Der Zustand der Gewerkschaft OETV ist ein Graus: Mitgliederschwund, ein sich mehr und mehr von der Realitaet verselbstaendigender Apparat, die Herausbildung einer satten Wagenburgmentalitaet der (Noch-) ArbeitsplatzbesitzerInnen gegen die schon und immer noch Arbeitslosen, die Preisgabe grundsaetzlicher gewerkschaftlicher Positionen in der Tarifpolitik und die schleichende Anpassung der Bildungsarbeit an den Zeitgeist. Die sind nur die krassesten Auswirkungen einer Entwicklung, die die Organisation seit geraumer Zeit erfasst hat. Diese droht die Gewerkschaft OETV an den Rand der Bedeutungslosigkeit zu bringen.
Der anhaltende Mitgliederschwund ist nicht -wie behauptet- einseitig und wesentlich in der steigenden Arbeitslosigkeit begruendet. Er ist hausgemacht. Er ist Ausdruck der Tatsache, dass die Gewerkschaft OETV ihrer Funktion als Interessenvertretungsinstrument der auf abhaengige Beschaeftigung Angewiesenen nicht (mehr) gerecht wird: wofuer soll ich einen nicht unerheblichen Mitgliedsbeitrag entrichten, wenn meine Organisation offensichtlich nicht in der Lage ist, die bestehende Realitaet positiv zu veraendern?! Wofuer soll ich mich engagieren, wenn sich meine Gewerkschaft mit der Rolle einer "Gestaltungsmacht" zufriedengibt statt Gegenmacht zu sein?! Und dies angesichts eines Zustandes, in dem sich die 2/3-Gesellschaft mehr und mehr verfestigt. Nicht der Trend zur "Vervielfaeltigung der Moeglichkeiten" ist wesentliches Merkmal der gegenwaertigen gesellschaftlichen Entwicklung. Vielmehr ist es die Alternative, "(noch) dazu zu gehoeren" oder aber "im Abseits" zu stehen.
Der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital ist kein "ueberholtes Erklaerungsmuster". Er stellt sich im Gegenteil mehr und mehr als das heraus, was er in der kapitalistischen Gesellschaft schon immer war: das entscheidende und bewegende Moment. Das kritiklose Uebernehmen der herrschenden Behauptung von der "Pluralisierung und Liberalisierung" laehmt die Gewerkschaft OETV in ihren Analyse- und Handlungsmoeglichkeiten. Hierdurch wird das wesentliche gewerkschaftliche Grundprinzip der Solidaritaet zugunsten von Ellenbogenmentalitaet und egoistischem Individualismus preisgegeben.
Die Gewerkschaft OETV laesst die Durchloecherung des Grundsatzes ueber den Flaechentarifvertrag zu. Sie schwenkt schrittweise auf die Arbeitgeberlinie der untertariflichen Einstiegsentlohnung ein. Sie springt unter Preisgabe der formulierten Mindeststandards auf die arbeitgeberseitige Lohnoffensive auf. Damit hetzt sie Belegschaften gegen Belegschaften. Sie bringt Betriebs- und Personalraete in unmoegliche Situationen gegenueber den KollegInnen. Sie beteiligt sich an der Installierung der Zweiklassengesellschaft in den Betrieben. Die fuehrt letztlich zur Verabschiedung von dem Grundsatz, dass die Starken auch fuer die Schwachen in der Organisation einstehen. Statt dessen wird im Zuge des Einschwenkens auf die nationalistische "Standort-Argumentation" der Arbeitgeber das simple Prinzip "jedem das Seine" zur Maxime erhoben. Die Orienrtierung auf mehr und mehr defensive Forderungen in der Tarifpolitik, die von den Vertrauensleuten in den Betrieben kaum noch "verkauft" werden koennen, ist katastrophal fuer die Organisation. Hinzu kommt die Selbstkasteiung des Tarifsekretariats auf Hauptvorstandsebene infolge rein technokratisch-buerokratischer Erwaegungen. Dies schwaecht die Gewerkschaft OETV in ihrer Wirkung nach aussen und schadet der Weiterentwicklung ihres kollektiven Selbstverstaendnisses.
Eine offene und ehrliche Aufarbeitung der skandaloesen Fehlentscheidungen und Massnahmen waehrend der Durchfuehrung und insbesondere beim Abbruch des 92'er Streiks hat in weiten Teilen der Organisation nicht stattgefunden. Die dringend erforderliche Demokratisierung der Strukturen wurde in einer aufgeblasenen, von oben uebergestuelpten und zu Tode durchorganisierten "Reform-Debatte" erstickt. Sie wurde in einem wohldurchdachten Abstimmungswirrwarr auf dem o.a.Gewerkschaftstag zu Grabe getragen. Die in der Gewerkschaft OETV im wesentlichen von hauptamtlichen (Bildungs-) SekretaerInnen angestossene Diskussion um die "Professionalisierung der Bildungsarbeit" laeuft allen gewerkschaftlichen Grundsaetzen entgegen. Sie ist Ausdruck eines Prozesses, der den Erfahrungsschatz betrieblicher FunktionaerInnen in der taeglichen, konkreten gewerkschaftlichen Auseinandersetzung durch die "Segnungen" der Erkenntnisse buergerlicher Psychologie und Paedagogik ersetzen will. Dabei wird "Bildung" zum Selbstzweck individueller Persoenlichkeitsentwicklung. Sie wird aus dem notwendigen Zusammenhang von gewerkschaftlicher Bildungs- und Betreuungsarbeit gerissen.
In Erwaegung der beschriebenen Entwicklungen ist es an der Zeit, die vorhandenen oppositionellen Kraefte in der Gewerkscahft OETV als Plattform in der Organisation zusammenzufuehren und zu organisieren. Nicht, um die Spaltung der Organisation zu betreiben, sondern, weil wir uns unsere Organisation als Kampfinstrument in der herrschenden Realitaet nicht kaputt machen lassen! Der weiteren Preisgabe gewerkschaftlicher Grundpositionen gilt es, auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Organisation den gewerkschaftlich entschiedenen und organisierten Widerstand entgegenzusetzen. Der Forderung, die Gewerkschaft OETV wieder zum "Erlebnisraum" zu machen, stimmen wir voll zu. Aber nicht im Sinne eines postmodernen individualistischen Erlebens "neuer Werte und Wirklichkeiten in anderen Raeumen". Wir fordern die Rueckbesinnung auf den ureigensten Sinn gewerkschaftlicher Organisierung: Solidaritaet im gemeinschaftlichen Kampf fuer das gemeinsame Ziel.
Hierzu gehoert in der gegenwaertigen Situation insbesondere auch die Oeffnung der Organisation fuer die arbeitslosen KollegInnen und die Einbeziehung derer Interessen in die Strategie und Politik der Organisation. Unser Ziel bedeutet: Gegenmacht! Unser Prinzip heisst: Solidaritaet! Unsere Strategie ist: antinational!
Aachen, 1996
Erstunterzeichner: Manfred Engelhardt, Personalratsvorsitzender des Studentenwerks Aachen und 22 weitere OETV-Personalraete, Vertrauensleute und Aktivisten. Kontakt: Manfred Engelhardt, Freunder Landstr. 100, 52078 Aachen, Tel 0241-525587.