letzte Änderung am 29. Jan 2003

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Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

mit großem Interesse ich habe ich den auf Euren Internetseiten eingestellten Brief vom 14.01.03., der sich kritisch mit dem Tarifergebnis im Öffentlichen Dienst auseinandersetzt, gelesen. Ich gehen davon aus, dass Ihr GewerkschafterInnen ein Diskussionsforum bieten wollt und nehme zur Veröffentlichung "wenn ver.di sich selbst ernst genommen hätte....." wie folgt Stellung:


Tarifrunde 2002/2003 - Kritik muss etwas bewegen

Wolfgang Beigel
ver.di-Mitglied
Klinikum am Europakanal Erlangen

Lieber Hans, lieber Werner, liebe Kollegen/innen.

Die Tarifauseinandersetzung 2002/03 incl. des Ergebnisses darf zu Recht kritisch hinterfragt werden. Die Stellungnahme der Personalräte Werner Lutz und Hans Hoyer muss sich genau dasselbe gefallen lassen.

Zum Ergebnis

Die Ausgangslage hätte dümmer nicht sein können. Aus den vor uns gelegenen Abschlüssen lässt sich ablesen, dass um so weiter sie in die "Konjunkturdelle" gerieten immer magerer wurden. Gleichzeitig lief in allen bürgerlichen Medien eine Gross-Kampagne, die in alle Köpfe, auch in die unserer Mitglieder, die These einhämmerte, dass es im ÖD nichts zu verteilen gebe und dass angesichts der Sicherheit unserer Jobs ein Sonderopfer zumutbar wäre. Hierbei wurde es von der bürgerliche Journalie tunlichst vermieden nachzufragen, warum die Kassen leer sind. Dass die selben Arbeitgeber, die ihre leeren Kassen beklagen am Schalthebel der Macht darüber bestimmen, dass es so ist, wurde nirgends erwähnt. In puncto Jobsicherheit wurde schlicht gelogen.

Von der Ausgangslage her war das Jahr 2000 fast eine Boom-Phase. Und was haben wir damals erreicht. Gab es gegen das damalige Ergebnis innergewerkschaftliche Gegenwehr?

Gemessen an dem sind die 2,4% und Nebengeräusche minus freie Tag etc. ein geradezu optimales Verhandlungsergebnis. Spätestens dann, wenn man die Angleichung im Osten mit einbezieht ist ein Durchbruch erreicht, der vielen von uns fast unmöglich erschien. Der Weg zu einem einheitlichen Tarifvertrag macht auch uns im Westen ein Stück weniger erpressbar.

Ein fatales Signal ist die Duldung der Verlängerung der AZ. Angesichts hoher und weiter zunehmender Arbeitslosigkeit hätte es hier keinen Millimeter Bewegung geben dürfen. Aber sind wir ehrlich. Die weit überwiegende Mehrheit der Koll. im Betrieb (gerade die in den sog. unteren Lohngruppen) hielt diesen Verlust für verschmerzbar. Ein politisches Bewusstsein in Richtung "Solidarische Verteilen der vorhanden Arbeit" gibt es, wenn überhaupt, nur sehr rudimentär.

Zur Verhandlungsführung

Kollege Bsirske hat seine starke Ein-Mann-Show wieder fast perfekt hin gekriegt. Vergleicht man ihn auf diesem Gebiet mit dem Koll. Mai ist er sein Geld wert im wahrsten Sinn des Wortes.

Auf einem völlig andren Blatt steht, dass die grösste Gewerkschaft der Welt ihren Boss so schalten und walten lässt.

Zur Forderung

Vergessen wir nicht, dieses "3plus x" wurde von der überwiegenden Mehrheit getragen. Nach aussen hin hat es unsere miserable Presse zumindest in diesem einen Punkt verbessert.

