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Updated: 18.12.2012 15:51
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Am Ende, ein Anfang

Werner Sauerborn* über neue Streikqualitäten bei ver.di

Streiken ist gar nicht so einfach, wenn die Beschäftigten lange nicht gefragt wurden, die ehemaligen Bastionen geschliffen und die Arbeitgeber in der Offensive sind. Eine Auswertung des diesjährigen Streiks und seiner Lehren auch im Vergleich zum letzten großen Tarifkampf der ÖTV im Jahr 1992 steht solange aus, wie ein Ende der Auseinandersetzung in Baden-Württemberg nicht absehbar ist. Doch bereits jetzt ist klar, so macht Werner Sauerborn in seinem - für den express überarbeiteten - Zwischenfazit für das Netzwerk-Info der Gewerkschaftslinken (Nr. 9/2006) deutlich, dass dieser Streik eine Reihe neuer Qualitäten aufweist. Nicht zuletzt sind vor allem diejenigen auf der Straße, von denen auch in ver.di viele angenommen hatten, dass sie - zumal für eine wochenlange Auseinandersetzung und angesichts der teils vehementen Reaktionen »betroffener« BürgerInnen - nur schwer mobilisierbar seien. Eine Lehre allerdings hat ver.di nach der an der Kompromisslosigkeit der Arbeitgeber gescheiterten Schlichtung in Baden-Württemberg bereits gezogen: Um der Drohung mit weiterer Privatisierung und dem vermehrten Einsatz von Streikbrechern zu begegnen, werden Streiks nun nicht mehr im Voraus angekündigt. ver.di will »für die Arbeitgeber unberechenbarer werden«. Schön wär's.

Unter dem Motto »Offensive in der Defensive« war ver.di in die Streiks im Öffentlichen Dienst gegangen, die am 6. Februar in Baden Württemberg starteten. Entsprechend wird man das Ergebnis am Ende, wenn nicht noch Gravierendes schief läuft, als Sieg in der Niederlage bezeichnen können. Standen 1992, beim letzten großen Streik im Öffentlichen Dienst bundes-weit noch 330000 GewerkschafterInnen bei Bund, Länder und Gemeinden in einem zweiwöchigen Erzwingungsstreik, sind es heute punktuelle Streiks mit einer Beteiligung von 20000 bis 30000 Streikenden.

Die Strukturen des Staatssektors und damit die Voraussetzungen für Tarifpolitik und Arbeitskampffähigkeit haben sich in den 14 Jahren gravierend verändert, ohne dass das nennenswerte strategische Überlegungen, geschweige denn Konsequenzen für die gewerkschaftliche Aufstellung ausgelöst hätte. Der Öffentliche Dienst als Tarifeinheit existiert nicht mehr:

Der Tarifverbund von Bund, Ländern und Gemeinden ist zerfallen. Am TVöD, dem Nachfolgetarif von BAT etc., sind die Bundesländer nicht mehr beteiligt. Auch innerhalb der föderalen Ebenen erodieren die einheitlichen Standards. Auf kommunaler Ebene sind in den meisten Ländern die Arbeitszeitregelungen noch ungekündigt. Dort, wo sie gekündigt wurden und Arbeitskämpfe stattfinden, werden sie zu quantitativ und qualitativ unterschiedlichen Resultaten führen. Verschiedene Öffentliche Arbeitgeber haben die Arbeitgeberverbände verlassen, wie das Land Hessen sowie etliche Städte und Landkreise, in denen tariflose Zustände herrschen, ohne dass dem etwas Wirkungsvolles entgegengesetzt werden könnte.

Die für die Streikfähigkeit gravierendste Veränderung ist die Privatisierung großer Teile der sog. Wirtschaftsbereiche des Staatssektors. Post und Bahn sind auf Bundesebene längst aus dem Öffentlichen Dienst ausgeschieden und in ganz unabhängigen Tarifwerken geregelt. Auf Landesebene haben die Unikliniken zum Teil eigene Tarifsysteme (Baden-Württemberg) oder sind privatisiert (Hessen). Auf kommunaler Ebene sind die Energieversorger längst privatisiert oder voll in den Wettbewerb auf den Energiemärkten einbezogen.

Nahverkehrsunternehmen und Entsorgungsbetriebe stehen in unmittelbarer Konkurrenz mit Privatfirmen. Busse und Bahnen, die traditionell die entscheidende Rolle in den Tarifkämpfen des Öffentlichen Dienstes spielten, sind längst in sog. Spartentarifverträgen separiert und nur noch über sehr dünne Fäden mit dem Tarifsystem des Öffentlichen Dienstes verbunden. Da sie nicht mehr unmittelbar tarifbetroffen sind, können sie nur Solidaritätsstreiks, aber keine Erzwingungsstreiks mehr durchführen.

