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Updated: 18.12.2012 15:51
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Verdi-Streik: Kompromiß heißt heute Selbstverstümmelung

Bericht eines Kollegen aus Hamburg von einer Veranstaltung mit Bsirske am 30.3.06 im Gewerkschaftshaus vom 31.3.06

Mehrere Stunden war Verdi-Vorsitzender Frank Bsirske am Donnerstagnachmitttag im Hamburger Gewerkschaftshaus und stand den Streikenden im übervollen Saal Rede und Antwort. Siggi Fries, die zuständige Fachbereichsleiterin, faßte einleitend die Stimmung zusammen, die schwanke zwischen: "Wie lange schaffen wir das noch?" und: "Machen wir noch ein bischen härter, machen wir den Elbtunnel dicht". (Viel Beifall). Bsirske hielt kein Referat, es sollten nur Fragen gestellt werden. Die KollegInnen drängten "auf Aktionen, wo es schmerzt", "jeden Tag einen draufsetzen". Ein Kollege bedrängte dann Frank Bsirske mehrfach (wieder unter viel Beifall), sich eindeutig für das Dichtmachen des Elbtunnels auszusprechen. Die Forderung, den Elbtunnel dichtzumachen wurde noch öfter gestellt, immer mit viel Beifall. Es scheint ein Rettungsanker zu sein, nachdem vor drei Wochen die Müllwerker aus dem Streik entlassen wurden.

Der Hausmeister einer Schule vom Stadtrand Hamburgs setzte sich für Fahrgeld für Streikende ein, die knapp bei Kasse sind. Der Vorsitzende stimmte dem ganz selbstverständlich zu. Der Hausmeister bemerkte Stunden später vor dem Gewerkschaftshaus, daß er absichtlich in Gegenwart von Bsirske das Fahrgeld gefordert habe, bis dahin seien er und seine Kollegen damit auf taube Ohren gestoßen. Viele hätte wirklich das Geld nicht mehr für die vielen Fahrten.

Am verbittertsten war ein Ingenieur der Umweltbehörde, der sein Unverständnis und das seiner KollegInnen mehrfach, auch noch nach dem offiziellen Ende der Versammlung im direkten Gespräch mit Bsirske zum Ausdruck brachte: "Für die Erhöhung auf 40 Stunden und die Kürzung des Weihnachtsgeldes gehen meine KollegInnen nicht auf die Straße!". Es ging ihm gegen den "Gewerkschaftsgedanken", daß sie (höher eingruppierte verdi-Mitglieder) zugunsten der unteren Lohngruppen geopfert würden. Der Kollege fühlte sich fehl am Platze und bot dem Vorsitzenden an zu gehen. Der Kollege kritisierte die Gewerkschaftsführung, keinen Standpunkt zu haben und schon mit einem Kompromiß in die Verhandlungen gegangen zu sein. Es wäre richtig gewesen, die 30- oder 35 Stunden-Woche zu fordern. Der Hamburger Verdi-Vorsitzende Wolfgang Rose entgegnete ihm, daß diese Art radikaler Forderung nicht die Chancen beim Tarifkampf erhöhten.

Die Forderung der 30- oder 35 Stunden-Woche ist jedoch kein Ausdruck von Radikalität sondern Ausdruck einer anderen Logik, schließlich waren die Gewerkschaften ja selbst schon mal so "radikal", die 35-Stunden-Woche zu fordern (und haben sie durchgesetzt im Metallbereich), und das bei damals halb so vielen Arbeitslosen wie heute. Wenn es stimmt, daß Arbeitszeitverlängerung (auch schon bei 18 Minuten pro Tag) Arbeitsplätze vernichtet, dann schafft Arbeitszeitverkürzung logischerweise Arbeitsplätze. Wenn das schon bei 2,5 Mill. Arbeitslosen vor 20 Jahren richtig war, dann heute bei fünf Millionen registrierten Arbeitslosen (real 8-9 Mill.) wohl erst recht. Indem sich verdi auf Erhöhung der Arbeitszeit bis hin zur Wiedereinführung der 40 Stunden-Woche (vorerst nur bei höheren Gehaltsgruppen) einläßt, paßt sie sich der Arbeitgeberlogik an. Sie begeht Selbstverstümmelung, indem sie in den Tarifverhandlungen höhere Gehaltsgruppen gegen mittlere opfert. Die Lohngruppen ganz unten hat verdi wohl auch schon gewerkschaftspolitisch abgeschrieben, indem sie der Wiedereinführung von Leichtlohngruppen zustimmte.

Frank Bsirske kam an diesem Nachmittag immer wieder auf die Begriffe "Interessenausgleich" und "Kompromiß" zurück, so als wolle er den Kollegen diese Begriffe nachdrücklich einprägen. An einem Abschluß von "nackten 38,5 Stunden" habe er Zweifel, am Ende stünde ein Interessenausgleich. Wie in Hamburg. Es müsse aber ein Interessenausgleich sein, kein Diktat der anderen Seite. Er habe in seinem ganzen Leben noch keinen Tarifkampf erlebt, wo nicht ein Kompromiß herausgekommen sei.

