Fruits of Labour*

Rassismus, Migration und Legalisierung von "Illegalisierten"
Von Kirsten Huckenbeck

 

"Entwicklung von Bewegung mit nicht-organisierten ArbeiterInnen" – das war neben dem Schwerpunkt "Neue Herausforderungen und neue Strategien im Betrieb" die zweite große Klammer, unter der auf der 4. Internationalen TIE/express-Konferenz eine Reihe verschiedener Problembereiche analysiert, aber auch "real existierende" Organisierungsansätze vorgestellt und diskutiert werden sollten, die sich alle um das eine, zentrale Phänomen gruppieren lassen: die Erosion bzw. das Fehlen "traditioneller" gewerkschaftlicher Vertretungsstrukturen.

Worauf dieser "lag of organisation" zurückzuführen sei und was entsprechende Antworten auf dieses Problem sein könnten, markierte jedoch Differenzen zwischen und in den einzelnen Arbeitsgruppen. Denn ob es sich eher um das durch technologisch-ökonomischen Strukturwandel bedingte Entstehen neuer, gewerkschaftsfreier Branchen oder Betriebe, um eine in Kauf genommene ‘Nebenwirkung’ politisch-organisatorischer Prioritätensetzung der Gewerkschaften selbst, das Problem der Free Trade Zones oder Export Processing Zones mit ihren staatlich oder supranational vereinbarten arbeitsrechtlichen Ausnahmeregelungen und Steuerbegünstigungen zur Ansiedlung von in der Regel gewerkschaftsfreien Unternehmen, ob es sich um "systematische" Grenzen und "blinde Flecke" alltäglicher Gewerkschaftspraxis oder um die Konsequenz unternehmerischer sowie politischer Repression handelte, all das stellt unterschiedliche "Ausgangspositionen" dar, die auch für die Organisationsvorstellungen und die politische Praxis der Gewerkschaften bzw. Gewerkschaftsderivate von Bedeutung sind. Ob am Ende dann noch das Modell einer Gewerkschaft "westlichen Typs" mit einer mehr oder weniger strikten Trennung zwischen ökonomischer und politischer Interessenvertretung steht oder ob sich dabei nicht auch Organisationen neuen Typs entwickeln mit einem breiteren Verständnis dessen, was ihr politisches Mandat sei, das war eine spannende Frage quer durch die Arbeitsgruppen dieses Themenblocks.

Im Einzelnen ging es dabei um die Ansätze einer "community-orientierten Gewerkschaftsarbeit", wie sie VertreterInnen der Black Workers for Justice in Atlanta oder des Latino Workers Center in New York als Konsequenz aus ihren jeweiligen Erfahrungen mit den direkten und indirekten Auswirkungen des Rassismus und der Arbeitsmigration in den USA vertraten (AG 1), um "Selbstorganisierung" von vor allem Frauen in den mexikanischen Maquilas und in den Freihandelszonen Sri Lankas (AG 2), um "Gewerkschaften als soziale Bewegung" – eine Vorstellung, die die Arbeit der französischen KollegInnen von der SUD Rail sowie US-amerikanischer Mitglieder der United Electrical, Radio and Machine Workers (UE) mit MigrantInnen, Erwerbslosen und ungeschützt Beschäftigten prägte (AG 3) –, um Interessenvertretung unter den Bedingungen politischer Repression in Südkorea, der Türkei oder Mexikos (AG 4) sowie um die Neubestimmung von Gewerkschaften in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion (AG 5).

Für alle Arbeitsgruppen gab es einen gemeinsamen Katalog strukturierender Fragestellungen. Gefordert waren u.a. eine Erläuterung des jeweiligen politischen bzw. organisationalen Selbstverständnisses der Gruppen und ihrer Hauptarbeitsgebiete, eine Einschätzung der Beziehungen zwischen neueren und etablierteren Teilen der Arbeiterbewegung sowie der Bedeutung von neuen und alten Spaltungen, z.B. hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses oder rassistischer Konstruktionen. Erfahrungs- und erwartungsgemäß fielen die Antworten recht unterschiedlich aus. Dies zeigt sich besonders deutlich in der ersten Arbeitsgruppe, in deren Zentrum die Ansätze der Black Workers for Justice (BWFJ) und der VertreterInnen des Latino Workers Centers standen.

