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»Wo die Ordnung am größten ... ist die Unordnung am nächsten«

von Helmut Schauer

Mit dem Redebeitrag von Helmut Schauer beim express-Jubiläum im November 1987 beginnen wir die versprochene Dokumentation von »alten«, aber deshalb nicht weniger aktuellen Texten aus vierzig Jahren express. Helmut Schauer konkretisiert hier, wie es im damaligen Vorspann hieß, die »kritisch-solidarische Diskussion hinsichtlich der politischen und geistigen Reise, die die Gewerkschaftsbewegung in Zukunft antreten muss«. Auf dieser Reise befinden wir uns immer noch, und nach wie vor sind die hier aufgeworfenen »Richtungsfragen« offen. Helmut Schauer beginnt seinen Beitrag mit einem Rückblick auf die Nachkriegspolitik der Gewerkschaften. Die gewerkschaftliche Linke dieser Zeit lasse sich als Höhe- und Endprodukt einer kapitalismuskritischen Praxis verstehen, die noch relativ ungebrochen an der Perspektive einer »progresssiven Industrialisierung« festgehalten und so zu einer Anhebung des Reproduktionsniveaus beigetragen habe. Diese Praxis sei gescheitert, weil zum einen eine Verknüpfung mit der Perspektive der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse nicht mehr gelungen und daher eine Reduktion auf links-keynesianische Sozialstaatspolitik stattgefunden habe. Zum anderen sei es im Zuge großindustrieller Reorganisationsprozesse zu einer »zustimmenden Distanzierung«, zur Entfremdung der Mitglieder gegenüber ihrer Organisation gekommen. Mit der Frage, wie der daraus resultierenden Krise begegnet werden könne, setzt der im Folgenden dokumentierte gekürzte Beitrag aus dem express 1/88 (S. 14ff.) ein.

 

Emanzipation und solidarische Moral

Die Gewerkschaften werden keine adäquate Antwort auf die Krise finden, wenn sie es nicht schaffen, ihre leitenden Emanzipationsbegriffe praktisch und theoretisch zu erneuern. Dazu gehört an erster Stelle die Erneuerung solidarischer Moral, der Solidarität der Starken mit den Schwachen. Anders müßte die weitergehende Marginalisierung der Krisenfolgen den gewerkschaftlichen Zusammenhang zerreißen, müßten die Gewerkschaften zu eigensüchtigen, unpolitischen Interessenverbänden einzelner Beschäftigungsgruppen werden, die nicht mehr zu einer eigenständigen, gesamtgesellschaftlich orientierten Politik fähig wären. Ein Moment der Wiederherstellung solidarischer Moral liegt jedoch in der Arbeitszeitpolitik der IG Metall, und das macht eben auch die Ausstrahlung aus, die sie inzwischen erreicht hat. Zur Erneuerung der gewerkschaftlichen Emanzipationsbegriffe gehört auch die Zuspitzung der Gewerkschaftspolitik hin zu den individuellen Freiheitsinteressen der Arbeitnehmer. Anders werden die neuen Arbeitnehmergenerationen nicht zu gewinnen sein. Hier stellt die Öffnung der gewerkschaftlichen Diskussion zur individuellen Zeitsouveränität einen, wenn auch bescheidenen Ansatz dar. Diese Erneuerung der Emanzipationsbegriffe ist zuerst auch eine begriffliche, eine geistig-politische Aufgabe. Die sozialstaatlichen Anspruchsnormen wie soziale Gleich-heit, soziale Gerechtigkeit usw. haben nur noch geringe öffentliche Geltung. Sie können aber auch nicht nur einfach aufgewärmt, sie müssen historisch neu begründet werden und das kann nur im Hinblick auf die wachsenden Produktivkräfte geschehen, die dieses System destruktiv verkehrt. Wenn Oskar Negt davon spricht, daß das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht mehr in der alten Weise funktioniere, dann bedeutet das doch wohl, daß diese Produktionsverhältnisse zu einem Zwangszusammen-hang werden, der die wachsenden Produktivkräfte in eine destruktive Richtung treibt. Gerade deshalb müssen wir unsere Emanzipationsbegriffe erneuern.

