Die IG Metall-Spitze hat das Modell einer "Rente mit 60" als Thema
für die nächste Tarifrunde aufgebracht. Mit einem über 5 Jahre
laufenden Tarifvertrag und einem Abschlag von 0,5 Prozentpunkten des noch zu
vereinbarenden Lohnzuwachses sollen die Beschäftigten ihren paritätischen
Beitrag zum Aufbau eines Tariffonds leisten, aus dem dann ein Ausgleich für
die Abschläge bei einer Frühverrentung finanziert werden soll. Dazu
nehmen Kolleginnen und Kollegen der Autokoordination Stellung:
Am 6.11.1999 tagte die Autokoordination in Villigst und diskutierte die von
Zwickel auf dem letzten Gewerkschaftstag der IG Metall und im Bündnis für
Arbeit (BfA) vorgebrachte Forderung, das Renteneintrittsalter, befristet auf
eine Modelllaufzeit von 5 Jahren, gesetzlich auf 60 Jahre abzusenken und die
durch fehlende Einzahlungsjahre entstehenden Rentenabschläge mit einem
Tariffonds zu finanzieren.
Diese Forderung soll zentraler Bestandteil der nächsten Tarifrunde sein
und tritt damit in Konkurrenz zu einer weiteren, allgemeinen Wochenarbeitszeitverkürzung.
Begründet wird dies mit dem im Jahr 2001 auslaufenden Altersteilzeitvertrag,
der hohe Rentenabschläge beinhaltet, und einer weiteren Heraufsetzung des
Rentenzugangsalters, die noch unter der alten Regierung beschlossen worden war.
Die Autokoordination sieht in der "Rente mit 60" zwar prinzipiell einen Ansatzpunkt
- neben anderen dringend notwendigen Schritten-, Arbeitszeit zu verkürzen,
ist aber der Meinung, dass in der geplanten Umsetzung ein völlig falscher
Weg beschritten wird:
- Finanziert werden soll das Modell in der Hauptsache von denjenigen, für
die bei dieser Aktion absolut nichts herauskommt: den 30 bis 50-Jährigen.
Deren Alterssicherung bleibt während und nach Ablauf des Modellversuchs
immer noch vollkommen ungeklärt. Das Modell bietet damit gerade keinen
Ansatzpunkt und kein Beispiel für die in der Tat notwendige Rentenreform.
- Wohl aus diesem Grund hat die IG Metall daher die Betonung auf die Beschäftigungseffekte
dieses Modells gelegt. Sie versteht die "Rente mit 60" weder als Beitrag zur
allgemeinen Arbeitszeitverkürzung noch zur Rentenreform,
sondern als arbeitsmarktpolitisches Modell und fordert hier von den
Beschäftigten generationsübergreifende Solidarität ein. "Eine
Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und Alt", lautet das Motto. Gerade
die Beschäftigungswirksamkeit des Modells ist jedoch hoch umstritten
(siehe FR vom 21.10.1999, Handelsblatt vom 04.11.1999): Eine Automatik der
Neueinstellungen über ein vorgezogenes Renteneintrittsalter gibt es aber
mit Sicherheit nicht, dies belegen die in vielen Unternehmen der Automobilbranche
weiterhin laufenden Rationalisierungen und der damit verbundene Personalabbau.
Auch die IG Metall selbst hat offenbar Zweifel an der intendierten Beschäftigungswirksamkeit.
Sie hat daher eine finanzielle Entlastung für Unternehmen vorgeschlagen,
die die durch den vorgezogenen Ruhestand freiwerdenden Stellen wieder besetzen:
Mit dem Tariffonds soll Unternehmen ein Anteil von bis zu 100.000 DM zurückerstattet
werden, wenn sie dafür einen Beschäftigten neu einstellen oder einen
abzubauenden Arbeitsplatz aufrechterhalten. Dies hiesse jedoch erstens implizit
auch, dass die Beschäftigten mit dem zur hälftigen Finanzierung
des Tariffonds geplanten Tarifabschlag von 0,5 Prozent zumindest zur Hälfte
auch die bloße Aufrechterhaltung (nicht Neuschaffung!) von Arbeitsplätzen
selbst finanzieren. Zweitens ist ein Ersatz-Einstellungseffekt nur gegeben,
wenn es eine zwingende Regelung für die Arbeitgeber gibt. Hier hat die
IG Metall selbst vor kurzem noch versucht, den Arbeitgebern den vorgezogenen
Ruhestand schmackhaft zu machen, indem sie darauf hinwies, dass der Rentenausgleich
für Unternehmen, die ohnehin vorhätten, Arbeitsplätze abzubauen,
im Vergleich zum Sozialplan keine Mehrkosten bedeuten würde. In extremen
Fällen empfiehlt sie ihnen darüberhinaus sogar, um in den Genuss
der Rückerstattung aus dem Tariffonds im Falle eines beantragten Vorruhestandes
zu kommen, für jede Weiterbeschäftigung eines älteren Kollegen
einfach einen jüngeren Kollegen zu kündigen (vgl. Handelsblatt,
4. 11.1999)! Das ist Zynismus pur und macht die "solidarische" Beschäftigungsbrücke
twischen Jung und Alt zur Farce.
