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Auch wenn sich der badenwürttembergische IG Metallchef Berthold Huber mit seinem Vorschlag einer relativ niedrigen allgemeinen Lohnerhöhung und darauf aufbauenden, von Unternehmen zu Unternehmen auszuhandelnden, »maßgeschneiderten« Erhöhungen (oder eben auch nicht) für diese Tarifrunde nicht durchsetzen konnte: Dieser Ansatz wird uns nicht das letzte Mal beschäftigen. Die Argumentation ist eigentlich aus den Veröffentlichungen der Arbeitgeberverbände bekannt: Da, wie Huber richtig feststellte, die ökonomische Situation zwischen verschiedenen Regionen bzw. Unternehmen innerhalb der Bundesrepublik stark differiert, müsse es möglich sein, flexibel darauf zu reagieren. In einigen Betrieben Baden-Württembergs, dem Einsatzgebiet Hubers, in dem es zudem noch - wenn auch ohne sein Zutun, so doch jedenfalls zu seinem Vorteil relativ gut organisierte und kampferfahrene Belegschaften gibt könnte es nach dieser Logik also zu wesentlich höheren Abschlüssen kommen als etwa im für diese Zwecke vielzitierten Bezirk Küste oder in Niedersachsens Fläche. Unterlegt ist dabei in inverser Form exakt das, was auch dem tarifierten Modell betrieblicher Öffnungsklauseln zugrunde liegt Rücksichtnahme auf die ökonomisch schwächeren Betriebe, ohne die Beschäftigten prosperierender Unternehmen zu gängeln. Nun hat die Forderung nach betriebsnaher Lohnpolitik auch, wie fast alles im Leben, eine Geschichte, und aus der könnte man wissen, was die Probleme und die Voraussetzungen einer betrieblichen Tarifpolitik sind und worum es dabei jenseits von Akkommodation an die ökonomischen Verhältnisse der einzelnen Unternehmen politisch gehen könnte. Denn es streikt sich so schlecht für eine Betriebsvereinbarung, hierzulande, immer noch. Wir dokumentieren in unserer Reihe »Fund- und Schmuckstücke aus 40 Jahren express, für und mit Euch neu gelesen« den Beitrag von Eberhard Schmidt aus express, Nr. 9, vom 15. September 1973.
Dass mit der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, wie sie derzeit in der Bundesrepublik betrieben wird, etwas faul ist, haben nicht erst die spontanen Streiks der letzten Wochen und Monate offenbart. Aber diese Selbsthilfeaktionen von mehr als 100000 Metallarbeitern haben die Problematik zentraler und regionaler Tarifabschlüsse für jedermann sichtbar gemacht. Die Unfähigkeit der zentralen Tarifabschlüsse, die betrieblichen Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen in den Griff zu bekommen, machen einen Kernpunkt der Krise der gewerkschaftlichen Vertretungspolitik aus. Die zutage getretene Schwäche der Gewerkschaft ist nicht das Ergebnis irgendwelcher »radikaler« Agitatoren, sondern Resultat der Vorherrschaft einer autonomen betrieblichen Lohnpolitik, die Betriebsräte und Unternehmensleitungen zum Schaden der Gewerkschaft praktizieren. Allerdings ist dieser Zustand durch deren eigenes Versagen verschuldet. Nach jeder Tarifrunde folgt in diesem System »maßvoller und stabilitätsbewusster« Abschlüsse der Gewerkschaften eine zweite Lohnrunde im Betrieb. Die regionalen Abschlüsse werden von den selben Betriebsräten mitbestimmt, die im Nachhinein den betrieblichen Lohnerhöhungsspielraum auszunutzen gedenken. Hier werden dann je nach Stärke des Betriebsrates und geschickter Unternehmensleitung so genannte »freiwillige Betriebsvereinbarungen« abgeschlossen, die in Krisenzeiten einseitig wieder kündbar sind. Diese zusätzlichen Vereinbarungen, die Tarif- und Effektivverdienste immer weiter auseinanderklaffen lassen, sind nicht das Ergebnis des gewerkschaftlichen Kampfes der Belegschaft, sondern werden in der Regel hinter verschlossenen Türen zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung ausgehandelt. Der Unternehmer schlägt so mehrere Fliegen mit einer Klappe: er bindet den Betriebsrat an sich, indem er ihm »Erfolge« zuschanzt, die dieser nach außen als »hart errungene« verkauft und so seine Wiederwahl zu sichern sucht. Gleichzeitig erhält der Unternehmer mit dieser ihm zur Verfügung stehenden innerbetrieblichen Lohnmasse die betriebliche Hierarchie durch abgestufte Prämiensysteme aufrecht und diszipliniert die Belegschaft durch die Verteilung von Zuckerbrot und Peitsche. Schließlich kann er diese Betriebsvereinbarungen je nach Bedarf wieder streichen, wie es bis jetzt noch in jeder Rezession geschehen ist. Dieses System wird auch dann nicht außer Kraft gesetzt, wenn, wie in den vergangenen Wochen, die Arbeiter sich durch spontane Streiks die Zulagen zwischen den Tarifrunden hereinholen müssen. Im übrigen ist die Zahl der Betriebe, die angesichts der Streiks in der Branche »freiwillig« draufgelegt haben, weit größer als die Zahl der bestreikten Betriebe.
