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Wohin ÖTV?

  1. Die Gewerkschaften sind in der Defensive. Aber dies ist nicht allein der "Übermacht des Kapitals" geschuldet, sondern hängt auch mit eigener Halbherzigkeit, Unentschlossenheit, Phantasielosigkeit und Konfliktscheu zusammen. Haben wir den Kampf um die Köpfe aufgegegeben?
  2. Es werden teure Werbekampagnen geführt, aber nicht der Kampf. Die letzte Tarifrunde hat zur Entmutigung der Kolleginnen und Kollegen geführt. Der Erfolg der Urabstimmung – in welch kurzer Zeit gelang es, die Belegschaften zu mobilisieren! – wurde durch das Verhandlungsergebnis wieder zunichte gemacht. Die Bereitschaft zum Streik wurde nicht genutzt.
  3. Zur Gegenwehr gehört nicht nur der Streik. Die Gewerkschaften müssen sich zu ihrem politischen Mandat bekennen. Gewerkschaftsarbeit darf sich nicht im täglichen Konflikt um Einkommen und Arbeitsbedingungen derer, die Arbeit haben, erschöpfen. Es gilt, die sozialen Kämpfe mit politischen Perspektiven zu verbinden, auf die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt Einfluss zu nehmen. Bei allem Streit um Verdi ging es am wenigsten um Inhalte. Aber wichtiger als die Auseinandersetzung um Bezirkszuschnitte und Budgetierungsrichtlinien ist die Frage, mit welchem Programm wir der herrschenden Standortlogik und damit der Konkurrenz, der Entsolidarisierung und der Zersplitterung in den eigenen Reihen entgegentreten können.
  4. Bei der Rentenreform haben die Gewerkschaften versagt. Sie haben die Chance verpasst, sich an die Spitze einer breiten Bewegung von Beschäftigten, Rentnern, Jugendlichen und Arbeitslosen zu stellen. Statt dessen haben sie den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung zugestimmt, was einseitig die Unternehmer entlastet. Kollege Bsirske hat damit gegen den ausdrücklichen Beschluss des Gewerkschaftstages verstoßen. Die Folge war zu erwarten: Unternehmer und Regierung blasen nun zum Angriff auf die Krankenversicherung.
  5. Im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit wurden die Weichen für diese Entwicklung gestellt. Die dort vertretenen Gewerkschaftsführer haben unsere Interessen nicht offensiv vertreten, sondern haben sich weich klopfen lassen und praktisch Lohnleitlinien zugestimmt. Das Bündnis fesselt die Gewerkschaften und hält sie davon ab, alle zu sammeln, die den Angriffen auf unsere Lebensbedingungen entgegentreten wollen. Welches Interesse sollten die Unternehmer an der Beseitigung der Arbeitslosigkeit haben, die ihnen doch hilft, uns permanent zu erpressen und unsere Arbeitsbedigungen zu verschlechtern? Die IG Medien hat den Austritt aus dem Bündnis beschlossen. Warum folgen wir ihnen nicht?
  6. Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes hat kleine Verbesserungen gebracht, aber wesentliche Forderungen aus den Betrieben und Gewerkschaften blieben unberücksichtigt. Vor allem fehlt eine Stärkung der Mitbestimmung und eine Definition des Betriebsbegriffs, die auf den Tätigkeitszusammenhang abstellt und damit eine Handhabe gegen die zahllosen Ausgründungen gäbe.
  7. Der Prozess der Privatisierung des öffentlichen Diensts ist überall im Gange und zu großen Teilen bereits verloren. Dabei wäre es die Aufgabe der Gewerkschaften und insbesondere der ÖTV, die Bevölkerung und nicht bloß die betroffenen Belegschaften gegen die herrschende Sparpolitik zu gewinnen. Wir müssen die gesellschaftliche Infrastruktur und die öffentlichen Leistungen verteidigen und sogar für ihre Erweiterung eintreten. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs, der Erziehung und anderer kultureller Einrichtungen würde qualifizierte Arbeitsplätze schaffen und wäre im Interesse der gesamten Gesellschaft. Die ÖTV kann und muss hier eine Vorreiterrolle spielen.
  8. Das ist natürlich nur möglich, wenn Inhaber großer Vermögen, Spitzenverdiener und Unternehmer zur Finanzierung dieser öffentlichen Aufgaben, z.B. durch die Vermögenssteuer, herangezogen werden. Die Steuerreform entlastet jedoch vor allem sie und nicht die Geringverdiener und mittleren Einkommen. Bei uns wird die Entlastung außerdem durch höhere kommunale Abgaben, höhere Rundfunkgebühren, die Ökosteuer und höhere Benzinpreise aufgefressen.
  9. Die Umverteilung der Arbeit (natürlich bei vollem Lohnausgleich) muss von uns wieder thematisiert werden. Die Steigerung der Produktivkraft kommt nur den Unternehmern zugute, die immer größere Gewinne einfahren. Arbeitszeitverkürzung in verschiedenen Formen ist nötig, um dem gestiegenen Leistungsdruck etwas entgegenzusetzen und um Arbeitsplätze zu sichern.
  10. Die Gewerkschaften müssen ihrer Aufgabe als Gegenmacht wieder nachkommen, ansonsten werden sie weiter Mitglieder verlieren, zum Rentnerverein verkommen und in der Bedeutungslosigkeit versinken. Das wird nur möglich sein, wenn sie sich als demokratische und lernende Organisation verstehen, also die Entscheidungsstrukturen möglichst auf unteren Ebenen ansiedeln und neue und offene Beteiligungsformen entwickeln. Vor allem aber bedarf es der Entwicklung von Gegenentwürfen zur Unterwerfung alles gesellschaftlichen Lebens unter das Profitprinzip. Wir müssen wieder den Mut haben, gegen die vorherrschende Meinung die Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum, Chancengleichheit, Emanzipation und das Recht auf soziale Sicherheit selbstbewußt einzufordern, d.h. eine solidarische und menschenwürdige Gesellschaft auf unsere Fahnen zu schreiben.

Wer, wenn nicht wir? Kollege Bsirske, pack mit an!

 

Münchner Gewerkschaftslinke

Wir treffen uns an jedem letzten Donnerstag im Monat im Gewerkschaftshaus. Das nächste Treffen findet am 29.3.01 um 19 Uhr statt.

Kontakt und presserechtlich verantwortlich im Sinne des Presserechts: Wolfgang Linke, Virchowstr. 10, 85521 Ottobrunn, Tel. 089/6094029 (privat), 089/41291011 (Betrieb)


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