Wie kommt so etwas zu stande? Zweifellos dadurch, dass sich eine breite Mehrheit der Mitglieder und Funktionäre bei Gründung von ver.di für eine Dienstleistungsgesellschaft und gegen eine politische Gewerkschaft entschieden hat. Ich selbst bedaure dies, kann aber nicht so tun, als wäre daran heute sofort etwas zu ändern. Die richtige Position bei der Forderung muss lauten. "Produktivitätszuwachs plus Inflationsrate plus x". Das "plus x" wäre dann der Teil des Kuchens, den wir erkämpfen können. Eine solche Forderung muss aber auch durchsetzbar sein. Wer immer nur knapp die Hälfte von dem bekommt, was er fordert, macht sich auf die Dauer lächerlich. Hier stellt sich nun die Frage: hätten wir mit einer Forderung von meinetwegen 6% die nötige Stärke gehabt, um einen Arbeitskampf vom Zaun zu brechen und eine solchen Erzwingungsstreik auch mit einem guten Ergebnis zu Ende zu bringen? Wären uns die Mitglieder wirklich gefolgt? Ich wage dies, mit Verlaub, zu bezweifeln.

Zur Taktik

Zu Beginn stellt sich diese Frage, ob man die Sache in der Öffentlichkeit besser hätte vorbereiten können. Ob sich eine Gewerkschaft den Versuch leisten kann, bürgerliche Medien zu kaufen müsste erst noch geklärt werden. Käuflich ist ein Großteil bestimmt.

Auf jeden Fall muss sich ein Verein unserer Grösse überlegen, welche Einflussmöglichkeiten er hat. Hier wäre für Öffentlichkeitsarbeit des Geld bestimmt sinnvoller ausgegeben als für diverse KIBS und ähnliches. Die Sonderausgabe der "Publik" hätte z.B. an alle Haushaltungen gehört. Vorgehen dieser Art wären zumindest einen Versuch wert gewesen.

Am Anfang wurde fast alles richtig gemacht. Von der Zügigkeit und Entschlossenheit der Gewerk. und ihrer Mitglieder waren die Arbeitgeber sichtlich überrascht. Aber Achtung hierbei: Die Bereitschaft zum Warnstreik (der bei uns mehr oder minder Demo-Charakter hat) sagt noch nichts aus über den Willen zum Arbeitskampf.

Ob es richtig war, den Schlichterspruch einseitig zu akzeptieren ist mindestens fraglich. (s.o. Arbeitszeit-Verlängerung) Spätesten hier wurde begonnen, vorsichtig wieder den Deckel auf den Topf zu schieben. Aber auch hier gilt wieder: Wo war der Aufschrei der Betroffenen. Nicht einmal ein Flüstern war vernehmbar. Ob sich diese Taktik in gut 2 Jahren wiederholen lässt? Viele der diesmal zum Arbeitskampf bereiten Koll. werden wohl das nächste Mal nicht mehr so leicht zu mobilisieren sein. Und was ist auf Dauer von einer Gewerkschaft zu halten, die oft bellt (Warnstreik) aber selten beisst (Streik)? Hier gab es taktische Fehler. Diese gilt es zu erkennen und auf zu arbeiten

Spätestens nach dem Schlichterspruch aber stellt sich die Frage nach der Schmerzschwelle

Wie in jedem Arbeitskampf gibt es Angebote und Zwischenergebnisse. Und wie immer stehen wir dann vor der Einschätzung: Wie viel ist durch einen Streik zusätzlich noch raus zu holen? Lohnt sich dies und sind die Koll. dazu bereit?

Das Verhandlungsergebnis entsprach wohl bei der breiten Mehrheit den Erwartungen. Spätestens mit der Tatsache, dass die Angleichung im Osten kommt, hat bei vielen mehr als Zufriedenheit ausgelöst. Wie wichtig dieses Ergebnis ist, zeigt sich dadurch, dass sich die IGM sinngemäss prompt angehängt hat.

