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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Eisbonbons statt Feuerzauber Zum Tarifabschluss für die Beschäftigten im Einzelhandel »Verteidigung ausreichend, Angriff zu schwach«, so die Überschrift des Flugblattes, mit dem die Gewerkschaft ver.di die Beschäftigten in Berlin und Brandenburg über den Tarifabschluss für den Einzelhandel in den beiden Bundesländern informierte. Freuen dürfen wir uns zwar darüber, dass der Begriff »erfolgreich« vermieden wurde, doch Worte über die Verdaulichkeit dieser Niederlage und deren Überwindung finden wir damit noch nicht. Dieser Abschluss, der zwar nicht als Pilotabschluss geplant war, doch in der Folge dazu mutierte, da er nahezu bundesweit 1:1 übernommen wurde, birgt das Risiko des Flächenbrandes beim Flächentarif und kann, wenn sich die Fähigkeit zur Mobilisierung der Beschäftigten nicht steigert, den Einstieg in eine tarifpolitische Eiszeit für den Handel in Deutschland bedeuten. Eiszeit deswegen, weil in 2005 zwar Einschnitte in tarifliche Besitzstände verhindert wurden, mögliche und notwendige tabellenwirksame Gehalts- und Lohnerhöhungen aber auf dem Stand dieses Abschlusses eingefroren bleiben könnten. Nach diesem Abschluss wird es zukünftig sehr schwer, den von den Unternehmerverbänden erzwungenen Weg der Variabilisierung von Gehalts- und Lohnzuwächsen (oder auch bestehender tariflicher Besitzstände) aufzuhalten. Zunächst noch einmal zu den Fakten: In den Verhandlungen für den Einzelhandel konnte am 4. Januar 2006 in Berlin (in Brandenburg am 13. Januar 2006) ein seit sechs Monaten schwelender Tarifkonflikt beendet werden. Nach wochenlangem Verhandlungsmarathon konnte in der dritten Verhandlungsrunde für die ca. 100000 Beschäftigten in Berlin (ca. 45000 in Brandenburg) ein Ergebnis erreicht werden. Die Gewerkschaft ver.di einigte sich mit dem Arbeitgeberverband (HBB) für den Einzelhandel in Berlin und Brandenburg auf folgende Eckdaten.
Ein Paket, das es in sich hat Manteltarifvertrag Gehalts- und Lohntarifvertrag/Tarifvertrag zur erfolgsorientierten tariflichen Zahlung Falls die Einmalzahlungen nicht durchgesetzt werden können, könnte dies im Extremfall für die rund 60 Prozent der ca. 2,4 Millionen Beschäftigten, die unter die Regelungen der Einzelhandelstarifverträge fallen, einen erheblichen Kaufkraftverlust für 2006/2007 bedeuten. Einher geht damit eine entsprechende Minderung der Binnennachfrage. Wollten die Unternehmer, wie es derzeit bei der Metro-Tochter real versucht wird, diesen Weg beschreiten, schneiden sie sich damit ins eigene Fleisch. Kaufkräftige Binnennachfrage kommt in der Regel zuallererst dem Einzelhandel zugute. Eine große Gefahr der eingangs erwähnten Eiszeit liegt in den variablen Entgeltbestandteilen von 75 Euro in 2007 und 150 Euro in 2008. Dass eine Unternehmensleitung den Begriff »freiwillige« Betriebsvereinbarung nicht kennt, ist eher unwahrscheinlich. Läuft das Unternehmen erfolgreich, will also der Betriebsrat die Beschäftigten am Erfolg beteiligen, und der Unternehmer lehnt die mögliche Erhöhung von 75 bzw. 150 Euro ab, weil er z.B. Rücklagen zur Beschäftigungssicherung bilden will, dann ist zwar ein kompliziertes Verfahren zur Durchsetzung der BR-Forderungen im Regelwerk vorgesehen, das sogar eine Verdopplung der variablen Beträge beinhalten kann. Es wird aber großer Anstrengungen sowie enormer personeller und zeitlicher Ressourcen für ver.di bedürfen, die Betriebsräte in der Anwendung zu schulen. Vielleicht bleiben bei diesen Schulungen ja auch noch ein paar Minuten Zeit, ihnen den Begriff der »kollektiven Bettelei« und wie man sich dagegen wehrt näher zu bringen. Denn davon war ver.di bzw. waren die Beschäftigten im Jahr 2005 nur noch Millimeter entfernt. Problematischer wird es, denkt man den eingeschlagenen Weg der Variabilisierung von Gehalts- und Lohnbestandteilen zu Ende. Sie werden ja nicht tabellenwirksam, sondern erfolgsorientiert »on top« gezahlt. Vorstellbar ist durchaus - und dies wird von den Unternehmerverbänden nachlesbar angestrebt -, dass für die Zukunft ausschließlich