"Die Globalisierung hat mannigfaltige Verbindungen geschaffen, und ihre Auswirkungen wurden – auch von linken GewerkschafterInnen – eingehend analysiert, doch was noch immer weitgehend unterbelichtet ist und einen erheblichen Makel dieser Analysen darstellt, ist die Bedeutung des Rassismus", so Saladin Muhammad von den BWFJ einleitend zu seinem Beitrag. Daran, dass Rassismus ein funktionaler Bestandteil kapitalistischer Gesellschaften ist, ließen seine folgenden Ausführungen keine Zweifel, wenngleich er seine These von der "racist nature of the system" primär an der direkten und indirekten Diskriminierung von Schwarzen erläuterte und den Hinweis auf die prinzipielle Übertragbarkeit auf andere Bevölkerungsgruppen rassistischer Stigmatisierungen sowie entsprechende Exklusionsmechanismen Monica Santana vom Latino Workers Center überließ. Dass jedoch zumindest der "Wealth of Nations" der USA auf einer langen historischen Tradition gezielter Unterdrückung und einer bis heute anhaltenden sozialen und ökonomischen Benachteiligung von Schwarzen beruht, konnte er allein schon an der "Right to Work"-Gesetzgebung in den Staaten des "Black Belt" sowie einigen westlichen Bundesstaaten verdeutlichen. Was zunächst als "ethnisch" neutrales Anti-Gewerkschaftsgesetz erscheint, ist aufgrund der sozialen Umstände – ein Großteil der "Arbeitspopulation" in den Südstaaten ist schwarz – und der besonderen rechtlichen Ausformungen durchaus als "institutionalisierter Rassismus" zu bezeichnen. Das schon unter Taft Hartley 1947 verfolgte Ziel, das Prinzip des "Closed Shop", das den Gewerkschaften – im Prinzip ohne eigenes Dazutun – 100-prozentig organisierte Betriebe garantierte, gesetzlich auszuhebeln und so gewerkschaftliche Organisierung überhaupt zu erschweren, war in den Right to work-Staaten noch um die Legalisierung einer Reihe von unternehmerischen Interventionsmöglichkeiten und Störmanövern während der betrieblichen Wahlvorbereitungen der Gewerkschaften sowie die selbst bei gelungener Anerkennungswahl notwendige zusätzliche individuelle Beitrittserklärung erweitert worden. In dieser Situation, so Muhammad, erhalte das Spiel aus gezielter Privilegierung und Einschüchterung weißer Beschäftigter in den Unternehmen des Südens sowie die vielfach immer noch vorhandene soziale Schließung weißer Gewerkschaften ihre Brisanz. Auf diese Weise werde bis heute nicht nur eine rassistische Spaltung in den Belegschaften andauernd reproduziert, sondern auch umgekehrt die Erpressbarkeit "weißer" Gewerkschafter gesteigert – mit der Konsequenz einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für alle. Es seien vor allem die Südstaaten mit ihrem insgesamt geringeren Organisationsgrad, den oft miserablen Arbeitsbedingungen, niedrigeren Löhnen und geringeren Schutzrechten, in die es viele Firmen aus dem entwickelteren Norden, darunter oft Betriebe mit arbeitsintensiver Produktion, aber auch internationales Kapital wie DaimlerChrysler oder BMW ziehe. Das Muster kolonialistischer Ausbeutung auf globaler Ebene habe sich so innerhalb der USA als Spaltung zwischen dem "schwarzen" Süden und dem "weißen" Norden sowie innerhalb der Betriebe zwischen "schwarzen" und "weißen" Belegschaften wiederholt. "Rassismus zu bekämpfen", meinte Muhammad an die Adresse "weißer" Gewerkschafter, "heißt daher zuallererst Solidarisierung mit rassistisch Unterdrückten", und das heiße auch: "gegen die eigenen Privilegien zu kämpfen".

