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Updated: 18.12.2012 15:51
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Martin Dieckmann

Was von der Stunde übrig bleibt ...
Sozialpolitische Anmerkungen zur Tarifpolitik

Man muss kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um durch das tarifpolitische Zickzack der DGB-Gewerkschaften eine Linie ziehen zu können, die ihren Ausgang in der Regierungserklärung von Kanzler Schröder im März 2003 nahm und auf einen Zustand zielt, in dem sich die Gewerkschaften vom Tarifvertrag als einem gesellschaftlichen Instrumentarium von Marktregulierung endgültig verabschiedet haben. Der Zickzack selber belegt, dass es hierbei noch etliche Unwägbarkeiten und damit auch Spielräume für Widerstand, zumindest Modifikationen durch Störmanöver, gibt. Doch haben maßgeblich die Abschlüsse der IG Metall – zunächst nur indirekt im Flächentarifabkommen, dann unmittelbar mit dem Siemens-Abschluss – einen Paradigmenwechsel eingeleitet, der weitere Auswirkungen als nur auf die tarifgebundenen Beschäftigten haben wird. Diese Auswirkungen schlagen mittelbar und unmittelbar durch auf die allgemeinen Entgeltbedingungen auf den Arbeitsmärkten und damit auch auf das sozialpolitische Terrain von Hartz IV und entsprechenden „Zumutbarkeiten“. Dies ist um so bemerkenswerter, wie durch Hart IV die immer schon kontroverse Debatte um einen bundesweiten, gesetzlichen Mindestlohn entfacht wurde. Und es sagt kaum einer, dass die DGB-Gewerkschaften durch ihre Tarifpolitik bereits massiv beteiligt sind an der Absenkung der ja real existierenden Mindestlohnregelung. Doch dazu später mehr.

Die Linie durch das Zickzack

Zunächst sollte man sich die Chronologie einer lang angekündigten Katastrophe vergegenwärtigen. Im März 2003 hatte Kanzler Schröder in seiner Agenda-Regierungserklärung die Gewerkschaften ultimativ zu allgemeinen Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen aufgefordert. Andernfalls, so die Drohung, würde man sich gesetzgeberisch über die Tarifautonomie hinwegsetzen und eine entsprechende Öffnung im Tarifvertragsgesetz festschreiben. Erst später kam heraus, dass es daraufhin Gespräche zwischen DGB und BDA gegeben hat. Ob diese wirklich so ergebnislos waren, wie es danach der DGB-Vorsitzende darstellte, mag dahin gestellt bleiben. Immerhin glaubte die CDU der Meldung einer bevorstehenden Einigung und zog ihre Forderung nach einem Eingriff ins Tarifvertragsgesetz zurück. An einen Konsens in der gesamten DGB-Führung war aber gar nicht zu denken. Was im Kontext aller Gewerkschaftsspitzen nicht gelang, wurden dann zum Job von Gesamtmetall und IG Metall. In der offiziellen Metall-Tarifrunden einigten sich beide – im Übrigen ohne Mobilisierungsnot der IG Metall – auf eine weitere Öffnung des Flächentarifvertrages, die eine Ausweitung der Arbeitszeit für Beschäftigte der oberen Entgeltgruppen auf bis zu 40 Stunden vorsah. Schon zu diesem Zeitpunkt konnte man davon ausgehen, dass der Rückzug aus der 35-Stundenwoche in entscheidenden Kreisen der IG Metall zum common sense geworden war.

Immerhin blieb bei dieser Tariföffnung noch der Stundenlohn enthalten – denn die Ausweitung der Arbeitszeit für bestimmte Beschäftigtengruppe war auch mit einer proportionalen Entgelterhöhung verbunden. Dann aber kam das Siemens-Abkommen und stellte sogar noch den Flächentarifvertrag auf den Kopf: Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich, und dies in einem Konzern, der unter den führenden deutschen Unternehmen in fast jeder Sparte zu den Medaillenträgern gehört. So belegt Siemens in Deutschland Spitzenplätze bei den Umsatzerlösen, beim Beschäftigungsanteil und vor allem in der Börsenbewertung, was ja immerhin „zählt“. Es mag, gerade in Sachen „Standortbündnisse zur Beschäftigungssicherung“, viele tarifpolitische Flecken in Deutschland geben. Dieses Abkommen bei Siemens war jedoch ein Dammbruch – wenn man so will, das Verschwinden eines ganzen Kontinents von der tarifpolitischen Landschaft. Man muss hinzufügen, dass zumindest die tarifpolitische Lehrmeinung von IG Metall und anderen, etwa ver.di, bislang davon ausging, dass Abweichungen vom Tarifvertrag nur befristet und zur Herstellung von Wettbewerbs- und Tariffähigkeit, nicht zur Absicherung von existierenden Wettbewerbsvorteilen, dienen sollten. Erst der zeitweilige Aufstand bei Daimler-Benz, wo Ähnliches drohte beziehungsweise angedroht wurde, hat die verhängnisvolle Linie wieder zum Zickzack werden lassen. Freilich in Bestätigung des Dilemmas, dass schon mutige Aktionen erforderlich sind, um zumindest den schlechten Tarifvertrag gegen die Geschäftsleitung durchzusetzen.