erfolgsabhängige »on top«-Einmalzahlungen angeboten werden. Wenn es denn stimmt, dass der Erfolg eines Unternehmens von vielem abhängt, aber ohne Zweifel wesentlich von den wirtschaftlichen Entscheidungen des Unternehmers und seiner Agenten selbst, dass also Betriebsräte, Gesamtbetriebsräte oder gar die Gewerkschaft diese Entscheidungen nur sehr begrenzt beeinflussen können, dann stimmt es auch, dass die erfolgsorientierte Zahlung dem »freiwilligen« Diktat des Unternehmens unterliegt. So würden also Beschäftigte - wie z.B. im Fall des Sanierungstarifvertrags bei Karstadt oder aktuell bei real, wo ebenfalls ein solcher Sanierungstarifvertrag durchgesetzt werden soll - über Jahre »außen vor« bleiben. Der Wettbewerbs-Druck auf den »Rest« des Einzelhandels, auf Betriebsräte und Beschäftigte würde so stark, dass hier künftig wohl weder etwas angeboten noch gefordert werden wird. Für Beschäftigte im Handel entfiele dadurch nicht nur die Verlässlichkeit und Planbarkeit der monatlichen Bezüge. Sie dürften überdies, das zeigen die schmerzlichen Erfahrungen der diesjährigen Tarifrunde, große Mühe haben, die Kampfbereitschaft aufzubringen, die variablen Bestandteile wieder zu erstreiten. Wenn es denn darüber hinaus stimmt, was die Propheten der Einzelhandelsentwicklung vorhersagen, dass der Personalabbau forciert wird, prekäre Arbeitsverhältnisse vorherrschen und das prägende Beschäftigungsverhältnis im Handel das der geringfügigen Beschäftigung ist, Menschen im Handel also zunehmend im Niedriglohnsektor arbeiten, dann ist zusätzlich klar, dass die Kampfbereitschaft nicht steigt, sondern eher sinken wird. Dass die Variabilisierung im Tarifvertrag abgeschlossen wurde, und vor allem: wie sie umgesetzt werden soll, versteht kaum ein BR, kaum ein Beschäftigter und kann nicht hinreichend durchdacht worden sein. Azubis Beschäftigungssicherungstarifvertrag Mehr war nicht drin? Die von den Arbeitgebern geforderte fette Minusrunde wurde tatsächlich abgewehrt. Ebenso wurde das Minimalziel, nämlich den Manteltarifvertrag in seinem Bestand für mindestens ein Jahr zu erhalten, erreicht. Ein weiteres, offensiv von ver.di propagiertes Ziel, wenigstens die Inflationsrate auszugleichen, wurde weit verfehlt. Die Tatsache, dass am Ende des Geldes noch soviel Monat übrig bleibt, wird der Gewerkschaft negativ angekreidet werden. Ohne Not wurde erstmalig eine erfolgsorientierte Zahlung tarifiert. Damit ist die tarifpolitische Kompetenz in Frage gestellt, insofern nicht nur das Vertrauen in die Gewerkschaften, verlässliche, planbare, existenzsichernde Monatseinkommen abzuschließen, nachhaltig gestört ist, sondern auch die traditionelle gewerkschaftliche Aufgabe, nämlich garantierte Mindestbedingungen zu tarifieren, in Misskredit geraten ist. Mit dem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung wurden Öffnungsklauseln (nach unten) unter tarifvertraglichen Bedingungen ermöglicht. Wenn denn solch ein Tarifvertrag überhaupt abgeschlossen werden muss, ist das, was unterzeichnet wurde, ein System von Verfahrensweisen, das bei kluger Handhabung durch ver.di dem Bedürfnis der Beschäftigten nach Beschäftigungssicherung Rechnung tragen kann. Stellen wir jedoch die Betriebe ohne Tarifbindung (ca. 40 Prozent) bzw. Betriebsräte mit ausgesprochen sozialpartnerschaftlicher Prägung oder erpressbare Betriebsräte dagegen, wird das Gefahrenpotenzial deutlich, das durch diesen Tarifvertrag in die Welt gekommen ist. Der - möglicherweise manipulierte - wirtschaftliche Druck, der Wettbewerbsdruck, dem Betriebsräte, Belegschaften und die Gewerkschaft ausgesetzt sind, könnte das gesamte System der Flächentarifverträge im Einzelhandel gefährden. Erste Anläufe deuten exakt in diese Richtung, wie die o.g. Beispiele von Karstadt und real zeigen. Die ohnehin schleichende Erosion des Flächentarifvertrages wird so ohne Not, auch mit Unterschrift der Gewerkschaft, weiter vorangetrieben werden. Damit, dass Azubis völlig vernachlässigt wurden, gibt ver.di ein grottenschlechtes Signal in Richtung junge Beschäftigte und deren Mobilisierungsfähigkeit für künftige