Nullnummer

Die Eröffnung der Tarifrunde 2000 durch das Bündnis für Arbeit

von  Michael Wendl

 

Das Medienecho auf die gemeinsame Erklärung des »Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit« ist trotz der wirtschaftsliberalen Übereinstimmung darüber, dass es einen positiven Zusammenhang von niedrigen Löhnen und steigender Beschäftigung gäbe, insgesamt disparat. Während die FAZ sich in ihrer ordnungspolitischen Ablehnung korporatistischer Politik bestätigt sieht und den überfälligen Ausstieg bei den Arbeitgebern anmahnt, bewerten andere die Orientierung an einer »beschäftigungsfördernden Tarifpolitik«, die sich am Verteilungsspielraum des Produktivitätszuwachses orientiert, als Einstieg in die Vereinbarung von Lohnleitlinien. Während einige begrüßen, dass nunmehr die Rente mit 60 vom Tisch sei, vermuten andere, die IG Metall könnte dieses Instrument durch tarifpolitische Erpressung mit ansonsten hohen Nominallohnsteigerungen doch noch durchsetzen. Ich halte diese Hoffnungen ebenso wie die Befürchtungen für grundlos. Die Bündnisgespräche vom 9. Januar sind im Ergebnis eine Nullnummer. Kurzfristig reichen sie für eine medienwirksame Inszenierung symbolischer Politik. Es wird so getan, als würde sich vieles verändern, aber faktisch ist kaum etwas bewegt worden.

1. Die Rente mit 60 kommt mit Sicherheit nicht als allgemeine gesetzliche Regelung. Das hat aber weniger mit dem Ergebnis des Spitzengesprächs vom 9.1. zu tun, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass außer der IG Metall keine andere Gewerkschaft ernsthaft an einer Regelung interessiert ist. Zwar ist ein solches Angebot durchgängig bei den älteren Beschäftigten attraktiv, aber angesichts der aktuellen verteilungspolitischen Situation ist dieses Modell nicht verallgemeinerungsfähig.

Ob die IG Metall die Rente mit 60 als tarifpolitisches Projekt durchsetzen kann, ist sehr zweifelhaft. Nach der herrschenden Arbeitskampfrechtsprechung ist das Mittel des Streiks nur zulässig für in Tarifverträgen regelbare Ziele. Die Rente mit 60 – soll sie für Beschäftigte mit 35 Versicherungsjahren gelten – braucht eine gesetzliche Grundlage, um tarifvertraglich gestaltet werden zu können. Diese Grundlage soll jetzt aber erst nach einer tariflichen Einigung geschaffen werden. Damit ist die IG Metall vom Entgegenkommen der Arbeitgeber in dieser Frage abhängig. Dieses kann vielleicht durch eine groß dimensionierte allgemeine Lohnzurückhaltung erkauft werden. Diese Lohnzurückhaltung wiederum ist für die IG Metall mit erheblichen Risiken verbunden, weil Lohnzurückhaltung zuzüglich der zusätzlichen Beiträge zum Tariffonds für die Rente mit 60 für die große Mehrheit der Beschäftigten auf Reallohnverluste ohne eine seriöse beschäftigungspolitische Perspektive hinauslaufen würde. Tarifvertraglich gesicherte Wiederbesetzungszusagen wird es mit Sicherheit nicht geben. (1)

2. Die Orientierung am Produktivitätszuwachs bedeutet keine Lohnleitlinie. Das liegt daran, dass nicht näher definiert wurde, was unter dieser Größe zu verstehen ist. Sowohl in der Zunft der neoliberalen Ökonomen, aber v.a. zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wird dieser Begriff unterschiedlich interpretiert. Traditionell wurde der tarifpolitische Verteilungsspielraum im Rahmen der produktivitätsorientierten Tarifpolitik als Summe von realem Produktivitätsanstieg und anzustrebender Inflationsrate verstanden.(2)  Dieser kostenniveau- und verteilungsneutrale Spielraum wird nach seinem Begründer auch »Meinhold-Formel«(3)  genannt. Hinter dieser Größe steht eigentlich eine keynesianisch inspirierte Sichtweise: Bei einer gleichgewichtigen ökonomischen Entwicklung sollen sich Kapital- und Arbeitseinkommen den realen Produktivitätszuwachs entsprechend ihren Anteilen an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung teilen. Darüber sollten auch die Proportionen von Wertschöpfung und Nachfrage sich gleichgewichtig entwickeln. Da aber bei beiden Einkommensarten – Profit und Lohn – keine realen, sondern nur nominale Einkommenszuwächse verteilt werden können, muss die Preissteigerungsrate hinzugerechnet werden. Wird die Preissteigerungsrate herausgerechnet, vergrößert sich der Anteil des Kapitaleinkommensanstiegs um diese Größe.

