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Updated: 18.12.2012 15:51 |
An der Realität vorbei Kommentar zur verdi-Tagung am 15. Mai 06 Am 15.5.06 fand in Berlin, im Architekturzentrum, eine Tagung zur Programmdebatte in ver.di statt. Auf dem ersten Bundeskongress der neu gegründeten Gewerkschaft verdi 2002 wurde vereinbart, sich bei dem nächsten, im Jahr 2007, ein Programm zu geben. Ein erster Entwurf existiert bereits seit dem 20.7.2005, jedoch wurde dieser seither ruhen gelassen, da es aus Gewerkschaftsreihen, berechtigterweise, starke Vorbehalte gab. Nun also die Konferenz vom 15.5.2006. Nach Worten des ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske soll die Gewerkschaft primär für "fundamental moralische Werte" eintreten. Das liest sich im aktuellen DGB-Programm von 1996, sowie dem Tarifpolitischen Programm der ötv von 1997 noch anders. In ersterem vertreten sie die "...Interessen der Menschen, die im Arbeitsleben stehen..." und sind "...Interessensorganisationen (die gebildet wurden) um durch Zusammenhalt wirksame Gegenmacht gegen Arbeitgeber- und Kapitalmacht zu schaffen ..." und im nächstem ist es "...die wichtigste gewerkschaftspolitische Aufgabe der Gewerkschaften, (sich) für eine gerechtere Verteilung der Einkommen, aber auch der finanziellen Belastungen einzutreten, um eine weitere Umverteilung von unten nach oben zu verhindern ." Hier wäre nun zu diskutieren, ob Gewerkschaften ein werteorientierter Klub sind, oder eine Organisation, die sich für die Interessen der Arbeitnehmer und Erwerbslosen einsetzt. Der von Hans-Jürgen Arlt aufgeworfenen Frage, dass sich Gewerkschaften nicht an der "Realitätstüchtigkeit" verlieren dürften ist entgegenzuhalten, dass die Beschäftigten sehr wohl wissen, wie die Realität aussieht und dass sie dieses in dem 9-, beziehungsweise 14-wöchigen Arbeitskampf eindrucksvoll bewiesen haben. Die Frage nach den Produktivverhältnissen hat den Arbeitnehmer/innen bewusst gemacht, dass "außerhalb der Realität" Dinge ablaufen, die es zu erkämpfen gilt. Wenn neuerdings das Kapital, wie Frank Bsirske konstituiert, als "Selbstverwirklichungschance" angesehen wird, so zielt dieses an der Realität vorbei, dass sich solch ein Privileg, angesichts der hohen Massenarbeitslosigkeit, nur die wenigsten real leisten können. Teile der Arbeitnehmer/innen, welche dieses theoretisch für erstrebenswert halten, hängen immer noch der Utopie nach, dass ein sozial gerechter Kapitalismus dieses ermöglichen könnte. Illusionen, wie Hansjörg Herr sie anstimmte, dass die Inflationsrate in Deutschland noch sehr niedrig sei (was angesichts der letzten Monate schon sehr gewagt ist) und dass Tarife europaweit einheitlich ausgehandelt werden sollen, klingen zwar politisch korrekt, haben aber mit der Realität des Kapitalismus und Neoliberalismus nicht im entferntesten etwas zu tun. Hier klingt noch mal der fromme sozialdemokratische Wunsch nach Befriedung der Interessen durch. Bernt Keller empfahl ver.di einen neoinstitutionellen Weg in Bezug der Mitgliederinteressen und der Mitgliedergewinnung. Dass die Arbeitnehmer/innen sich aber nicht mit Lockangeboten, sondern durch Taten, wie den letzten Streik, gewinnen lassen, scheint ihm wohl verborgen gewesen zu sein. Allein die Tatsache, dass im ersten Quartal 2006, während des Streiks, 25 000 neue Mitglieder in ver.di eingetreten sind, dürfte wohl den Mitgliederschwund in den Monaten und Jahren davor im Vergleich hinreichend belegen. Nur auf das amerikanische "organizing" zu verweisen, verschleiert die Tatsache, dass sich amerikanische Gewerkschaften nicht nur für billige Versicherungen und Reisen sondern auch für gewerkschaftliche Interessen einsetzen. Angesichts solcher Konferenzen lässt sich einigermaßen klar ablesen, dass die meisten Gewerkschaftsfunktionäre und -Sekretäre ihren Frieden mit den herrschenden Verhältnissen gemacht haben. Während Arbeitskämpfe, die sie nicht verhindern konnten, geben sie sich in ihren Reden kämpferisch und progressiv, auf Verhandlungsbasis reduziert sich jedoch ihr Potenzial auf willige, ausgehandelte Kompromisse, um den Status Quo nicht zu gefährden. Ein Gewerkschaftsprogramm, so wie dieser Entwurf von ver.di, sollte jedoch nicht darauf abzielen, sich objektiven Gegebenheiten anzupassen, sondern sollte zukunftsweisende und fortschrittliche Elemente, zum Wohle der Arbeitnehmer/innen, beinhalten. Alexander Brandner |