- Die geplante "Verjüngung der Belegschaften", die auf Grund des Personalabbaus
der letzten Jahre ohnehin weit fortgeschritten ist und den Unternehmern in
bezug auf die gestiegene und immer noch steigende Leistungsintensivierung
entgegenkommt, hat außerdem noch einen Haken: Gerade bei der Einstellung
jüngerer KollegInnen ist unklar, zu welchen Konditionen dies erfolgen
soll. Wer kontrolliert, wie lange die jüngeren KollegInnen ihren Arbeitsplatz
behalten? Wer garantiert, dass es keine "Einstiegslöhne" geben wird,
mit denen ja immer wieder als Instrument gegen Arbeitslosigkeit und für
Beschäftigungseffekte experimentiert wird? Außerdem sparen die
Unternehmen bei den Lohnkosten, weil der soziale Status (Kündigungsschutz,
betriebliche Leistungen, Lohnhöhe, Aufstiegsregelungen etc.) bei jüngeren
KollegInnen und kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen wesentlich
schlechter ist. Solange hier keine bindenden Regelungen existieren, ist dem
Missbrauch des Tariffonds und der "Verjüngungskur" Tür und Tor geöffnet.
- Die Beschäftigungseffekte über eine Entschädigung bei Neu-
oder Weiterbeschäftigung sind darüber hinaus nach Einschätzung
der Autokoordination gerade für die rationalisierungsintensiven Grossbetriebe
in der Automobilindustrie nicht realistisch, weil der Personalabbau hier ungleich
stärkere Rationalisierungsgewinne bringt und Sozialpläne - in der
Regel - günstiger sind als die 100.000 DM-Regel. Wenn es aber nicht zu
der erwarteten massiven Beschäftigungswirksamkeit kommt, wird - wie bei
der 35-Stunden-Woche - ein wichtiges Thema "verheizt" für fragwürdige
Effekte. Die Frustrationen unter den Beschäftigten angesichts der verschleppten
und damit beschäftigungspolitisch ineffektiven Einführung der 35-Stunden-Woche,
der gestiegenen Arbeitsintensivierung und -flexibilisierung, die ja augenblicklich
gerade wieder dazu dienen, das Thema einer weiteren Wochenarbeitszeitverkürzung
hintenan zu stellen, müssten hier eigentlich Warnung genug sein.
- Dies steht im Zusammenhang mit einer weiteren Kritik: Wieder einmal ist
über das Thema der Tarifrunde ohne Forderungsdiskussionen an der Basis
entschieden worden. Vollkommen unklar ist unter dieser Bedingungen, wie angesichts
der genannten Kritikpunkte an der Rente mit 60 und dem Tariffonds-Modell dennoch
eine erfolgreiche Tarifrunde geführt werden soll. Den KollegInnen wird
"eine Kappe aufgesetzt und eine Trillerpfeife in den Mund gesteckt" für
eine Forderung, an deren Zustandekommen sie nicht beteiligt waren und bei
der wesentliche Voraussetzungen für ihren Erfolg vollkommen ungeklärt
sind. Selbst wenn es unter den Jüngeren einige Bereitschaft geben sollte,
sich für dieses Modell zu interessieren, ist ein solcher Umgang mit denen,
die ja letztlich für die Durchsetzungsfähigkeit entscheidend sind,
demotivierend und unwürdig.
- Ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Mitgliedermotivation ist die "Amerikanisierung"
der Tarifrunde, d.h. die Tendenz zu langen Laufzeiten wie in den jüngsten
Langfrist-Abschlüssen in den USA, zu kritisieren. Nicht nur sind damit
die Perspektiven auf Lohnerhöhungen für die nächsten fünf
Jahre explizit in Frage gestellt worden (Pressemitteilung der IG Metall vom
17.11.1999) - von der schleichenden Degression durch die Anrechnung der 0,5-Prozent,
fehlenden Ausgleichsmöglichkeiten für eventuell steigende Lebenshaltungskosten,
Inflation etc. zu schweigen. Auch die Bindung der Mitglieder an die Gewerkschaft
wird mit derartig langen Laufzeiten auf die Probe gestellt: Fünf Jahre
ohne Tarifrunde werden zu einem erheblichen Mitgliederverlust führen,
der dann durch teure "Werbekampagnen" mit fraglichen Erfolgsaussichten wieder
wett gemacht werden muss.