Sie sind der Modus, in dem wir unsere Ziele konkretisieren können. Hier liegt vor allem für gewerkschaftsinteressierte, auf solidarische Normen verpflichtete Intellektuelle eine Aufgabe, die bisher zu wenig wahrgenommen wird. Alleine können das die Gewerkschaften gar nicht leisten. Ihre Zukunft ist aber unabdingbar an die Wiederherstellung sozialer und politischer Moral – innen wie außen – geknüpft. Die Linke nimmt im allgemeinen den Wertewandel, den Verfall der protestantischen Arbeitsethik und der mit dieser verbundenen repressiven Arbeitstugenden positiv wahr. Aber dieser Verfall hat eben auch eine Kehrseite. Nach der frühen protestantischen Arbeitsethik konnten nur die Leistungen, die Produkte, gottgefällig sein, die zur allgemeinen Wohlfahrt beitrugen. Und das galt ja wenigstens als Anspruch universell, also auch für die Unternehmer. Wie es heute jedenfalls um diese moralischen Grundlagen universeller Verantwortlichkeit bestellt ist, zeigt schon der Zynismus, der auch im Management grassiert. (...)

Eine bloß ökonomistisch orientierte Gewerkschaftspolitik, die sich zu den Arbeitsinhalten instrumentalistisch-neutral verhält, hat dem wenig entgegenzusetzen, wird auf die Dauer im Konflikt zwischen ökonomischen und ökologischen Interessen zerrieben. Die gewerkschaftliche Rechte ist ja längst zu einer »positiven« Produktionspolitik übergegangen, die um kurzfristiger materieller Partikularinteressen willen die kapitalistische Industriepolitik pauschal unterstützt.

 

Gegen den neuen Paternalismus: Selbstbestimmung

Es geht hier nicht nur um Technologie- und Produktionspolitik. Der technokratische Paternalismus, der die Modernisierung trägt, ist dabei, sich selber sozusagen zu einem »sozialen System« auch der betrieblichen Organisation auszubilden, in dem die Arbeitnehmer auf seine autoritär vorgegebenen Ziele positiv verpflichtet werden. Die Arbeitspolitik des klassischen Taylorismus beruhte in hohem Maße darauf, daß die Arbeitnehmer mit ihren Selbstbestimmungs- und Selbstverwirklichungs-Bedürfnissen in Apathie gehalten, daß diese humanen Bedürfnisse aus dem Arbeitsverhalten ausgegrenzt wurden. Hier bahnt sich tatsächlich eine Wende in der kapitalistischen Arbeits-Politik an. Der neue Paternalismus stützt sich einerseits auf die durch die Arbeitslosigkeit gesteigerten Existenzängste der Arbeitnehmer, stellt aber andererseits zugleich positive motivationale Ansprüche, die er durchaus erfolgreich in Qualitätszirkeln und Lernstätten, durch Dezentralisierung der Betriebsstrukturen über eigene Unternehmens-Philosophien, psychologische Vorgaben wie das »positive-thinking« usw. organisiert. Diese Politik sucht nach einem Ausgleich zwischen den steigenden Selbstbestimmungs-Ansprüchen der Arbeitnehmer und der mit der technologischen Modernisierung erst recht noch fortschreitenden hierarchisch-autoritären Funktionalisierung der Arbeitsorganisation. Hier wird kultureller Kitt aufgebaut, der den Laden überhaupt noch zusammenhalten soll. Der neue Paternalismus tendiert zu quasi-feudalen Strukturen, zu einer individualistisch verdichteten Integration, die jede defensive Abwehrpolitik unterläuft. Eine Politik der Gewerkschaften, die in dieser Entwicklung ihre Autonomie sichert, kann meines Erachtens nur aus der Radikalisierung ihrer Arbeitspolitik hin zu den Selbstbestimmungsinteressen der Arbeitnehmer entfaltet werden. Die Gewerkschaften müßten sich konsequent an einem Arbeitsbegriff orientieren, der das Recht jeder Arbeitnehmerin und jedes Arbeitnehmers auf eine Arbeit reklamiert, in der sie ihre Fähigkeiten für einen selbstbewußten Beitrag zum allgemeinen Wohl entfalten können.

Für die philosophische Klärung des Prinzips der Verantwortung kann man heute den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen. Das normale Arbeitsverhältnis verlangt aber immer noch, daß sich die Arbeitnehmer für Produktionsziele verantwortlich machen müssen, die ihnen autoritär vorgegeben werden, an deren Formulierung sie keinen Anteil haben. Diese Unmündigkeit in der Arbeit destruiert heute erst recht die demokratische Beteiligung der Arbeitnehmer an den öffentlichen Angelegenheiten. Die »kopernikanische Wende« von einer instrumentalistischen zu einer qualitativen Arbeitspolitik der Gewerkschaften wäre erst dann vollzogen, wenn sie die sachlichen Arbeitsinhalte, also die Produktionsziele einbeziehen würde. Eine Politik der Humanisierung der Arbeit, die diesem Anspruch wirklich gerecht werden will, wird jedenfalls der Sinn der Arbeit kaum ausklammern können.