Er vergißt nur, was Kompromiß früher bedeutete und was heute!. Früher bedeutete es: statt geforderter 15 Prozent nur 11 Prozent, statt geforderter 8 Prozent nur 5 Prozent und in den 90er Jahren statt geforderter 4 Prozent nur 2 Prozent! Heute bedeutet Kompromiß: 40- statt 38.5 Stunden-Woche und Halbierung von Urlaubs- oder Weihnachtsgeld!

Bsirske erklärte, daß dieser Streik kassenmäßig länger als 56 Wochen durchgehalten werden könne, er werde aber nicht über die Kasse entschieden. "Verdi hält lange, lange, lange durch!" Er sprach Mut zu: "Dieser Streik wird nicht zur größten Niederlage der deutschen Gewerkschaften". Zum letzten Satz läßt sich nur ironisch anmerken, daß der Platz der größten Niederlage schon besetzt ist, sie war wohl 1933 und dokumentierte sich u.a. darin, daß sich Gewerkschaftssekretäre am 2.5.1933 die Übergabe der Verbandskassen und die Schreibmaschinen (das wichtigste Produktionsmittel in den Büros damals) ordnungsgemäß von den Nazis quittieren ließen. Die Niederlage von 1933 ist auf eine Fehleinschätzung von Kapital und Faschismus zurückzuführen. Ich bin an diesem Nachmittag nicht davon überzeugt worden, daß die Gewerkschaftsführungen heute den Ernst der Lage erkennen. Robert Kurz schreibt im "Freitag" vom 31.3.06: "Parallel dazu geht es unverkennbar darum, den besonderen Charakter der öffentlichen Gemeinschaftsaufgaben in Frge zu stellen oder gar zu liquidieren. Je mehr der Staat aufhört, >ideeller Gesamtkapitalist< (Marx) eines nationalökonomisch fundierten Kapitalstocks zu sein, desto mehr verhalten sich seine Körperschaften wie Einzelkapitalien in der Marktkonkurrenz. Ohne Rücksicht auf ihren Inhalt werden öffentliche Aufgaben betriebswirtschaftlicher Rationalität unterworfen. Folglich macht die Tendenz, den öffentlichen Dienst in der Markökonomier aufzulösen, den besonderen Charakter des laufenden Tarifkonflikts mit Verdi aus, bei dem es in der Tat nicht vordergründig um 18 Minuten Mehrarbeit geht." ... "Deshalb geht es im Konflikt mit den öffentlichen Arbeitgebern keineswegs bloß um Löhne und Arbeitszeiten, sondern letzlich um den Bestand der gesellschaftlichen Infrastruktur. Die Gewerkschaft kann dabei nur verlieren, wenn sie die Krise der öffentlichen Dienste nicht offensiv gesellschaftskritisch thematisiert, sondern sich statt dessen selbst auf eine Art tarifliches >Serviceunternehmen< reduzieren will."... "Die momentanen Kontroversen um den Verdi-Streik zeigen, wie weit wir noch von einer sozialen Widerstandsbewegung entfernt sind, die sich dem Krisenradikalismus der totalen Ökonomisierung stellen kann".

Den Geist der Formierung einer "sozialen Widerstandsbewegung" strahlte der Vorsitzende nun in der Tat nicht aus. Seine Richtung war eine andere: Wie stimme ich die Mitglieder auf den Kompromiß ein?

Die Gewerkschaftssekretärin Siggi Fries gab dem Vorsitzenden unter Beifall mit auf den Weg: Nicht über 39 Stunden die Woche! Keine weitere Zersplitterung bei den Einkommensgruppen! Er nickte.

Kollegin Fries hatte zuvor die Anwesenden ob ihres Einsatzes gelobt: Seht ihr, es geht auch ohne die Müllwerker. Die Frage ist jedoch, ob die jetzt noch Streikenden mit den Müllwerkern an ihrer Seite jetzt nicht besser dastünden. Die Müllwerker waren vor drei Wochen gegen den Willen einer deutlichen Mehrheit (nur 42 Prozent hatten für Streikabbruch gestimmt), aus dem Streik geschickt worden. Die Hamburger Morgenpost brachte damals eine ganze Seite über die empörten Müllwerker und titelte: "Haben die Verdi-Bosse die Müllmänner verraten?" (MoPo v. 10.3.06).

Am Donnerstag war jedoch festzuhalten: Frank Bsirske hat mit seiner ruhigen, sachlichen, freundlichen Art (fast) alle Mitglieder fest im Griff, viele himmelten ihn geradezu an. Von der Sichtweise, die Robert Kurz als Voraussetzung für Veränderungen anmahnt, sind die KollegInnen mit ihrer konkretistischen Unmittelbarkeit noch meilenweit entfernt.


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