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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Vom »Flächentarif« zum Flächentarif! Werner Sauerborn* über einige Lehren aus dem Streik im Öffentlichen Dienst Der Arbeitskampf im kommunalen und Landesdienst Anfang 2006 war der von allen Beteiligten so erlebte große Erfolg, weil er ein großer Lernprozess war. Ein Lernprozess darüber, wie wirksam Solidarität sein kann, wie sie herstellbar ist, wie verbindend und ermutigend sie ist, ein Lernprozess über Strategie und Taktik von Streikführung, über Sinn und Unsinn von matrixförmigen Organisationsstrukturen usw. Trotz dieser großen Anstrengung war das Ergebnis eine Arbeitszeitverlängerung von einer halben Stunde pro Woche (im kommunalen Bereich in Baden-Württemberg). Wenn wir im Streik gesagt haben, dass bei einer 40 Stunden-Woche 10000 Arbeitsplätze im Land abgebaut würden, uns gegen die Arbeitgeberargumentation von 18 Minuten, die ja ganz harmlos seien, gewehrt haben, dann kann eine Arbeitszeitverlängerung von einer halben Stunde nach dem Streik nicht für irrelevant erklärt werden. In einem geringeren Maß wird auch sie mittelfristig Arbeitsplätze kosten. Wenn ein Streik ein Lernprozess auch über den Tag hinaus sein soll, dann muss diese Realität anerkannt werden, ohne damit den Streikenden und der Organisation auch nur ein Quäntchen ihres moralischen Erfolgs zu nehmen. »Mehr war unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich!« ... oft genug in der Geschichte der gewerkschaftlichen Tarifpolitik war dieser Standardsatz am Ende eines Tarifkonflikts nur die Bemäntelung des Einknickens vor der Gegenseite, die Kaschierung der Unfähigkeit, die Auseinandersetzung zuzuspitzen und Mobilisierungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Diesmal stimmte er. Die subjektiven Möglichkeiten waren an objektive Grenzen (»gegebene Bedingungen«) gestoßen, die subjektiv, also durch noch mehr Mobilisierung oder Durchhaltewillen, nicht mehr zu überspringen waren. [1] Was hat es auf sich mit diesen Bedingungen, die schuld daran sind, dass aus einer vorbildlichen Mobilisierung kein materieller Erfolg, keine Verbesserung für die Lohnabhängigen in oder ohne Arbeit wurde? Sind diese Bedingungen wirklich »gegeben« im Sinne von außerhalb des von uns Beeinflussbaren und zu Verantwortenden? Objektiver Grund für das materiell bescheidene Ergebnis ist, dass es trotz bester Anstrengungen in den gegebenen Strukturen nicht möglich war, mit dem Streik eine Erzwingungswirkung zu erzielen, die die Gegenseite zum Einlenken hätte veranlassen können. Eine solche Erzwingungswirkung entsteht nur, wenn die Arbeitskraft in einem definierbaren Wettbewerbsraum kollektiv und unersetzbar vorenthalten werden kann. Dieser Tarifkonflikt war geradezu geprägt von Beispielen, die direkt oder indirekt zeigen, dass das nicht mehr möglich war.
- Die kommunalen Verkehrsbetriebe haben sich von den ÖD-Tarifen abgekoppelt und ihr Heil in Absenkungstarifverträgen gesucht, um im Wettbewerbsdruck auf den Verkehrsmärkten bestehen zu können. Als traditionelle Stütze in ÖD-Streiks sind sie ausgefallen. Nur in ersten Ansätzen ist es bislang streikunerfahrenen Verwaltungs- und Dienstleistungsbereichen - allen voran den ErzieherInnen - gelungen, diese Lücke zu füllen. Solche mehr oder weniger dramatischen Spaltungen der Tariflandschaft sind in fast allen Bereichen des öffentlichen Dienstes anzutreffen: Krankenhäuser sind in kirchlicher, privatwirtschaftlicher oder (wie die Uniklinika) in Trägerschaft besonderer Rechtsformen organisiert mit jeweils unterschiedlichen tariflichen Regelwerken, unterschiedlichen Tariflaufzeiten und Friedenspflichten. Kitas gibt es neben der kommunalen in kirchlicher, freigemeinnütziger und zunehmend kommerzieller Trägerschaft. Straßenmeistereien, Flugabfertiger oder Garten- und Friedhofsämter konkurrieren mit Privaten, die andere oder keine Tarifregelungen haben und in andere gewerkschaftliche Organisationszuständigkeiten fallen [2] usw. Hinzu kommen uralte Spaltungslinien zwischen Tarifbeschäftigten und BeamtInnen sowie neue Spaltungslinien zwischen den föderativen Ebenen, die - ähnlich wie die zwischen einzelnen Bundesländern - im Ergebnis der diesjährigen Tarifauseinandersetzung teilweise gekittet werden konnten. Angesichts des allgemeinen Sinkens der tariflichen Pegelstände infolge dieser Erosion der Tariflandschaft versuchen es immer mehr Berufsgruppen, die über berufsspezifische Druckmittel verfügen (Fluglotsen, ÄrztInnen), auf eigene Faust und letztlich zu Lasten des gemeinsamen Interesses. Warum und was ist Tarifeinheit? Warum ist Tarifeinheit die entscheidende Erfolgsvoraussetzung für einen Arbeitskampf, und warum ist ihr offensichtliches Fehlen in den ÖD-Streiks Anfang 2006 der entscheidende Grund für das materiell unbefriedigende Ergebnis? Die tarifpolitische und letztlich auch die politische Durchsetzbarkeit von ArbeitnehmerInneninteressen im Kapitalismus hängt entscheidend davon ab, ob es ArbeitnehmerInnen gelingt, ihr strukturelles Handicap, auf dem Arbeitsmarkt zunächst als Einzelne dem Arbeitgeber und Produktionsmittelbesitzer gegenüberzustehen, überwinden zu können. Jede Begrenzung der Konkurrenz der Arbeitskraftanbieter untereinander stärkt ihre Stellung, sei es eine Betriebsvereinbarung, ein Haus- oder Konzerntarifvertrag oder ein überbetrieblicher Tarifvertrag. Das gewerkschaftliche Optimum, der maximale Ausschluss von Arbeitnehmerkonkurrenz in einer kapitalistischen Ökonomie, ist der Flächentarifvertrag. Für ihn gibt es klare Definitionsmerkmale, die oft nicht mit dem gewerkschaftlichen Sprachgebrauch übereinstimmen, in dem Flächentarife verteidigt werden, die im ökonomischen Sinne eigentlich keine mehr sind. Die ArbeitnehmerInnenkonkurrenz muss dort ausgeschaltet werden, wo sie stattfindet, das heißt in den realen kapitalistischen Wettbewerbsräumen. Gewerkschaften können versuchen politisch Einfluss auf die Wirtschaftsstrukturen zu nehmen, in ihrer Tarifpolitik müssen sie sich auf die gewollte oder ungewollte Realität der Wirtschaftsstrukturen beziehen, innerhalb derer die Unternehmen gegeneinander konkurrieren. Dabei geht es um Produktivität, Produkte, Energiekosten, Steuer- und Abgabenbelastungen, Marktzugänge etc., entscheidend aber auch um die Lohnkosten, den Preis der Arbeitskraft. Von Flächentarif im engeren Sinne oder Tarifeinheit kann erst gesprochen werden, wenn es den ArbeitnehmerInnen bzw. ihren Gewerkschaften gelungen ist, wenigstens näherungsweise in den realen Wettbewerbsräumen ein Monopol über das Angebot von Arbeitskraft zu errichten. Der Fähigkeit des Arbeitgebers, auf billigere Arbeitskraft - wie und wo auch immer - zurückgreifen zu können und damit Druck Absenkungsdruck zu erzeugen, ist dann der Boden entzogen. Globalisierung oder die Vertreibung aus dem Paradies Die Gewerkschaftswelt wäre wohl noch heil, wenn die kapitalistischen Uhren in den 80er Jahren stehen geblieben wären. Während die Gewerkschaften weiter in den Strukturen des Rheinischen Kapitalismus verharren, haben sich die Wirtschafsstrukturen, angetrieben von der digitalen Revolutionierung der Produktivkräfte, dramatisch verändert - mit Auswirkungen bis in die örtlichen Rahmenbedingungen gewerkschaftlichen Handelns hinein. Der Kapitalismus ist dabei, sich zu entgrenzen. Im zeitlichen Sinne, indem die Umschlagzeiten von Waren und Kapital sich erheblich beschleunigt haben, und im räumlichen Sinne, indem sich das Kapital zunehmend von nichtökonomischen Grenzen »emanzipiert«, vor allem von nationalen Grenzen (wozu auch europäische Grenzen zählen). Für Gewerkschaften, deren Durchsetzungsmacht von der Herstellbarkeit von Angebotsmonopolen auf den jeweiligen Arbeitsmärkten abhängt, ist die Herausbildung eines globalen Arbeitsmarkt die entscheidende Veränderung. Dieser hat sich von den Gewerkschaften ziemlich unbemerkt entwickelt,
Tarifeinheit im Staatssektor? Dass es den Gewerkschaften so schwer fällt, ihre Konsequenzen aus den neuen Rahmendingungen dieses Kapitalismus zu ziehen, liegt u.a. an der Heterogenität und Ungleichzeitigkeit der Prozesse: Branchen, die seit langem global agieren (Seeschifffahrt, Telekommunikation, Speditionen&Logistik, Energie) stehen anderen Branchen (wie dem Einzelhandel) gegenüber, für die transnationale Lohnkostenkonkurrenz kaum eine Rolle spielt - und es gibt den Sonderfall des Staatssektors. Die Mechanismen sind hier andere, die Wirkung ist ähnlich: Der Flächentarifvertrag namens BAT, der gebieterische Geltung in einem einigermaßen abgrenzbaren Staatssektor des Rheinischen Kapitalismus hatte, ist perdu! Auch hier haben sich die Branchenstrukturen und -grenzen dramatisch verschoben (Erweiterung und Schrumpfung), ohne dass darauf eine Antwort gefunden wurde. Einflussgrößen der Strukturveränderungen des Staatssektors waren und sind weiterhin:
Auch ohne Tarifeinheit und Angebotsmonopol über die Arbeitskraft werden moralische Achtungserfolge, ab und an auch materielle Erfolge möglich sein, wie es der IGM im Frühjahr unter den günstigen Bedingungen einer anziehenden Exportkonjunktur zumindest für ihre Hauptklientel gelungen ist. Ohne sich aus dem Schwitzkasten der Erpressbarkeit zu befreien, ohne sich mit den Tarif- und Organisationsstrukturen dem Kapital an die Fersen zu heften, werden perspektivisch keine Umverteilungserfolge zugunsten der Lohnabhängigen mehr möglich sein, wird vielmehr das wechselseitige Niederkonkurrieren weitergehen. Was Tarifeinheit, was Ausschaltung der ArbeitnehmerInnenkonkurrenz konkret heißt, kann nicht pauschal, sondern nur durch konkrete Analysen der jeweiligen Branchen- und Wettbewerbsstrukturen beantwortet werden - in ver.di vor allem eine Aufgabe der Fachbereiche. Tarifeinheit bedeutet dabei erst in allerletzter Instanz »gleiche Löhne«. Zuerst bedeutet sie die Herstellung einer gemeinsamen Handlungs- sprich Arbeitskampffähigkeit, die das gegenseitige Ausspielen beendet, Verbesserungen statt Abbau für alle bisher Konkurrierenden ermöglicht, ohne schon die Lohnabstände einzuebnen. Einer besonders schwierigen Diskussion müssen sich die GewerkschafterInnen im Öffentlichen Dienst stellen. Einerseits gilt es auch hier als Lehre aus den Streiks die neuen, immer wieder in Niederlagen führenden Konkurrenzen abzubauen. Andererseits ist der Staat nicht irgendeine Wirtschaftsbranche. GewerkschafterInnen haben sehr dezidierte Vorstellungen vom Staat als einem regulierenden, Ausgleich in der Klassengesellschaft schaffenden Sozialstaat. Es gibt Bereiche, die als einigermaßen unbestrittener Kernbereich des Staats gelten. Es gibt viele Bereiche, die längst ausgegliedert sind, auch wenn sie besser Instrument staatlicher Regulation wären und »wieder zurück geholt« werden müssten. Und es gibt Bereiche zwischen Baum und Borke - mit einem Bein im Wettbewerb und mit dem anderen Teil der staatlichen Daseinsvorsorge. Drei Punkte sollten bei der Diskussion um neue Tarifstrukturen in diesem Bereich Konsens sein:
Wo innerhalb dieser Eckpunkte der Weg liegt, muss (Fach-)bereich für (Fach-)bereich diskutiert werden, am besten bis zum ver.di-Bundeskongress 2007 und auch im Blick auf die laufende Programmdebatte. Die streikenden Müllwerker, ErzieherInnen und KrankenpflegerInnen haben mit ihrem moralischen Erfolg, bei dem sie materiell zugezahlt haben, der Organisation einen Vertrauenskredit gewährt, diese anachronistischen Tarifstrukturen in Ordnung zu bringen. Der Lernprozess muss weitergehen, damit aus moralischen möglichst bald auch wieder materielle Erfolge werden können. * Werner Sauerborn ist Referent beim ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg und zuständig für »Politik und Planung«. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6/06 (1) Das schützt die Handelnden dennoch nicht vor der subjektivistischen Vorhaltung, eine Fortführung des Streiks hätte ein besseres Ergebnis gebracht. Eine unberechtigte, selbstimmunisierende, weil letztlich nie widerlegbare Kritik, bei der es keine objektiven Umstände gibt, die nicht qua Kraft des kollektiven Willens überwindbar wären. (2) Eines der wenigen nach vorn weisenden Argumente für die ver.di-Gründung war die Zusammenführung konkurrierender bzw. paralleler Tarifbereiche gleicher Branchen in gemeinsamen Fachereichen. Dies ist zumeist nur formal vollzogen, die alten Strukturen bestehen oft undiskutiert nebeneinander fort. (3) Ausführlicher hierzu s. Riexinger/Sauerborn: »Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle«, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Nr. 10/2004, Hamburg; Sauerborn: »Blackmail Globalisierung«, in express, Nr. 4/2005 |