Ob eine solche Politik in der Krise eine Basis hätte, ist gewiß fraglich. Aber wir müßten uns auch erst einmal auf die Suche machen. Und wir müßten suchen, wie weit in der Apathie, die der entmoralisierte Paternalismus der etablierten Politik und ihrer Institutionen zunehmend bestärkt, nicht auch kritische Potentiale eingebunden sind. (...) Denn hier ist die moralische Substanz, sind die intellektuellen Fähigkeiten, die nötig sind, um die intellektualisierten Arbeitnehmer-Schichten zu erreichen, die in den neuen und sich entwickelnden Produktionsweisen dominieren.

 

«Politisierung« neu und anders denken

Laßt mich abschließend noch einige Anmerkungen dazu machen, was diejenigen tun können, die sich in der Tradition der gewerkschaftlichen Linken definieren:

1. Oskar Negt hat es allgemein gesagt, und ich will mich dem anschließen, daß es an uns ist, die Tradition zu verteidigen. Wie überall macht sich auch in den Gewerkschaften ein selbstvergessener geschichtsloser Modernismus bemerkbar, der letztlich selbstzerstörerisch ist. Dagegen bleibt festzuhalten, daß die gewerkschaftliche Linke gerade auch in der Nachkriegsära eine Tradition gesellschaftstheoretischer Reflektion ge-bildet hat, deren Niveau und Dignität die heutigen Gewerkschaftsdiskussionen oft weit übertrifft. Kritische Verteidigung dieser Traditionen hätte allerdings auch die statistischen Verkürzungen freizulegen, die schließlich auch zu den Positionen einer »resignativen Produzentendemokratie« geführt haben, auf die Habermas seinerseits seine These vom Absterben arbeitsgesellschaftlicher Utopien stützt.

2. Die Politisierung der gewerkschaftlichen Arbeit vorantreiben. Was heißt das? Nach wie vor sind die gewerkschaftlichen Strukturen, die Modalitäten, in denen in den Organisationen gedacht und gehandelt wird, weitgehend von Anforderungen und Vorstellungen geprägt, die sich aus der Kompromißlogik sozialpolitischen Verwaltungshandelns ergeben. Diese ist auf das Kleinarbeiten gesellschaftlicher Konflikte angelegt und diese Logik hat sich in den Bürokratien eingefressen. Sie macht die Gewerkschaften heute oft hilflos, weil sie sie unfähig macht, die Konflikte »groß« zu machen, sie angemessen in den geschichtlich-gesell-schaftlichen Dimensionen zu interpretieren, in denen sie dann auch ausgetragen werden müßten. Hier bedarf es auch der geistigen Unterstützung und der kritischen Begleitung unabhängiger gewerkschaftlicher Öffentlichkeiten.

Die Reaktivierung zu einer radikaldemokratischen Politik solidarischer Reformen erfordert eben auch tiefgreifende gewerkschaftliche Reformen. Die Massenorganisationen sind wie andere Institutionen einem nachhaltigen Erosionsprozeß ausgesetzt. Deshalb genügt es allerdings auch nicht, die »Öffnung der Gewerkschaften« zu verlangen, wie es heute viele Kritiker tun. Vielmehr käme es darauf an, die inneren Widersprüche, die oft bürokratisch stillgestellt werden, gewissermaßen hereinzunehmen, auf den Tisch zu bringen und zum Motor solidarischer Selbstverständigung zu machen.

Die Gewerkschaften stellen sich heute zu wenig als Medien dar, in denen differenzierte Ziele, in denen Antworten auf komplexe Problemlagen begründet, geklärt, diskutiert werden. Es ist für mich schwerlich vorstellbar, wie die Gewerkschaften für die modernen Arbeitnehmer-Generationen der Kristallisationspunkt ihrer sozialen Selbstverständigung werden können, wenn entschiedene Positionen nicht auf der offenen, diskursiven Anstrengung widersprüchlicher Interessen und Motive begründet werden. Nötig ist der Aufbau einer Kultur der solidarischen gewerkschaftlichen Kontroverse. Und dafür wäre schon viel Raum gewonnen, wenn nur der Zeitdiebstahl abgebaut würde, den heute Routine und professioneller Zynismus in den gewerk-schaftlichen Gremien oft verüben.

Der gewerkschaftliche Aktivismus, der ihre Politik lange Zeit vorangetrieben hat, dürfte dem Sog des technokratischen Funktionalismus kaum gewachsen sein, der sich mit der Modernisierung verstärkt. Dagegen wird die gewerkschaftliche Reform nur dann wirksam werden können, wenn sie nicht sozialtechnische Effizienz, sondern eindringendere politische, sinngerichtete Reflektion zum Ziel hat. Dazu gehört auch ein ent-hierarchisierter, demokratischer Arbeitsstil.