Wie widersinnig angesichts von fast 5 Mio. Arbeitlosen eine Erhöhung der AZ ist, wurde unter unseren Mitgliedern nicht diskutiert. In diesem Zusammenhang drücken wir uns seit Jahren schon um die Frage: Warum ist in unserm Tarifbereich die Forderung nach einer AZ-Verkürzung eine Minderheiten-Position? Die wenigen Aktiven, die dafür eintreten, haben es auch in langer Zeit nicht geschafft, ihre Basis zu verbreitern. Warum dann einen Streik?

Es gibt die Einschätzung, jede Organisation und das Bewusstsein ihrer Mitglieder wachse (fast) in jedem Arbeitskampf. Dann müssen aber auch die Gegebenheiten stimmen. Hier kann man die Situation 92 nicht einfach mit der von 03 vergleichen. Den Beweis dafür, wie mächtig wir zugeschlagen hätten, mussten wir (Gottseidank?) nicht antreten.

Ein Arbeitskampf größeren Ausmaßes hätte in unserer Situation (um uns herum warten doch z.B. Privatanbieter nur darauf, die von uns "niedergelegte" Arbeit aufnehmen zu können) auch ein großes Risiko bedeutet. Nicht umsonst haben fast bis zum Schluss die Arbeitgeber einen großen Streik förmlich herbei geredet. War dies Zufall? Oder geraten wir im ÖD zunehmend in eine Position, in der ein großer Streik auch der letzte sein könnte. Angesicht der Erfahrungen in den USA und GB erklärt sich die o.g. Klammer (mit "fast").

Auf keinen Fall kann der Streik als Ersatz für Politik dienen. Inwieweit das Sein das Bewusstsein bestimmt, mag dahingestellt bleiben. Die weitreichende politische Grabesruhe der abhängig Beschäftigten aber ist Fakt. Die von Arbeitslosigkeit Betroffenen und Bedrohten finden sich weder in den Parteien noch in den Gewerkschaften wieder. Eine eigene Organisation gibt es zumindest insofern nicht, als sie das Problem grundsätzlich angehen würde. Die (Noch)-Besitzer von Arbeitsplätzen richten sich in einer Wagenburg-Mentalität ein. Oft gilt in den Betrieben das Motto: Wer zuerst den Kopf hebt, bekommt zuerst eine auf denselben. Bei aller Kritikwürdigkeit dieses Verhaltens - es ist so.

Hier zu meinen, dass ein Arbeitskampf am Bewusstsein und damit am Verhalten etwas verändern könnte, ist nicht nur eine zweifelhafte Einschätzung, es ist ein Spiel mit dem Feuer. Wer meint, ein fehlendes linkes Spektrum über einen Arbeitskampf in die Gewerkschaften und mittelbar in die Politik einbringen zu können, verkennt die Ausgangsposition und sitzt einer gefährlichen Illusion auf. Nie waren die Gewerkschaften die Schule der Partei und die beklagenswerte Entpolitisierung der Gewerkschaften seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist gerade heute nicht durch ein solchen Vorgehen kurz- oder mittelfristig zu korrigieren.

Kritik muss etwas bewegen

Hans und Werner gebührt die Ehre des Versuchs eine Diskussion angestoßen zu haben. Diese sollte an der vielgerühmten Basis zuerst geführt werden. Diese findet sich in den Betrieben in ver.di, und übergeordnet im DGB Die Ebenen einer solchen Diskussion und die Kanäle für Ergebnisse (wenn denn beides zustande kommt) finden sich oft fast von selbst. Das kritiklose Unterzeichenen von Briefen, die an einen Vorstand gehen ist der falsche Weg. Wie leicht verpufft hier wertvolle Energie und versandet eine wichtige Diskussion. Genau das kann aber passieren, wenn die Diskussion in geschlossenen Zirkeln geführt wird. Sie muss gewerkschaftsöffentlich geführt werden und muss ein Ziel haben.

Mit einer freundlichen (oder auch nicht freundlichen) Antwort aus der "Konzernleitung" ist nichts bewirkt. Sollte es zum Aufruf kommen "Kritiker aller Fachbereiche - vereinigt euch" bin ich gern dabei.

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