Die »Meinhold-Formel« war ursprünglich als Instrument zur Durchsetzung von Lohndisziplin gedacht: Es sollte keine Lohn-Preis-Spirale initiiert werden. In den letzten Jahren wurde diese Sicht durch die neoklassische
Orthodoxie brutal und unter völliger Missachtung ihrer kreislauftheoretischen Begründung verstümmelt. Vom realen Produktivitätsanstieg sollten je nach Lage der Arbeitslosigkeit bei der Lohnfindung entsprechende Abschläge gemacht werden, um den Unternehmern die finanziellen Möglichkeiten für zusätzliche (beschäftigungswirksame) Investitionen zu geben. Diese Abschläge sind lediglich eine pseudo-wissenschaftliche Begründung für eine zusätzliche Umverteilungskomponente für die Unternehmen über ihren Anteil am Produktivitätsanstieg hinaus. Der deutliche und langfristige Fall der Lohnquote demonstriert, dass die Umverteilung spätestens nach 1982 wirkungsvoll funktioniert hat. Dieses Konzept erfolgreicher Volksverdummung traf auch in den Gewerkschaften auf wenig Widerstand, weil in der Wahrnehmung der den abhängig Beschäftigten nach dieser Konzeption zustehende Anteil am Produktivitätszuwachs als der gesamte Produktivitätszuwachs missverstanden wurde. Das Kapital musste seinem Anteil am Produktivitätswachstum nur in wenigen Jahren zur Disposition stellen (siehe Tabelle).

 

Löhne, Produktivität und Verteilungsspielraum 1990-2000 in %

Jahr
BIP-
Wachstum
Preise
Prod. je
Erwerbstäti-
genstunde
Tarifer-
höhung pro
Arbeitsstd.
Verteilungs-
spielraum
Abwei-
chung
1990
5,7
2,7
5,3
7,4
8,0
- 0,6
1991
5,0
3,6
3,7
7,1
7,3
- 0,2
1992
1,8
4,1
0,1
5,2
4,2
+ 1,0
1993
- 2,0
3,7
0,8
4,3
4,5
- 0,2
1994
2,1
2,8
3,4
3,2
6,2
- 3,0
1995
1,7
1,7
3,5
4,9
5,2
- 0,3
1996
0,8
1,4
2,6
2,5
4,0
- 1,5
1997
1,5
1,7
3,3
1,5
5,0
- 3,5
1998
2,2
0,9
1,5
2,0
2,4
- 0,4
1999
1,3
0,7
1,0
2,8
1,7
+ 1,1
2000*
1,4
1,1
3,3
4,4

Quellen: DIW-Wochenbericht 27/98, DIW-Wochenbericht 1-2/2000, Eigene Berechnungen;
* 2000: Prognose des DIW

 

Heute kommt hinzu, dass die früher noch unstrittige Zielinflationsrate als Teil des an der Produktivitätszunahme orientierten Verteilungsspielraums absichtsvoll »vergessen« wird, es soll für das Wachstum der Nominallöhne nur der reale Produktivitätsanstieg, gekürzt um die Abschläge wegen Arbeitslosigkeit, zur Verfügung stehen. Neoliberale Ökonomen sind dann für das Jahr 2000 bei einem Bruttolohnanstieg von 1 bis 1,5%, der dann als beschäftigungsfördernd definiert wird.(4)

Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Gewerkschaften darauf einlassen werden. Durch die tatsächliche Beschäftigungsentwicklung zwischen 1993 und 1999 ist diese Politik der Lohnzurückhaltung auch empirisch eindeutig widerlegt. Das deutliche Zurückbleiben der tarifpolitischen Ergebnisse hinter dem Verteilungsspielraum hat die Arbeitslosigkeit nicht vermindert, sondern im Gegenteil zu ihrem weiteren Anstieg beigetragen. Aber ausschlaggebend sind weniger das faktische Scheitern der Lohnzurückhaltung, als die Ansprüche der Gewerkschaftsmitglieder nach Einkommenssicherung, die dazu führen, dass sich die Gewerkschaften an die beabsichtigte Lohnleitlinie unter dem realen Produktivitätsanstieg nicht halten werden. Solange dem Prozess der Lohnfindung in den Gewerkschaften noch demokratische Verfahren der Tarifdiskussion vorhergehen, können sich die Gewerkschaftsführungen eine offene Missachtung und Brüskierung des Mitgliederwillens nicht leisten.

3. Es bleibt die Frage, warum sich zumindest die förmlich beteiligten Gewerkschaften auf solche Formelkompromisse der Orientierung an einer angeblich »beschäftigungsfördernden« Tarifpolitik einlassen. Warum wird diese neoklassische Doktrin, dass mit niedrigen Löhnen der Beschäftigungsgrad steigen würde, nicht offen als interessengeleitete Ideologie kritisiert?