Wenngleich er einerseits an der Notwendigkeit eigener "schwarzer" Organisierung und an dem die Geschichte der schwarzen Emanzipationsbewegung in den USA durchziehenden Konstrukt einer "African-American Nation" festhielt, so betonte er doch andererseits, dass sich die BWFJ immer an der Vorstellung einer "Einheit in der Klasse" orientiert hätten. In diesem Spannungsverhältnis bewegten sich auch seine folgenden Ausführungen. Ohne auf die verschiedenen Erscheinungsformen des Rassismus gegenüber Schwarzen noch einmal genauer einzugehen, wie die BWFJ dies bei der letzten Konferenz in Frankfurt/Main bereits getan hatten, ging es Muhammad im Folgenden primär um die Frage, welchen Stellenwert betriebliche im Verhältnis zu außerbetrieblichen Aktivitäten haben.

Ausgangspunkt für die strategische Orientierung auf betriebliche Organisierungsprozesse war eine Erfahrung, die letztlich auch zur Gründung der BWFJ geführt hatte: die fristlose Entlassung dreier schwarzer Frauen wegen des angeblichen Diebstahls von 70 Cents in dem Geschäft, in dem sie angestellt waren. Tatsächlich hatten sie vorher Flugblätter verteilt, in denen die Gesundheitsstandards und Arbeitsbedingungen in dem Unternehmen kritisiert worden waren. Zwar sei die nachfolgende Unterstützung ‘von außen’ durch VertreterInnen der Kirchen, von Bürgerrechtsorganisationen oder anderen kommunalen UnterstützerInnen unerlässlich gewesen, doch ohne gewerkschaftliche Präsenz bzw. organisierte Interessenvertretung der Beschäftigten im Betrieb nütze auch die beste Koalition mit anderen Gruppen nichts. Um betrieblichen Repressalien wirkungsvoll begegnen zu können, sei die Organisierung ‘vor Ort’ unumgänglich – nicht allein wegen spezifischer rassistischer oder sexistischer Repressionen, sondern schon um rudimentär vorhandene Rechte z.B. im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz bloß wahrnehmen zu können.

Andererseits sei es gerade für schwarze GewerkschafterInnen sehr schwer, in den Betrieben tatsächlich Fuß zu fassen. Wegen der "Right to Work"-Gesetzgebung und wegen des ausgeklügelten Privilegiensystems gelinge es kaum, überhaupt gewerkschaftliche Anerkennungswahlen durchzuführen oder gar eine Majorität für Schwarze in einem Betrieb zu erreichen. Aus dieser Not habe man dann die Tugend der "Minority Unions" gemacht – ein Begriff, den die BWFJ als Programm für die Aufrechterhaltung betrieblicher Aktivitäten trotz fehlender offizieller Repräsentation verstehen: Minderheiten organisieren, um die mehrheitlich nicht-organisierten Betriebe organisieren zu können.

Hauptsächlich in North Carolina und Georgia vertreten, gibt es mittlerweile auch in vielen anderen Südstaaten sowie einigen Staaten des Westens und in New York Ableger der Black Workers for Justice. Die von ihnen betreute Klientel arbeitet vor allem in Betrieben des Öffentlichen Dienstes, wo man mit dem Local 150 der UE sogar eine für den gesamten Bundesstaat North Carolina zuständige offizielle Vertretung habe schaffen können, daneben aber auch in der Textil- und Lebensmittelindustrie.

