen, auf gesamtwirtschaftliche Leitlinien und Ziele verpflichten zu können. Schon in Deutschland gibt es Indizien dafür, daß die Regierungsfähigkeit der Sozialdemokraten sehr eng an ihre Fähigkeit, die Gewerkschaften zu disziplinieren, gebunden war. Willy Brandt war leichter stürzbar, als er nach dem ÖTV-Streik 1974 diese Leistung nicht mehr erbringen zu können schien. Helmut Schmidt verlor 1982 die Unterstützung der FDP als Koalitionspartner, als die Gewerkschaften gegen seine Regierungspolitik der Austerity anzugehen begannen. In Großbritannien war dieser Zusammenhang viel dramatischer. Der Social Contract der letzten Labour-Regierung unter James Callaghan scheiterte Ende der 70er an der Militanz der Gewerkschaftsbasis, die sich nicht auf Lohnverzicht festlegen ließ; Kohl und Blüm dagegen hielten im wesentlichen am Modell des rheinischen Kapitalismus und der Sozialpartnerschaft, in der die Gewerkschaften ein wichtiger Ordnungfaktor sind, fest. Schröder und Blair sind hinsichtlich ihrer Haltung zu Sozialpakten also die getreuen Nachfolger ihrer konservativen Vorgänger.
Was lehrt uns dieser historisch-binationale Vergleich heute?
1. Es gibt wirtschaftspolitische Regierungskonzeptionen, die ohne Mitwirkung der Gewerkschaften auskommen. Solche Konzeptionen lassen den Gewerkschaften zwar ihre Handlungsfreiheit, bedrohen sie aber mit Macht- und Funktionsverlust.
2. Wenn von Regierung und Arbeitgebern die Mitwirkung der Gewerkschaften gesucht wird, dann in Erwartung ihrer Verpflichtungsfähigkeit gegenüber einer sonst zu Unzufriedenheit, innerer Kündigung oder Rebellion neigenden Basis.
3. Basismilitanz ist kein Wert an sich, vor allem, wenn sie partikularistisch und unkoordiniert ihren Lauf nimmt; aber ohne die Drohung mit einer zu Kampfaktionen mobilisierbaren Basis sind die Gewerkschaften als Partner in Sozialpakten wertlos.
4. Die Unterschiede zwischen dem kontinentaleuropäischen Modell und dem anglo-amerikanischen Modell scheinen wichtiger zu sein als die Frage, welche Partei gerade regiert.
Ökonomisch sind die Ausgangspunkte fast entgegengesetzt: Bei der konzertierten Aktion war Vollbeschäftigung fast immer vorausgesetzt; von den Gewerkschaften wurde Lohnzurückhaltung mit dem Ziel der Erhaltung von Preisstabilität verlangt, und diese Zurückhaltung wurde durch Zusagen der Regierung zum Ausbau von sozialer Sicherung, sozialer Symmetrie und gewerkschaftlicher Mitbestimmung honoriert.
Heute dagegen geht es um Concession Bargaining, um Lohnverzicht gegen Beschäftigung bzw. Beschäftigungssicherheit, um Stärkung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit, um Abbau des Sozial- und Interventionsstaaates, um Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Unternehmungen und Aufgaben und gegebenenfalls um staatliche Sonderprogramme zur Eingliederung bestimmter Gruppen, etwa Jugendlicher und Langzeitarbeitsloser, in den Arbeitsmarkt. Die Notenbank ist regelmäßig nicht dabei. Wozu werden Gewerkschaften bei solchen Pakten eigentlich noch gebraucht?
Ich denke, es gibt drei mögliche Antworten auf diese Frage:
1. Regierungen sind vorsichtig, legitimations- und konsensbedürftig und möchten sich gegen Widerstand absichern - dies ist ein Grund für den in Osteuropa formal wuchernden Tripartismus, meist ohne entwickelte Arbeitgeberverbände und mit schwachen Gewerkschaften. Für Osteuropa - mit Ausnahme Polens - gilt: Es ist besser, wenn die Regierung für ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik, vor allem, wenn sie Opfer verlangt, die Zustimmung der Gewerkschaften hat, aber notfalls geht es auch ohne sie.
2. Gewerkschaften haben echte Verhinderungsmacht - ohne ihre Kooperation, vor allem in der Lohn- und Arbeitszeitpolitik, sind die Ziele der Regierung und auch der Arbeitgeber nicht oder nur schwer durchzusetzen. Ich denke, das gilt jedenfalls für die skandinavischen Ländern, für die Niederlande, Österreich und Italien und auch - immer noch - für Deutschland.
3. Gewerkschaften werden als politische Gestaltungspartner angesehen, die eigene Konzeptionen und Projekte in einen politischen Aushandlungsprozeß einbringen. Ich denke, dies gilt jedenfalls für Dänemark und die Niederlande.
