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Armut trotz Arbeit? Nein Danke!

Tarifverhandlungen im Einzelhandel in Thüringen sind gescheitert

Nach fünfstündiger Verhandlung haben sich die Tarifvertragsparteien im Thüringer Einzelhandel am 20. Juli ohne Ergebnis getrennt. Die Arbeitgeber zeigten keine Kompromissbereitschaft, sondern bestanden auf zwei Nullmonaten und verweigerten die Vereinbarung eines vierten Verhandlungstermins. Die Gesamttarifkommission der Gewerkschaft ver.di lehnte mit einer Gegenstimme das Angebot ab und beschloss, in den nächsten Wochen die Arbeitskampfmaßnahmen bis hin zu Tagesstreiks in der Phase des Sommerschlussverkaufs auszuweiten und die Einbeziehung der KundInnen zu verstärken. Noch immer geht es um die Angleichung der Ostlöhne.

Zu Beginn der Tarifverhandlungen für die ca. 56.000 Beschäftigten des Thüringer Einzelhandels am 13. Juni drohten die Arbeitgeber ihre Politik aus dem Jahr 2000 fortzusetzen und die Einzelhandelsbeschäftigten in den neuen Bundesländern von der Gehaltsentwicklung im Westen abzukoppeln – z.B. boten sie in Sachsen am 28. Mai "Null Prozent mehr Gehalt" und die Einführung von Billiglohngruppen, die auf eine Gehaltskürzung von mehr als zehn Prozent hinausliefen. Obwohl die hbv in Thüringen im letzten Jahr Gehaltsabschlüsse weit unter Westniveau hingenommen hat, wurde der Trend zur Vernichtung von Arbeitsplätzen im Einzelhandel nicht gestoppt; im Jahr 2000 wurden mehr als vier Prozent der Arbeitsplätze abgebaut. Mehr als 46 Prozent der Beschäftigten im Thüringer Einzelhandel sind laut hbv in Teilzeittätigkeit gedrängt worden, was bei einem Gehalt von 1.500 Mark brutto de facto zu "Armut trotz Arbeit" führe. Doch damit nicht genug. Die Arbeitgeber versuchten nun sogar den Altersvorsorge-Tarifabschluss aus dem Jahr 2000 so zu demontieren, dass er für die Sicherung einer zusätzlichen Altersvorsorge absolut unattraktiv und damit von Beschäftigten nicht in Anspruch genommen werde, was darauf hinauslaufe, die Konzernkassen zu entlasten und die Altersarmut zu potenzieren.

"Wenn am 13. Juni die Arbeitgeberverbände in Thüringen keine Angebote machen, die erheblich über der Inflationsrate liegen, wird es auch in Thüringen zu Arbeitskampfmaßnahmen kommen müssen", erklärte der ver.di-Fachbereichsleiter Handel, Angelo Lucifero.

Mehr als 3.000 Einzelhandelsbeschäftigte haben sich in Thüringen in den letzten zwei Wochen an Aktivitäten zur Vorbereitung der Tarifverhandlungen beteiligt. In Betriebsversammlungen, Unterschriften- und Postkartenaktionen haben die ver.di-Mitglieder deutlich gemacht, dass "düstere Wolken über dem Thüringer Einzelhandel" aufgehen würden wenn ihre Forderungen nicht ernst genommen werden.

Am 16. Juli begann die Gewerkschaft ver.di mit einer Welle von Warnstreiks – zunächst im V-Markt Sondershausen, dann in weiteren Unternehmen in Jena und Erfurt. Dem Aufruf zum Warnstreik folgten am 17. Juli – trotz Drohungen von MarktleiterInnen, die Handelsbeschäftigten mit "härteren Bandagen" unter Druck zu setzen, um sie von den Urabstimmungen bzw. den Warnstreiks abzuhalten – zwischen 80 und 100 Prozent der Beschäftigten bei real, extra und Quelle in Erfurt und den Globus-Baumärkten in Isserstedt und Hermsdorf. Mit einer Flugblattaktion und mit verstärkter Einbeziehung der KundInnen will ver.di die BürgerInnen wappnen, sich gegen eine Unternehmenskultur, die die Rechte der ArbeitnehmerInnen mit Füßen tritt und auf soziale Demontage setzt, zu engagieren.

Da ein Scheitern der Verhandlungen am 20. Juli nicht auszuschließen war, führte ver.di parallel zu den Warnstreiks Urabstimmungen durch. Daran haben sich 29 Betriebe mit ca. 3.500 Beschäftigten beteiligt, und 93,2 Prozent davon haben sich für einen Streik entscheiden. Die übrigen Fachbereiche in ver.di haben gegenüber den ver.dianern im Einzelhandel erklärt, dass sie die Arbeitskämpfe durch Solidaritätsaktionen unterstützen werden. Dies stellte für den Verhandlungsführer Lucifero eine gute Basis dar, bei den Verhandlungen nicht jede Kröte schlucken zu müssen. Für ver.di war und ist das Verhandlungsziel nach wie vor: "Keinen Millimeter unter den Westabschlüssen".

Während der Arbeitgeberverband auf Abkopplung des Ostens vom Westen setzte, habe sich ver.di in den Verhandlungen allerdings bemüht, einen Tarifkompromiss hinzubekommen: "Unser Angebot: 2,7 Prozent ab 1. Mai heißt keinen Nullmonat; dafür sind wir bereit, den Einstieg in die Altersvorsorge etwas zu verschieben, was betriebswirtschaftlich erhebliche Einsparungen, für unsere KollegInnen jedoch geringere Negativauswirkungen hätte. Die Arbeitgeber sind auf dem Null-Kurs, nämlich Null Monate und Null Konsensfähigkeit und verweigern sogar die Vereinbarung eines vierten Verhandlungstermins.

Wir werden nun die Warnstreiks ausweiten und zu Tagesstreiks übergehen, um a) die Arbeitgeber wieder an den Verhandlungstisch zu holen und b) ihrer Kompromissfähigkeit etwas Nachhilfe zu geben," so Lucifero.

In den nächsten Wochen wird ver.di die Warnstreiks ausweiten, zu Tagesstreiks aufrufen und mit anderen gesellschaftlichen Initiativen und Gruppen, die ebenfalls nicht akzeptieren wollen, dass die abhängig Beschäftigten in Ostdeutschland wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, Kundenaktionen durchführen. Lucifero stellt klar: "Wir streiken nicht gegen die KundInnen, sondern mit ihnen, nämlich für die soziale Einheit."

NaRa

Dieser Bericht ist erschienen im express, Zeitschrift für Betriebs- und sozialistische Gewerkschaftsarbeit, 6-7/01


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