EUROPÄISCHE UNION
In Belgien und Italien haben Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften soeben einen Sozialpakt abgeschlossen. Deutschland, das Aushängeschild der EU, tut sich paradoxerweise schwer, einen solchen Vertrag unter Dach und Fach zu bringen, obwohl das "Bündnis für Arbeit" ein zentrales Wahlkampfthema der SPD bei den Wahlen von Frühjahr 1998 war. Die Drohung der 4,2 Millionen Metallarbeiter, zur Durchsetzung von Lohnerhöhungen einen allgemeinen Streik auszurufen, hat den Abschluß eines ähnlichen Abkommens verzögert.
François Vercammen
Die Absicht der Unternehmer, die Lohnkosten in den Griff zu bekommen und die Gewerkschaftsapparate dabei einzubinden, ist nichts Neues. Unmittelbar nach dem Krieg waren auf der Grundlage der nationalen Einheit, die im Widerstand besiegelt worden war, Abkommen abgeschlossen worden, in denen die ArbeiterInnen rundweg zur Aufgabe ihrer Forderungen "eingeladen" worden waren.
In den fünfziger und sechziger Jahren sprach man von "Sozialplänen". Die Situation hatte sich radikal verändert. Regierungen und Bosse versuchten, in Einklang mit den wirtschaftlichen Zielen und Vorhersagen ("Wirtschaftsplänen") die Gewerkschaftsbürokratie zur aktiven Zusammenarbeit zu gewinnen. Einerseits wurden unter Obhut des Staates finanzielle und materielle Ressourcen aufgebracht, um das Wirtschaftswachstum anhand von Fünf- oder Zehnjahreszielen anzukurbeln. Andererseits sollte die Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen allgemein von der Erhöhung der Produktivität abhängen. Da es eine Phase des starken Wirtschaftswachstums war, fiel auch für die Arbeitswelt etwas ab. Die Gewerkschaftsautonomie stand schon damals auf dem Spiel, wenn auch die Vertragsverhandlungen einen gewissen Freiraum genossen.
Seither hat sich der politische, wirtschaftliche und soziale Hintergrund stark gewandelt. Die außerordentlich scharfe sogenannte "neoliberale" Offensive war, was die sozialpartnerschaftlichen Beziehungen betrifft, von einem Kurswechsel begleitet. Anstatt mittels kleiner Entgegenkommen die Zusammenarbeit in den Vordergrund zu stellen, drängten die Unternehmer die Gewerkschaften mit Unterstützung der Regierungen zurück und lähmten die Verhandlungsmechanismen auf Führungsebene, die sogenannte konzertierte Aktion, handelten immer mehr Kollektivverträge dezentral aus und schränkten die gewerkschaftliche Aktivitäten in den Betrieben ein, sofern sie nicht völlig unterbunden wurden (wie unter Thatcher).
Hinter diesem Kurswechsel stand der Versuch, den Status der ArbeiterInnen aufzuweichen und die Arbeitsabläufe zu flexibilisieren. Die Reaktion darauf fiel halbherzig aus. Zwar gab es in Belgien (zwischen 1979 und 1987 sowie 1992) und Italien (zwischen 1992 und 1994) gewaltige, breit getragene Arbeitskämpfe, an denen sich auch der Privatsektor massiv beteiligte. Doch sie endeten in einer schweren Niederlage, die vor allem der Gewerkschaftsbürokratie anzulasten ist. So ist es kein Zufall, daß gerade in diesen beiden Ländern Sozialpakte ordnungsgemäß abgeschlossen werden konnten. In Deutschland konnte sich dagegen Kanzler Kohl sogar erlauben, ein Angebot der IG Metall auszuschlagen, die den Abschluss eines Bündnisses für Arbeit vorschlug.
In allen EU-Ländern verschließen die Führungen der Gewerkschaftsapparate die Augen vor der Unternehmeroffensive in den Betrieben und beteiligen sich je nach Land sogar aktiv am Abbau des Wohlfahrtsstaates. Auch von den holländischen Gewerkschaften wurde diese Politik konsequent mitgetragen. Alle klammerten sich an die Sicht der EU, die den Euro als einen Schritt hin zu einem sozialen Europa präsentierte. Damit rechtfertigten sie die Aufgabe jeglicher Autonomie in den Forderungen und in der Mobilisierung und tun dies immer noch.