Weit fortgeschritten ist auch die Privatisierung bei den Müllabfuhrbetrieben, klassischerweise das zweite starke Standbein der Arbeitskämpfe im Öffentlichen Dienst. War bis Mitte der siebziger Jahre die Müllabfuhr der Stadt oder des Landkreises noch der Regelfall, ist sie inzwischen die Ausnahme. Kommunale Entsorgungsbetriebe gibt es in Baden-Württemberg nur noch in sieben Großstädten, und auch dort nur noch teilweise, weil Teilaufgaben, z.B. Bio- oder Papiermüll, auch hier bereits von Privatfirmen abgedeckt werden.

Entsprechend bedrohlich wirkt für die Streikenden das ständige Herumfuchteln der Oberbürgermeister und öffentlichen Arbeitgeber mit der Privatisierungskeule. Im Stuttgarter Gemeinderat drohten CDU, FDP, Grüne und Braune in einem Gemeinderatsbeschluss den flächendeckenden Einsatz von Fremdfirmen an, wenn ver.di nicht bereit sei, 50 Prozent der Müllfahrzeuge wieder zuzulassen, den Streik also zur Hälfte abzubrechen.

In Stuttgart, wie andernorts, wo ähnliche Konflikte provoziert wurden, bestand die gewerkschaftliche Reaktion darin, die Notdienstvereinbarungen komplett zu kündigen, und, so gut es geht, den Streikbrechereinsatz zu verhindern oder zu stören. In Stuttgart konnte zwar nicht verhindert werden, dass Privatfirmen aus der Umgebung mit ihren am Wochenende freien Kapazitäten Teile des in Stuttgart liegen gebliebenen Mülls abholten. Durch eine Blockade der zentralen Müllverbrennungsanlage und durch ein >Katz und Maus-Spiel< der Abriegelung weiterer Deponien wurde der Entsorgungsprozess wenigstens streckenweise beeinträchtigt.

Diese Art Widerständigkeit ist charakteristisch für die offensive Streikführung unter Defensivbedingungen. Anders als zu ötv-Zeiten wurde nicht lange gefackelt, als die kommunalen Arbeitgeber in Baden-Württemberg zum 1. Dezember die Arbeitszeitregelungen im Rahmen einer Öffnungsklausel des TVöD kündigten. Bereits am 5. Dezember fanden landesweit Streiks statt, die in einer Großdemonstration in Stuttgart mit über 10000 TeilnehmerInnen gebündelt wurden.

Nach Verhandlungen, die sich schnell als aussichtslos erwiesen, wurden in den Betrieben mit hoher Mobilisierung die Urabstimmungen gestartet. Am 6. Februar begann der Arbeitskampf im kommunalen Bereich in Baden Württemberg, wenige Tage später wurde er nach Urabstimmung auch im Landesbereich aufgenommen, wo seit zwei Jahren ein tarifloser Zustand hinsichtlich Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie der Arbeitszeit besteht. Immer größere Teile der Landesbeschäftigten arbeiten bereits die vom Landesarbeitgeber geforderten 41 Stunden in der Woche, erhalten kein Urlaubsgeld und nur noch ein gekürztes Weihnachtsgeld.

Perspektivisch von großer Bedeutung ist, dass es in einigen der Kernbereiche des Öffentlichen Dienstes, die in früheren Tarifkonflikten kaum eine Rolle gespielt hatten, gelungen ist, Streiks zu führen, als da sind Kitas, Verwaltungsbereiche der Städte, wie EDV-Abteilungen, Bauabteilungen und Zulassungsstellen. Je schwieriger die Arbeitskampffähigkeit in den unter Wettbewerbsdruck stehenden Wirtschaftsbereichen aufrechtzuerhalten ist, um so wichtiger sind diese ersten Schritte auf dem Weg zu einer eigenen Streikfähigkeit in den Kernbereichen des Öffentlichen Dienstes.

Diese neuen Streikbereiche - dazu zählen auch die Krankenhäuser - sind weiblich, haben zumindest überwiegende Frauenanteile.