Natürlich wäre die dritte Situation für die Gewerkschaften in Deutschland nicht nur die günstigste - sie würde auch jenem umfassenden und eigenständigen politischen Verständnis ihrer Rolle, für das ich im ersten Teil plädiert habe, am ehesten entsprechen. Das würde bedeuten, daß die Gewerkschaften in die "Bündnis"-Verhandlungen und -debatten auf vielen Gebieten der Wirtschafts-, Sozial-, Finanz- und Bildungspolitik eigene Vorstellungen einbringen und nicht nur auf Initiativen der Regierung warten. - Wie wäre es z.B., wenn die Gewerkschaften einmal deutlich sagten, daß sie das Gerede von der zu hohen Steuerbelastung für eine Mär halten, daß sie an öffentlicher Finanzierung öffentlicher Aufgaben festhalten und daß es eine Sozialpflichtigkeit der höheren Einkommen gibt? (Hans-Jürgen Arlt, in: GMH 4/99). Oder wenn sie sich dafür einsetzten, in das "Bündnis für Arbeit" auch Arbeitsloseninitiativen einzubeziehen? - Die bisherige Organisationsform des Schröderschen "Bündnisses" läßt ja für viele Themen Raum. Insofern kann diese neue Politikform den Gewerkschaften einen politischen Bedeutungszuwachs bieten. Zugleich sollten seine Grenzen und Gefahren gesehen werden. Vergleichende Untersuchungen von Sozialpakten in Europa haben ergeben, daß überall am Anfang die Bereitschaft der Gewerkschaften stand, längerfristige niedrige Lohntarifverträge abzuschließen. In den Niederlanden erkannten die Gewerkschaften im Pakt von Wassenaer von 1982 unumwunden an, daß die Lohnquote gesenkt werden müsse. Die Versprechen auf Gegenleistungen hinsichtlich der Beschäftigung dagegen blieben vage, schon weil hier die Verpflichtungsfähigkeit der Arbeitgeberverbände gegenüber ihren Mitgliedsfirmen fehlt. Und im übrigen ist der Zusammenhang von Lohnverzicht und Beschäftigungsförderung ja, wie wir alle wissen, äußerst dubios. Was einzelwirtschaftlich und in bestimmten Branchen und Regionen zu bestimmten Zeiten zutreffen mag, stimmt deshalb volkswirtschaftlich noch lange nicht. Ein Lohnunterbietungswettbewerb schafft insgesamt nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze. Das haben die Gewerkschaften, gerade auch die IG Metall, immer wieder betont. Ein Sozialpakt für Beschäftigung verlangt von den Gewerkschaften aber, daß sie der gegenteiligen Theorie zustimmen. Nach Anke Hassel (GMH 10/98, S. 637) gehört es zu den Erfolgsbedingungen sozialer Pakte, daß "die Teilnehmer an den Paktverhandlungen eine gemeinsame Position zur Rolle der Lohnpolitik für das Beschäftigungswachstum entwickeln. Diese Übereinstimmung in der Kriseninter-pretation kommt in der Regel dadurch zustande, daß Gewerkschaften eine Verantwortung der Lohnpolitik für die Beschäftigungsentwicklung akzeptieren." Soweit ich sehe, ist die IG Metall mit guten Gründen nicht bereit, diese Kriseninterpretation zu unterschreiben; selbst die listige Idee Klaus Zwickels von 1995, das ganze als empirischen Test zu betreiben und auf Beschäftigungswachstum nachträglich mit Lohnzurückhaltung zu reagieren, ist derzeit, wenn ich es recht sehe, nicht mehr in der Diskussion. Es wäre ein Erfolg, wenn der "Bündnis"-Prozeß fortgesetzt werden könnte, ohne daß die Gewerkschaften sich vor den Gessler-Hüten der neoliberalen Ideologie verbeugen müssen.
Selbstverständlich besteht auch eine weitere Gefahr, die Anke Hassel (GMH 10/98, S. 634) leicht untertreibend so beschreibt: "Die Asymmetrie zwischen den Vorleistungen der Gewerkschaften und der unbestimmten Hoffnung auf ein dadurch indiziertes Beschäftigungswachstum führte zu mehr Konflikten und Unzufriedenheit auf der Gewerkschaftsseite als bei den anderen Teilnehmern sozialer Pakte." Sollte es im "Bündnis für Arbeit" tatsächlich zu Vereinbarungen kommen, auf die die Gewerkschaften ihre Funktionäre und Mitglieder zu verpflichten hätten, werden sie dieser Gefahr nicht vollständig entgehen können. Sie läßt sich aber mindern, wenn erkennbare Gegenleistungen, insbesondere auch von der Regierung bzw. der Parlamentsmehrheit, z.B. zur sozialpolitischen Stützung einer Politik weiterer Arbeitszeitverkürzung, erbracht werden.
Zusammengefaßt: Je eher die Gewerkschaften das "Bündnis für Arbeit" als Forum umfassender politischer Debatten und Verhandlungen betrachten und je politisch eigenständiger sie in diese Verhandlungen und Debatten hineingehen, um so größer ist die Chance, daß die Gewerkschaften und die auf abhängige Arbeit angewiesenen Menschen einen Nutzen aus dieser Veranstaltung ziehen.
Entnommen aus: IG MEDIEN FORUM 6-7/99