Man kann sich fragen, warum das Thema der Sozialpakte erneut an Bedeutung gewinnt, obwohl diese eine Wiederaufnahme der Verhandlungen auf Spitzenebene zwischen den Sozialpartnern bedeuten und damit die Rolle der Gewerkschaften indirekt wieder legitimieren. Drei Gründe sind von Bedeutung. Erstens hat die Führung der Gewerkschaftsbürokratie überall ausnahmslos bewiesen, daß man ihr in der Frage der Prioritätensetzung vertrauen kann. Sie unterstützte die Einführung des Euro und die Umsetzung der Konvergenzkriterien (die Begrenzung der Staatsdefizite auf drei Prozent des BIP), auch wenn sie gegen den Stabilitätspakt "protestierte", der die Kriterien noch enger faßte und auf ein Prozent des BIP festlegte. Dennoch können sich Unternehmer und Regierungen nicht in Sicherheit wiegen und müssen gegebenenfalls auf die Unterstützung der Gewerkschaften zählen können. Das hat die französische Sozialbewegung gegen die antisozialen Pläne der Regierung Juppé von November/Dezember 1995 gezeigt.
Zweitens würde eine langsameres Wirtschaftswachstum oder eine Rezession die sozialen und politischen Spannungen sicherlich verschärfen und könnte zu unvorhersehbaren Problemen führen. Schließlich spricht auch ein struktureller, das heißt institutioneller Grund, der direkt mit der EU zusammenhängt, dafür. Verkürzt gesagt verlangt der budgetäre [haushaltspolitische] Stabilitätspakt "logisch" nach einem sozialen Stabilitätspakt. Die Währungsunion geht einher mit einer strengen Disziplin im Bereich der Staatshaushalts, der Preisinflation und der Zinsraten (nachdem mit der Einführung des Euro die Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen weggefallen sind). So konzentrierte sich die ganze Aufmerksamkeit plötzlich auf die Arbeit. Das führte natürlich dazu, daß die gesamte Last der Gleichgewichtsverlagerungen, der Strukturanpassungen und des Sozialdumpings zwischen den Mitgliedsländern der EU auf die Arbeitswelt abgewälzt wird. Hier soll die Flexibilität voll greifen können. Das birgt jedoch auch Gefahren. Denn während die Budget-, Preis- und Währungspolitik in Wirklichkeit der Europäischen Union obliegt, sind die nationalen Regierungen nach wie vor dafür verantwortlich, "den Klassenkampf in Griff zu bekommen".
Kaum war im November 1996 in Dublin das Prinzip des Stabilitätspaktes gutgeheißen worden, kam die Idee der Sozialpakte auf. Im Juni 1997 wurden sie in Amsterdam definitiv befürwortet und als Anhang in den Vertrag aufgenommen. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, die Beschäftigungspolitik der Mitgliedsstaaten zu koordinieren. Jede EU-Regierung legt den anderen Regierungen jährlich "ihren" Beschäftigungsplan vor, der zuvor von der Kommission zur Kenntnis genommen wird. Dieser Plan ist durch die Maastricht-Kriterien, den Stabilitätspakt und die in den Vertrag von Amsterdam integrierten Kapitel über Beschäftigung stark eingeengt.
Im politischen und wirtschaftlichen Kontext des kommenden Jahres könnte sich das als eine explosive Mischung erweisen. Die soeben in Belgien und Italien abgeschlossenen Sozialpakte antworten genau auf diese Gefahr, indem sie die Rolle der Gewerkschaftsspitze stärken, die sich aktiv dafür einsetzt, die gesellschaftliche Stabilität zu gewährleisten.
Aus: Inprekorr 331
Übersetzung aus dem Französischen: Birgit Althaler Quelle: Inprecor Nr. 433
François Vercammen ist Mitglied des Vereinten Sekretariats der IV. Internationale