letzte Änderung am 13. Jan 2003

LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home -> Diskussion -> Gewerkschaftsstrategien -> Tarifrunde2002 -> Ver.di -> Wuttke Suchen

Leserbrief zu

"Geld wichtiger als Leben? Zu den Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst" von Mag Wompel, erschienen in JW am 10.01.2003

Leider konzentriert sich die gewerkschaftliche "Realpolitik" überwiegend auf magere Lohnforderungen, die im Abschluss wie jetzt im Öffentlichen Dienst deutlich unterboten werden. Es wurde hier ein Abschluss von 4,4 % auf 27 Monate ausgehandelt. Damit kommen wir rein rechnerisch auf eine jährliche Tarifsteigerung von 1,95%. Abgezogen werden  muss noch die jährliche Verlängerung der Arbeitszeit von 0,4 % durch die Streichung eines freien Tages . Daher hätte die große Tarifkommission betreffs "abschlussorientierte Forderung" nicht soviel an Glaubwürdigkeit eingebüsst, wenn sie mit einer 1+x % Forderung ins Rennen gegangen wäre. Wenn es sicht nicht um Verlogenheit handelt, müssen die Verhandlungsführer der Gewerkschaft an einem akuten Gedächtnisverlust leiden. Sie feierten nach der Tarifeinigung sich selbst und redeten den Tarifabschluss schön. "Unter 3%+x  geht nix", das behaupteten ver.di-Chef Bsirske und andere "kühne Verhandlungsstrategen" vor und auch noch während der Tarifrunde.

Die Kolleginnen und Kollegen der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen sind nach Abzug der Abgaben-, Steuererhöhungen und Teuerungsrate  wiedereinmal mit Reallohnverzicht konfrontiert. Schon seit Jahren werden von Teilen der Basis Festgeldforderungen aufgestellt, um die Einkommensentwicklung der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen zu verbessern. Aber die ver.di-Führung hielt an dem alten Dogma fest, eine Prozentforderung zu stellen und ließ es zu, dass weiter die Schere zwischen den unteren und oberen Lohn- und Gehaltsgruppen aufgeht. Das folgende Rechenbeispiel verdeutlicht die Problemlage: Bei einem Bruttogehalt von  1500 Euro bedeuten 4,4 % nur 66 Euro Brutto mehr  und bei 4500 Euro Brutto sind es 198 Euro. Bei letzterem sind auf die Tarifsteigerung keine Sozialabgaben zu zahlen, da der betreffende Angestellte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen liegt. Daher dürften Abteilungs- und Referatsleiter trotz des mageren Tarifabschlusses real mehr im Geldbeutel haben. Führende Gewerkschaftsfunktionäre machen sich mit dieser ungerechten Tarifpolitik verdächtig, Lobbyarbeit in eigener Person zu machen. Sie selbst befinden sich in der oberersten  "Gehaltsliga" und profitieren daher von den Prozentforderungen. 

Fazit ist, dass die defensive aber auch unsolidarische Gewerkschaftspolitik in den eigenen Reihen die Arbeitgeber zu immer dreisteren Angriffen einladen wird. In Berlin wurde bereits der Anfang gemacht: Der Senat ist aus dem Bundesflächentarifvertrag ausgetreten und den Landesbeamten und angestellten Lehrern  wurde ab Januar 2003 eine 42 Stunden Arbeitswoche verordnet. Bund-, Länder- und Kommunen wollen weiter wie in den letzten Jahren den massiven Stellenabbau und ihre Privatisierungspolitik fortsetzen. Einmal mehr wird sich die Einsicht durchsetzen, dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze sichert. "Arbeiten und trotzdem arm" in den Niedriglohngruppen, ein ausgedünnter Öffentlicher Dienst, der kaum noch seine gesellschaftlichen Aufgaben wahrnehmen kann- diese Entwicklung wird weiter durch die fatale Tarifpolitik der ver.di-Führung beschleunigt. Zudem gab der bewiesene Wille der Gewerkschaftsführung einen Streik im Öffentlichen zu verhindern für die Schröder Regierung grünes Licht auch im Jahre Fünf ihres Bestehens die Umverteilungspolitik mit ungebrochener Kontinuität zu Gunsten der Reichen fortzusetzen.      

Es ist zu hoffen, dass der Unmut der Basis nicht in Resignation und Austritten aus der Gewerkschaft mündet. Stattdessen gilt es für die Kolleginnen und Kollegen in den Basisstrukturen aktiv zu werden und sich in die gewerkschaftliche Politik einzuschalten, eigene Forderungen in die Gewerkschaftsgremien einzubringen und den führenden Gewerkschaftsfunktionären kräftig von unten einzuheizen und wenn sie nicht willens sind, sie abzulösen und mit kämpferischen Kolleginnen und Kollegen von der Basis zu ersetzen. .

Die Tarifrunde im Öffentliche Dienst ist noch nicht ganz Geschichte. In Berlin gilt es nun für die 70 000 Senatsbeschäftigen einen Annerkennungstarifvertrag und die Rücknahme der Arbeitszeitverlängerung für Beamte und angestellte Lehrer  zu erstreiken. Es ist nicht zu erwarten, dass der Senat am Verhandlungstisch ohne vorgehenden Streik einlenken wird. Fragwürdig ist, ob eine notwendiger Arbeitskampf durchzustehen ist, wenn die Basis allein das Zepter des Handelns der Gewerkschaftsführung überlässt. Es ist zu hoffen, das die Basisstrukturen sich in die Auseinandersetzung aktiv einschalten und jeden Schritt der Verhandlungsführung kontrollieren. Der Senat hat angedroht die Beamten im Falle der Beteiligung an einem Streik mit .Abmahnungen und Kündigungen zu bestrafen. Dies ist aber kaum machbar, wenn alle Beamte streiken. Die große Tarifkommission hat sich nach den Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst solidarisch mit den Berliner Senatsbeschäftigten erklärt. Wie diese Solidarität konkret aussehen wird, darüber wurde nichts verlautbart. Ein konsequenter Arbeitskampf in Berlin und massive bundesweite Solidaritätsstreiks und Protestdemos könnten in Berlin einen Annerkennungstarifvertrag erzwingen und hiermit würde der Angriff auf den Flächentarifvertrag erfolgreich verteidigt werden. Ver.di, GEW und die GdP hätten die Macht dazu, wenn sie gemeinsam und entschlossen handeln.

Jörg Wuttke
Gruppe sozialistischer Gewerkschafter (GSG) Berlin

LabourNet Germany Top ^