Die Gewerkschaftsführungen haben diese Probleme längst erkannt, aber die Mehrheit in diesen Gremien ist nach wie vor gegen eine Änderung der tarifpolitischen Strategie, die allein die gewerkschaftliche Macht in den Betrieben wieder stärken könnte. Alle Versuche, eine betriebsnähere Tarifpolitik durchzusetzen, wie dies auf jedem Gewerkschaftstag neu versucht wurde, stießen auf beharrlichen Widerstand der Mehrheit der Spitzenfunktionäre. Dabei geht es nur vordergründig um die Argumente, die zuletzt Heinz-Oskar Vetter im »Spiegel« (Nr. 36 vom 4.9.73) ausgebreitet hat und die auch von einigen linken Zirkeln nachgebetet werden. Für Vetter ist betriebsnahe Tarifpolitik ein Widerspruch zur Tradition der Arbeiterbewegung und zur Solidarität in den Gewerkschaften, »denn alle Betriebe haben nicht die gleichen Umsatz- und Gewinnchancen. Arbeiter in Grenzbetrieben kämen dann hoffnungslos ins Hintertreffen.«
Geflissentlich übersehen wird dabei von Vetter die schlichte Tatsache, dass das, was er als Auswirkung der betriebsnahen Tarifpolitik beschreibt, nichts anderes als der bestehende Zustand ist. Arbeiter in Betrieben verschiedener Branchen, Standorte und mit Rentabilitätsunterschieden bekommen heute effektiv sehr unterschiedlich hohe Löhne gezahlt. Die Effektivverdienste, die diese Unterschiede ausdrücken, liegen inzwischen bis zu 40 Prozent über den tariflich zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden vereinbarten Sätzen. Die gegenwärtige gewerkschaftliche Tarifpolitik ändert daran jedenfalls nichts. Das hat seinen schlichten Grund darin, dass unter kapitalistischen Wirtschaftsbedingungen, wie wir sie haben, solche Zustände nicht über die Tarifpolitik korrigierbar, ja nicht einmal abmilderbar sind, wie die Erfahrungen gezeigt haben. Staatlich festgesetzte Einheitslöhne für alle Sparten und Standorte sind nun einmal mit diesem System privaten Unternehmertums nicht vereinbar.
Der zweite Popanz, den Vetter aufbaut, ist ein bewusstes Missverständnis, um betriebsnahe Tarifpolitik zu diskreditieren: »Wenn wir uns darauf einlassen, jetzt ausschließlich Tarifverhandlungen auf die Ebene der Betriebe zurückzuführen, dann würde doch langsam eine neue Klassifizierung der Arbeitnehmerschaft eintreten.« Betriebsnahe Tarifpolitik bedeutet aber gar nicht den ausschließlichen Abschluss von Firmentarifverträgen anstelle zentraler Verträge. So wie die Konzeption einer betriebsnahen Tarifpolitik in den vergangenen Jahren von vielen Gewerkschaftern entwickelt worden ist, bedeutet sie den Versuch, über Öffnungsklauseln im regionalen Tarifvertrag die regionale Ebene mit der betrieblichen zu verbinden, wie es etwa in Italien vorherrschende Tarifpraxis ist. Auf der betrieblichen Ebene werden dann in Zusammenarbeit mit der lokalen Gewerkschaftsinstanz betriebsspezifische Forderungen aufgestellt und notfalls auch durch Kampfmaßnahmen durchgesetzt. Die so erzielten Abschlüsse wären dann allerdings auch tarifvertraglich abgesichert. Die bisherige tarifliche Basis, der regionale Tarifvertrag, wird also nicht fallengelassen, sondern nur erweitert. Die Unterschiede, die zwischen einzelnen Betrieben dabei entstehen, sind nicht größer als die, die bereits bestehen. Nur wird durch die Beteiligung der Mitglieder und Vertrauensleute an der Formulierung und Durchsetzung der tarifpolitischen Ziele ein Prozess eingeleitet, der innerbetrieblich, innergewerkschaftlich und gesamtwirtschaftlich erhebliche Folgen nach sich zieht.