Tarifpolitisches Dumping zumutbarer Einkommen

In der Logik einer beschränkten Klientelpolitik tauscht man, wie auch immer, sichere Beschäftigungsgarantien gegen unbezahlte Arbeitszeitverlängerung, wohl wissend, dass für die normalen Vollzeitbeschäftigten zwar das Monats-Brutto gleich bleibt, der Stundenlohn aber proportional weit über 10 Prozent sinkt. Unbezahlte Arbeitszeitverlängerung bekommen unmittelbar die Teilzeitkräfte durch Lohnabzug – eben um mehr als 10 Prozent – zu spüren. Und damit sinkt, in den Vergleichswerten, jedes Einkommen, das direkt oder indirekt auf den Tarifstundenlohn bezogen ist. So gibt es in Deutschland zwar keinen gesetzgeberisch fixierten Mindestlohn, wohl aber eine relationale Definition eines zumutbaren Entgelts. Dieses ist durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes bei bis zu 30 Prozent unter dem sonst üblichen Entgelt festgelegt worden. Bezugspunkt ist der Stundenlohn, im Übrigen nicht der tarifliche, sondern der jeweils am Ort übliche. Doch liegt es auf der Hand, dass sinkende Tarifstundenlöhne auch die sonstigen Stundenlöhne drücken und damit die „Sittenwidrigkeits“-Grenze entsprechend absenken.

Das wirft nun Schatten auf alles, was in der Folge von Hartz IV in Sachen „Mindestlohn“ innerhalb der Gewerkschaften vorgebracht und eingewendet wird. Die Befürworter, zumeist Gewerkschaften mit großen Niedriglohn- wie tariflosen Bereichen (ver.di und NGG), nehmen EU-Maßstäbe zur Grundlage. Man geht hier, summarisch, von 60 Prozent des gesellschaftlichen Durchschnittslohns aus. Die Kritiker, maßgeblich aus der IG Metall und IG Chemie und vordergründig in Verteidigung der „Tarifautonomie“, wollen dagegen vergessen machen, dass die dauernde Absenkung zumutbarer, weil „sittengemäßer“ Entgelte schon längst dazu geführt hat, dass der real existierende Mindestlohn (der sich nicht am gesellschaftlich durchschnittlichen Einkommen, sondern am ortsüblichen Einkommen für diese eine Tätigkeit festmacht, einen möglichen staatlich festgelegten Mindestlohn in vielen Berufen bereits unterschritten hat. Vor die Wahl gestellt, nicht unter 60 oder 50 Prozent Durchschnittslohn zu geraten oder aber mit andauernd sinkenden Vergleichswerten der entsprechenden Tarifgruppen konfrontiert zu werden, werden sich Langzeit-Erwerbslose wie andere Betroffene liebend gern von der „Tarifautonomie“ verabschieden.

Allein für niemand – oder gemeinsam für alle?

Wenigen sind derart durchschlagende Wirkungen der Tarifpolitik bewusst. Es geht ja mittlerweile zumeist auch nur noch darum, die eigene Beschäftigungssituation im Pakt mit Wettbewerbsvorteilen des Unternehmens in Einklang zu bringen, was nun im Kern dem Sinn von Tarifpolitik krass widerspricht. Und dort, wo das Bewusstsein diese Problematik vorhanden sein sollte, in den gewerkschaftlichen „Entscheiderkreisen“, ist längst eine Entscheidung fällig – zwischen vordergründiger Klientelpolitik einerseits und gesellschaftlicher Einkommenspolitik andererseits. Denn was in Deutschland, freilich versteckt, noch als Grundrecht auf eine menschenwürdige Existenz gilt, wird auch maßgeblich durch die Tarifpolitik mitbestimmt. Wenn die Unternehmen zwar flächendeckend auf Tarifabkommen als Markt-Regulativ verzichtet haben, legen sie immer noch Wert auf Tarifverträge in zweierlei Hinsicht: Als Maßregelung zum „sozialen Frieden“, vor allem aber als Instrumentarium zur Nivellierung sozialer Ansprüche.

Gerade aber der Zusammenhang von Einkommen, „zumutbarer“ Beschäftigung und sinkenden Stundenlöhnen sowie dem weitgehenden sozialstaatlichen Zugriff auf private Rücklagen, dürfte sich hinterrücks gegen eine (betriebs-) gewerkschaftliche Klientelpolitik auswirken. Denn Maßnahmenpakete wie Hartz IV betreffen nicht nur die Ärmsten der Armen, sondern ganz besonders diejenigen, die scheinbar noch Reserven haben, durch den enteignenden Sozialstaat jedoch recht schnell, manchmal bruchlos, vom Heer der Ärmsten der Armen aufgenommen werden. Jede Politik, die auf Absicherung von Kernbelegschaften setzt, scheitert an der systematischen „Kernschmelze“, die seit langem die früheren „Kernbelegschaften“ angreift. Und es werden vor allem die Facharbeiter und Ingenieure in Westdeutschland sein, die nach etlichen Schleifen durch die Hartz-Programme binnen kurzer Zeit bei nicht viel mehr als 50 Prozent ihres früheren Einkommens (bei gleicher Arbeit!) ankommen werden. Und was werden sie denken, wenn ihnen bewusst wird, dass am Anfang der Schleife auch ein Tarifvertrag „ihrer“ Gewerkschaft stand?

Die Koalitionsfreiheit, davon abgeleitet auch die Tarifautonomie, ist eines der zentralen Grundrechte. Dieses Grundrecht kann sinnvoll seine Wirkung nur in Grundrechten Aller entfalten – nicht aber zu deren Lasten. Wie wär’s mit einer ‚gesellschaftlichen Tarifpolitik‘?

August 2004

Beitrag zum "Grundrechte-Komitee Jahrbuch 2004", Hg. Komitee für Grundrechte und Demokratie


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