Antworten auf diese Fragen fallen kompliziert aus. Ohne Zweifel hat die neoklassische Lohn- und Beschäftigungsideologie mit dem weitgehenden Vergessen keynesianischer oder gar marxistischer Theorien zur Erklärung des modernen Kapitalismus auch in den Gewerkschaften deutlich an Einfluss gewonnen, insbesondere, weil in der strikt einzelwirtschaftlichen Sicht die erfolgreiche Lohnsenkung einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Konkurrenten markiert und durch den rapiden Verfall der Ordnungsfunktion der Flächentarifverträge diese Prozesse des Lohndumpings deutlich zugenommen haben. Aber der Verlust an Denken in der makroökonomischen Perspektive zeigt nur eine Seite der tiefen Krise des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses. Die zweite Seite besteht darin, dass die Gewerkschaften – anders als bei der konservativ-liberalen Bundesregierung – in die öffentlichkeitswirksamen politischen Verfahren einbezogen werden. Sie spielen zwar bei den grundlegenden Kursbestimmungen so gut wie keine Rolle, aber bei der öffentlichkeitswirksamen Inszenierung der Politik als politisches Theater werden sie sogar mehr als sachlich nötig beteiligt. Jede Bündnisrunde und jede wirtschaftspolitische Krisenintervention, ob in der Bauindustrie oder in der Energiewirtschaft, wird als Medienspektakel von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften inszeniert. Ob sich die Parteien dieses Theaters nach der Show an die Vereinbarungen halten, spielt eine eher untergeordnete Rolle. Der öffentlichkeitswirksame Effekt zählt mehr als die Resultate. Das entschärft wiederum den grundsätzlich disziplinierend angelegten Charakter dieses Korporatismus von oben.

Zynisch formuliert: Das Bündnis nützt nichts, aber schadet auch nicht unmittelbar. Längerfristig macht sich diese Einbindung der Gewerkschaften als Entpolitisierung ihrer Willensbildung und als Lähmung ihrer politischen Handlungsfähigkeit negativ bemerkbar. Ihre politische Identität geht verloren und sie wirkt als blasser Juniorpartner einer beschäftigungspolitisch erfolglosen Regierung.

In den Gewerkschaften selbst ist durchaus bekannt, dass im Bündnis wegen der fehlenden Einbindung der Geldpolitik der Zentralbank und wegen der Konterkarierung der makroökonomischen Fundierung durch die restriktive Finanzpolitik der Bundesregierung eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik nicht initiiert werden kann.(5)  Woher die Gewerkschaften die politische Kompetenz und den Mut nehmen, in einer solchen korporatistischen Konstellation gegen die Arbeitgeberverbände und gegen die Bundesregierung gewerkschaftliche Vorschläge zur Verringerung der Arbeitslosigkeit zu thematisieren, ist völlig unklar. Anlass zu Optimismus besteht daher nicht.

In der Konsequenz beinhaltet dieses Politikverständnis die politische Entmündigung sowohl der Mitglieder der Regierungsparteien wie der Gewerkschaften. Dieser medienwirksam inszenierte Korporatismus erzeugt zwangsläufig die Erfahrung politischer Ohnmacht und befördert die politische Apathie.

 

Michael Wendl ist Vorsitzender des ÖTV-Bezirks Bayern.

 

Anmerkungen

1) Mit einem Argument gegen die Rente mit 60 haben die Arbeitgeber nicht unrecht. In einer kapitalistischen Marktwirtschaft gibt es keine ›Arbeitsumverteilung‹. Arbeitszeitverkürzung zielt auf die Verknappung des Angebots von Arbeitskräften auf dem Markt. Über Einstellungen entscheiden in letzter Instanz nicht die Unternehmen, sondern die Märkte. Die Vorstellung, tarifvertraglich Neueinstellungen festschreiben zu können, ist irritierend. Danach entscheiden die Unternehmen über die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und haben bis heute Massenarbeitslosigkeit produziert. Warum sollten sie ausgerechnet jetzt das Gegenteil tun? Wegen Schröder?

2) Siehe Michael Wendl, Ende der Bescheidenheit – Wie realistisch ist eine produktivitätsorientierte Tarifpolitik? in: Sozialismus 1/98.

3) So genannt nach dem Ökonomen Helmut Meinhold, der in der Tarifrunde 1965 als Schlichter bei den Verhandlungen in der Eisen- und Stahlindustrie fungierte und diese Formel als Schlichterspruch vorlegte. Sie bildete dann den Ausgangspunkt für die vom Sachverständigenrat in seinem ersten Gutachten vorgelegte Konzeption einer »kostenniveau-neutralen Lohnpolitik«.

4) Siehe Wolfgang Franz, Die IG Metall erklärt dem Bündnis für Arbeit den Krieg, in: Handelsblatt vom 13.1.2000.

5) Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten, Tarifpolitik und Bündnis für Arbeit, in: WSI-Mitteilungen 12/1999.

 


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