- Die Rente mit 60 über einen Tariffond zu finanzieren verstösst
ausserdem gegen das Prinzip und die Notwendigkeit eines solidarischen Umbaus
der kriselnden sozialen Sicherungssysteme. Der Tariffonds wird von der Autokoordination
als ein Modellversuch für den Einstieg in die allgemeine Privatisierung
der Altersvorsorge in einem doppelten Sinne angesehen: Zum einen wird keine
gesellschaftspolitische Lösung vorbereitet, die beispielsweise Menschen,
die aus dem Arbeitsprozess schon "herausgefallen" sind, berücksichtigt,
sondern ausschliesslich Politik für ein kleines Segment noch Beschäftigter
gemacht. Zum anderen ist unklar, wie sich die Verwaltung der Tariffonds unter
dem Druck der Finanzmärkte und Kapitalanlagemöglichkeiten entwickelt.
Sollen Tariffonds den gleichen Risiken wie andere Spekulations- und Anlageobjekte
unterliegen?
Wenn es um die Aufrechterhaltung des Rentensystems geht, ist schließlich
daran zu erinnern, dass - z.B. laut Schröder - die Finanzierung auch mit
einer Anhebung der Rentenversicherung um 0,6 % gewährleistet wäre.
Nach unserer Einschätzung sind KollegInnen in den Betrieben dazu eher bereit,
als zu "unsolidarischen" und windigen Experimenten wie der "Beschäftigungsbrücke".
Es ist außerdem nicht nachvollziehbar, warum die Unternehmer selbst in
der momentanen Gewinnsituation weiter begünstigt werden. Die IG Metall
selbst weist in ihren Publikationen auf unglaublichen Reichtum hin, der von
den Gewinnern dieser Gesellschaft angehäuft wird.
Wir plädieren daher dafür, die Prinzipien der bestehenden Sozialversicherungssysteme
zu verteidigen, auch wenn die Massenarbeitslosigkeit deren Grundlagen unterhöhlt.
Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit muss aber mit anderen Mitteln geführt
werden. In erster Linie gehört dazu u.E. die Abschaffung der Leih- und
befristeten Arbeitsverhältnisse, die Bekämpfung aller Tendenzen zur
Schaffung und Verfestigung eines Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsverhältnisse.
Die wirtschaftliche Gleichstellung unserer Kolleginnen und Kollegen in den "Neuen
Ländern" gehört ebenfalls dazu. Wir vermissen von all denen,
die in den "Neuen Ländern" billig Arbeitsplätze geschaffen
haben (VW, DC, Opel) eine Ausgleichszahlung in die Kassen der Sozialversicherungen.
Mit der letzten Lohnrunde, die unter dem Slogan "Schluss mit der Bescheidenheit"
lief, sollte für die Kollegen eine Scheibe von diesen Reichtum abgeschnitten
werden. Dieser Ansatz muss u.E. in den nächsten Tarifrunden endlich konsequent
und ernsthaft verfolgt und um folgende Punkte erweitert werden, die wir auch
in den Betrieben diskutieren müssen:
- Ein Bestandteil der nächsten Metalltarifrunde müsste eine Festgeldforderung
mit einem Volumen von 7-8 Prozent sein. Das sind rund 3 Prozent, die wir in
der letzten Lohnrunde von unserer damaligen Forderung nicht erreicht haben,
und 4-5 Prozent, die sich aus der hervorragenden Entwicklung des letzten Jahres
ergeben.
- Ausserdem ist eine Entdichtung der hohen Arbeitsintensität unverzichtbar.
Gerade hier sind in den letzten Jahren starke Rückschritte durch z.B.
Standortvereinbarungen hingenommen worden (Abbau von Erholungspausen, Flexibilisierung
der Arbeitszeit, Befristungen etc.). Jetzt, da sich fast überall der
wirtschaftliche Erfolg eingestellt hat, wird es Zeit, hier wieder Boden gut
zu machen.
- Ein weiteres Ziel gewerkschaftlicher Arbeit muss es sein, die enorme Flexibilisierung
zu Lasten der Beschäftigten in den Betrieben einzudämmen. Die Flexibilisierung,
die bei der Arbeitszeit schon recht weit ausgereizt ist, soll nun auch auf
den Lohnbereich übertragen werden. Hier muss gewerkschaftlich gegen individualisierende,
verhaltens- und einstellungsabhängige Bonus- und Leistungsbeurteilungssysteme
und von den Beschäftigten gar nicht zu beeinflussende Bezahlung nach
der Gewinnsituation des Unternehmens vorgegangen werden. Unser Lohn darf nicht
zu einer variablen Masse werden! Unsere Miete muss ja auch konstant bezahlt
werden. Ausserdem beinhalten solche Lohnsysteme Ansatzpunkte, die die Struktur
des kollektiven Schutzes vor Konkurrenz als Grundprinzip unserer bisherigen
Tariflöhne aushebeln können: In unserem bisherigen Lohnaufbau sind
große Teile des Lohnes in Tarifstrukturen eingebunden. Auf diese bauen
Tariferhöhungen auf, wodurch sich eine gewisse Gleichmäßigkeit
zwischen den Kollegen und Verlässlichkeit auch im Zeitablauf betrachtet
ergibt. Erfolgsbeteiligungen und individualisierende Beurteilungs- und Prämiensysteme
bieten diesen Schutz nicht!
Autokoordination, im November 1999