Tarifrunden. Mit anderen Worten: Dass Verhandlungskommissionen und auch Tarifkommissionen das Ergebnis der Verhandlungen angesichts der mangelnden Mobilisierungsmöglichkeit der Belegschaften und unter Beachtung der unterschiedlichen Gewichtung der Gegenstände als akzeptabel empfinden, ist nachvollziehbar. Insbesondere, nachdem klar war, dass der Staffelstab weiterer Verhandlungen eben nicht weiter gegeben werden konnte, weil ihn kein anderer haben wollte (aufgrund mangelnder Mobilisierung bundesweit) und auch nicht sollte (die Unternehmerverbände hatten klar gemacht, dass, wenn es kein Ergebnis in Berlin geben würde, es nirgendwo in der Republik eines geben werde). Oder anders, mit den Worten eines Interpreten des Abschlusses: Mehr war bei Verhandlungen nicht drin. Die Alternativen waren ganz einfach: Entweder tarifloser Zustand - und den auch noch aktiv gestalten. Doch wann haben ver.di oder die Ursprungsgewerkschaften im Handel sich jemals wirklich ernsthaft Gedanken darüber gemacht? Oder Unterschrift unter dieses Abkommen, um überhaupt einen Tarifvertrag zu haben. Die Unterschrift unter diesen Tarifvertrag ist zur Zeit Ausdruck des Kräfteverhältnisses im Handel. Dieser Tarifvertrag ist nicht Ausdruck der Stärke der Unternehmerverbände, sondern ausschließlich Ausdruck der Schwäche der organisierten Arbeiterbewegung im Handel. Dass bei der Sicherung der Reallöhne nicht mehr als die erwähnten kümmerlichen ein Prozent für sieben Monate vor dem Komma stehen (Dezember 2006 bis 31. Juni 2007, dann ist der Tarifvertrag wieder kündbar) bei einer Laufzeit von insgesamt 24 Monaten, dass ein Tarifvertrag zur Variabilisierung von Einmalzahlungen von eigentlich notwendigen tabellenwirksamen Gehaltserhöhungen unterschrieben wurde, dass ein Tarifvertrag vorliegt, der eine Öffnung unterhalb des Tarifvertrages ermöglicht, liegt wesentlich daran, dass die gemeinsamen vielfältigen Aktivitäten (weit über 400 Arbeitskampfmaßnahmen bundesweit) nicht ausgereicht haben, wirkungsvolle Stärke vor die Personaleingänge zu bringen. Mit anderen Worten: Wenn die sozialen Besitzstände der Tarifverträge weiterhin erfolgreich verteidigt und noch ausgebaut werden sollen, braucht ver.di-Handel erheblich mehr Aktive und erheblich mehr Kraft aus allen Betrieben des Einzelhandels in allen Tarifregionen. Die Beschäftigten von der Sinnhaftigkeit ihres sozialen Schutzschildes MTV und GTV zu überzeugen, scheint zwar selbstverständlich, stellt aber offenbar zugleich eine schwere Aufgabe dar. »Gleiche Augenhöhe« mit den Beschäftigten muss wieder das Motto werden. Dabei kann es durchaus sein, dass an den Bremsern und Zauderern in den Betriebsräten und Tarifkommissionen vorbei direkt in die Belegschaften hinein agiert werden muss. Kann sein, dass es dort verborgene Kämpfer gibt, die nie eine Chance bekommen haben, gegen die »Fürsten« in den Betriebsrats- oder auch gewerkschaftlichen Gremien zu bestehen. Kann sein, dass ver.di die gewerkschaftliche Kraft auch in den »Apparaten« neu definieren muss. Kann sein, dass das alles schmerzhafte Prozesse bedingt. Es gibt nur keine Alternative dazu. Die Gewerkschaftsbewegung ist sonst bewegungs-, d.h. leblos. Sie wäre tot. Vor allem ohne die jungen Menschen im Handel. Das haben die Hunderttausende Beschäftigte im Handel, die auf sie bauen und vertrauen und die sie als gesellschaftliche Gegenmacht verstehen, nicht verdient. Es muss wieder heißen: Zurück zu den Wurzeln, aber flott. Angesichts der Risiken dieses Tarifabschlusses muss die Diskussion geöffnet werden für die vergessenen oder verdrängten Fragestellungen nach dem Sinn »kollektiver Bettelei«, d.h. die Frage danach, ob man Niederlagen unterschreiben muss, nur um überhaupt einen Tarifvertrag zu haben. Konsequenterweise darf man den Zustand der Tariflosigkeit dann nicht verteufeln, sondern muss darüber nachdenken, ihn als aktive Chance zu nutzen, die Beschäftigten im Handel wieder zu organisieren, zu radikalisieren, zu mobilisieren und zu konfliktorientiertem, gewerkschaftlichem Handeln zu bewegen. Erasmus Grienkohl Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/06 |