Hier liegen denn auch die eigentlichen Widerstände der Mehrheit der gewerkschaftlichen Spitzenfunktionäre gegen die betriebsnahe Tarifpolitik, die durch die vordergründige Argumentation Vetters nur verdeckt werden. Eine betriebsnahe Tarifpolitik setzt voraus, dass in den Betrieben aus Vertrauensleuten, Betriebsratsmitgliedern und anderen Kollegen betriebliche Tarifkommissionen gebildet werden, die an den regionalen Tarifverhandlungen zu beteiligen sind und in Abstimmung mit den örtlichen Gewerkschaftsgremien Forderungen erarbeiten, die zusätzlich zum allgemeinen Tarifvertrag im Betrieb durchgesetzt werden sollen. Daher fürchten Vorstand und gewerkschaftliche Bezirksleitung eine Schwächung ihrer Machtposition, da sie einen Teil ihrer bisherigen Verhandlungsmacht nach unten delegieren müssten.
Dazu sind sie aber aus zwei Gründen nicht bereit: Zum einen, weil die traditionelle Vertretungspolitik der Gewerkschaften auf die kanalisierten Verhandlungswege festgelegt ist und eine betriebsnahe Tarifpolitik, die gegen den harten Widerstand der Unternehmer durchgesetzt werden müsste, den »sozialen Frieden« in der BRD erheblich stören würde. Eine Zunahme der Streikaktivitäten würde durch die damit verbundene Stärkung der gewerkschaftlichen Vertrauensleute auch die innergewerkschaftliche Demokratie fördern und zu unliebsamer Kontrolle der Spitzenfunktionäre und ihrer Politik durch die gewerkschaftliche Basis führen. Zum anderen wäre die Rücksichtnahme der Gewerkschaftsspitze auf die Stabilitätsbemühungen der Regierung gefährdet. Nicht nur die lohnpolitischen Orientierungsdaten könnten leichter unterlaufen werden, auch die Garantie der Regierung für die private Machtstellung der Unternehmer würde in einem wichtigen Teilbereich der »freien Unternehmerinitiative« in Frage gestellt: bei der unternehmerischen Direktionsgewalt im Betrieb.
Tatsächlich bedeutet betriebsnahe Tarifpolitik aber nur dann eine Schwächung der zentralen gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht, wenn diese Macht wie bisher genutzt wird, nämlich als leere Drohung mit einer 6,8 Millionen-Mitgliederorganisation, von der jeder weiß, dass die vorhandene Macht gar nicht eingesetzt werden kann, weil die Mitglieder weitgehend im Zustand einer passiven Folgebereitschaft gehalten werden. Erst eine lebendige Organisation, bei der sich die Führung auf die Aktivität und das bewusste Handeln ihrer Gliederungen stützen könnte, könnte einen realen Machtfaktor darstellen. (...)
Stattdessen werden aber in den kommenden Tarifauseinandersetzungen in der Metallindustrie von der Gewerkschaftsspitze vor allem kürzere Laufzeiten der Tarifverträge, besondere Kündigungsklauseln und Vorweganhebungen ins Spiel gebracht werden, um einen Teil der Ursachen der spontanen Streikbewegung in den Griff zu bekommen. Es ist mehr als zweifelhaft, ob diese Manöver gelingen werden. (...)
Für die aktiven Vertrauensleute und Betriebsratsmitglieder bleibt weiter der Kampf zur Durchsetzung einer betriebsnahen Tarifpolitik auf der Tagesordnung: in den Tarifkommissionen, in den Vertreterversammlungen und auf der Vertrauensleute- und Betriebsrätekonferenz der IG Metall im Herbst.
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