4. Gewerkschaftliche Reaktivierung verlangt heute auch – grob gesagt – die Vermittlung zweier Kulturen. Die Kultur des Massenkonsums hat die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften nachhaltig beeinflußt und mitgeprägt. Ihr steht heute eine Kultur der horizontalen Interessendifferenzierung, stehen die auf konkrete lebenspraktische Bewegungen bezogenen Alternativbewegungen gegenüber, zu denen sich ja auch dieser Kreis hier überwiegend zählen würde. (...)

In diesem Zusammenhang wäre auch die »zweite Organisationsbasis« der Gewerkschaften außerhalb der Betriebe, praktisch die Aufgaben der Ortskartelle zu diskutieren. Die Gewerkschaften können und sollten die neuen sozialen Bewegungen erst gar nicht zu integrieren suchen. Nötig wäre die Entwicklung einer Kooperationspolitik, die Bündnisse schafft (...)

5. Dringlich ist der Aufbau einer unabhängigen kritischen Öffentlichkeit. Die Gewerkschaften können unter den heutigen Bedingungen nur soweit eine politisch-geistige Kraft sein, wie sich in den »Arbeitsöffentlichkeiten«, zu denen ich eben auch das gesamte Bildungswesen, den Wissenschaftsbetrieb, die Medienproduktion usw. rechne, eigenständige gewerkschaftliche Positionen entwickeln, wie also sozusagen vor Ort definiert wird, was Gewerkschaftspolitik heißen soll. Ich habe den Eindruck, daß sich mit der Arbeitszeitpolitik auch das Interesse für gewerkschaftliche Fragen in den Bildungseinrichtungen, an den Hochschulen usw. wieder verstärken könnte. Aber hier müßten eben die Fragen der Neubegründung gewerkschaftlicher Politik viel mehr diskutiert und bearbeitet werden. Ich denke, daß aus diesem Blickwinkel auch die Aufgaben des express zu diskutieren wären. Dieser könnte – auch im Hinblick auf die Arbeitsöffentlichkeiten der Wissens- und Informationsproduktion, die wir anders als etwa die Produktions- und Dienstleistungsbetriebe zu wenig als gewerkschaftliche wahrnehmen, als kritisches Scharnier in den Organisationen und ihrer Politik wirken. Die Gewerkschaften haben gewiß – wie eigentlich alle Großorganisationen – eine sie kritisch begleitende, sachkundige und unabhängige Öffentlichkeit nötig, die unbequeme Fragen aufwirft. Dafür genügt die etablierte überwiegend neokonservativ geprägte Öffentlichkeit nicht. Es geht heute um die Neubegründung einer gewerkschaftlichen Politik, die den weitreichenden historischen Veränderungen gerecht wird, mit denen wir konfrontiert sind. In dieser Situation könnte die Konzentration auf Entlarvung und Kritik der Apparate, die weiß Gott dennoch nötig sind, leicht zum Rückzug auf trügerische Selbstgewißheiten, zu einer Falle eigener Unproduktivität werden.

Der Reformdruck ist da. Die Orientierungsprobleme, die durch die Arbeitszeitpolitik überbrückt waren, nehmen so wie überall zu – und das mit jeder Zuspitzung der Krise, über deren Aussichten noch gar nicht die Rede war. Bei manchen Gewerkschaftsveranstaltungen fällt mir immer einer der Sätze ein, mit denen Brecht in den »Flüchtlingsgesprächen« die Dialektik erklärt: Wo die Ordnung am größten ist, ist die Unordnung am nächsten. Die Austrocknung gewerkschaftlich-politischer Diskussionskultur ist beängstigend. In den Führungsetagen wird allmählich eine neue Generation dominierend, die das traditionelle Pathos verloren hat, die anders spricht und weniger in politischen Generalisierungen denkt.

Jetzt, in der nächsten Zeit dürfte sich entscheiden, wohin geistig und politisch die Reise der Gewerkschaften geht. Diese Entscheidung wird nicht allein in den Organisationen getroffen. Die gewerkschaftliche Linke hat in den letzten Jahren, das müßten wir uns eingestehen, auch nicht gerade mit weitertreibenden neuen Impulsen geglänzt. Das müßte anders werden, wenn das Niveau gewerkschaftlicher Politik und Reflektion erreicht werden soll, das sie gegen den Sog zum funktionalistischen Krisenmanagement resistent macht.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/02


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