Zu den Erfahrungen, die hier gemacht werden, zählt auch, dass Streiks hier anders geführt werden müssen als z.B. in der Metallindustrie. Der Regelfall bei öffentlichen Dienstleistungen ist, dass sie vorzuenthalten un-mittelbar den Bürger trifft, als Bewohner bei der Müllabfuhr, als Eltern bei den Kitas, als PatientInnen bei den Krankenhäusern, Zwar kommt es auch hier auf hohe Streikeffizienz an, also auf die Fähigkeit, die Betriebe oder Einrichtungen oder Teile von ihnen dicht zu machen. Es sind aber zugleich mehr als bei anderen Streiks Ventile erforderlich, um zu verhindern, dass die BürgerInnen in einem Maße von den Streikfolgen getroffen werden, das die öffentliche Meinung gegen den Streik in Stellung bringt. Dies betreiben die Arbeitgeber ständig, die Medien bisher nur zum Teil - private ungenierter als öffentliche.

Diese Ventile bestehen einerseits in Notdienstvereinbarungen (z.B. Winterdienst oder dringenden Operationen in Krankenhäusern), andererseits in einer flexiblen Streiktaktik, die den Betroffenen immer wieder »Erholphasen« einräumt - z.B. indem Kitas nicht in Permanenz, sondern seriell und abwechselnd mit vorheriger Ankündigung bestreikt werden. Dieses flexible Unterbrechen und wieder Neuanfangen erfordert eine besondere Streikmoral, die gerade die Frauen in diesem Streik unter Beweis stellen.

Da die öffentliche Meinung bei Arbeitskämpfen im ÖD streikentscheidender ist als in anderen Bereichen, hat ver.di verschiedene Begleitkampagnen gestartet, in Baden-Württemberg z.B. die Aktionen »Karin fehlt« (Flyer, Kinospots), eine Prominenten-Unterstützungsaktion und landesweite Anzeigen unter dem Motto »Besser Müllsäcke stehen auf der Straße als noch mehr Arbeitslose«. Immer geht es um die Herausstellung des eigentlichen Konfliktthemas, nämlich um den drohenden Abbau von 10000 Arbeitsplätzen, wenn 220000 Beschäftigte »nur 18 Minuten täglich« länger arbeiten.

Was die Urabstimmungsergebnisse, die Streikbeteiligung, die Teilnahme an Demos und Kundgebungen, und was das Stehvermögen nach bisher vier Wochen Streik betrifft, hat dieser Arbeitskampf viele auch optimistische Erwartungen bereits jetzt übertroffen. Kämpfen in der Defensive ist möglich!

Am 14. Februar nahmen 12000 Streikende an der europaweiten Demonstration gegen die Bolkesteinrichtlinie in Straßburg teil. Sie trafen dort auf Kolleginnen aus Griechenland, Belgien, Spanien, Frankreich, Tschechien, Lettland, die zum Teil 20 Stunden Busfahrt hinter sich hatten, um gegen Deregulation und Privatisierung zu demonstrieren, also gegen eben die Rahmenbedingungen, die sie in ihren Streiks so in die Defensive gebracht haben. Streikhemdchen, Käppis und Fahnen wechselten die Besitzer wie nach einem Europacup-Spiel.

Andererseits ist es ein Kampf in der Defensive, und das Ergebnis wird trotz großem Einsatz eine Verschlechterung gegenüber dem status quo bedeuten. Nach dem Streik gibt es viel zu besprechen. Operative und taktische Probleme, als da sind: Handlungshemmnisse in den Apparaten, Zusammensetzung von Tarifkommissionen, strategisches Zusammenspiel von Pilotbereichen und anderen, tarifliche Differenzierungen als Chance oder Spaltungspotential, Rolle der gewerkschaftlichen Frauenpolitik in diesem (Frauen-)streik usw.

Die entscheidende Frage aber wird sein: Wie können die vielen tariflichen Konkurrenzsituationen wieder aufgefangen werden, die die Tarifmächtigkeit und den Streikdruck schon sehr weit unterspült haben. In welchen Tarifstrukturen kann wieder Tarifeinheit hergestellt werden, wie zurück oder nach vorn zu Flächentarif-verträgen, die sich nicht nur so nennen, sondern auch solche sind?

Ein hoffnungsvolles Zeichen in diese Richtung setzten Szenen bei der Blockade der Müllverbrennungsanlage in Münster bei Stuttgart: Kollegen der privaten Müllfirmen, die mit 80 Fahrzeugen im Stau standen, weil ihre Kollegen von der Stuttgarter Müllabfuhr die Zufahrt blockierten, nutzten die Gelegenheit, sich kennen zu lernen, über ihre unterschiedlichen Arbeitsbedingungen zu diskutieren und Einsicht und Verständnis für die jeweiligen Lage zu gewinnen. Einsicht in die gemeinsamen Interessen ist bekanntlich die Voraussetzung für gemeinsames Handeln!

* Werner Sauerborn ist Gewerkschaftssekretär beim ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/06


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