Kurioserweise führe die Tatsache, dass es oft – fast automatisch – Schwarze seien, die sich in den Minority-Unions organisiert sammelten, dazu, dass weiße Beschäftigte diese betrieblichen Vertretungen als "geschlossene Veranstaltungen" wahrnehmen würden. Dies stelle, ebenso wie der schnelle Wechsel der Unternehmenseigner, die hohe Fluktuation unter den Beschäftigten und der schnelle Standortwechsel von Betrieben, ein erhebliches Problem für die innerbetriebliche Arbeit dar. Fazit Muhammads: Ein "zweites Standbein" außerhalb der Betriebe, regelmäßige Treffen, auf denen betriebsübergreifende Probleme z.B. der kommunalen Gesundheitsversorgung, Infrastruktur und des Schulwesens erörtert werden könnten, sowie Bildungs- und Schulungsveranstaltungen zur Ausbildung gewerkschaftlicher Organizer seien für die Kontinuität der gewerkschaftlichen Arbeit in den Betrieben unerlässlich. Ohne dass sich an den rechtlichen Beschränkungen gewerkschaftlicher Interessenvertretung etwas ändere, werde auch dies immer nur ein Notbehelf sein. Die BWFJ hätten sich daher gemeinsam mit anderen Organisationen und Gewerkschaften einer Kampagne zur Abschaffung der ‘Sondergesetzgebung’ in den Südstaaten gewidmet, wodurch hinsichtlich der gewerkschaftlichen Vertretungsrechte innerhalb der USA gleiche Bedingungen zu schaffen seien. Generell sei der Entwicklung eines Bewusstseins für die eigenen Rechte sowie der Aneignung vorhandener Rechte in der politischen Arbeit ein zentraler Stellenwert beizumessen.

Auf die Folgen rechtsstaatlicher Diskriminierung auf nationaler Ebene wies Monica Santana hin, selbst Immigrantin aus der Dominikanischen Republik und Vorsitzende des Latino Workers Center in New York. Sie beschrieb zunächst die Hintergründe der gestiegenen Mobilität von Arbeitskräften: Neben dem Motiv der Arbeitsmigration aus Armut sei es in jüngerer Zeit vor allem eine modernisierte Einwanderungsgesetzgebung, mit der – je nach volkswirtschaftlichem Bedarf – der Zuzug von Arbeitskräften gefördert oder abgebremst werde. Diese fallweisen Öffnungen der Grenzen seien jedoch kaum von entsprechenden sozialen Absicherungsmaßnahmen im Land flankiert. Neben so genannten "Illegalen", die sie – reflektierter als viele Gewerkschaften hierzulande – als "Undocumented people" bezeichnete, habe man es vermehrt mit Menschen zu tun, die typischerweise in schlecht bezahlten, niedrig qualifizierten und ungeschützten Arbeitsverhältnissen tätig seien, die – oft ohne Krankenversicherung und ohne Ansprüche auf betriebliche Renten- oder Arbeitslosenversicherungsleistungen – häufig wechselnden Tätigkeiten nachgingen. Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden täglich oder 80 Stunden in der Woche sowie Stundenlöhne von 2 Dollar, also mehr als die Hälfte unter dem Mindeststundenlohn, seien keine Ausnahme. Schon die statistische Erfassung des tatsächlichen Ausmaßes solcher Tätigkeiten stelle aufgrund des hohen Anteils nicht angemeldeter Beschäftigungsverhältnisse ein Problem dar. Doch von geschätzten 7 Millionen solcher "illegaler" Arbeitsverhältnisse würden rund 6 Millionen auf Latinos entfallen. Hier zeige sich auch die besondere Problematik gewerkschaftlicher Organisierungsversuche.

Während die ImmigrantInnen von den Gewerkschaften oftmals als Konkurrenz, die Lohn-, Arbeitszeit- oder andere Standards drücken würden, wahrgenommen würden, wären umgekehrt unter den ImmigrantInnen große Vorbehalte gegenüber gewerkschaftlichen Einflussnahmen festzustellen: Jeder gewerkschaftliche Vorstoß in Richtung Drosselung der Arbeitszeit sei beispielsweise zum Scheitern verurteilt, weil bei extrem niedrigen Stundenlöhnen eine Verlängerung der Arbeitszeit als unausweichlich, weil reproduktionsnotwendig erscheine. Solche verschiedenen "Realitäten" des Arbeitsalltags bildeten, begleitet von Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten und einer unter den ImmigrantInnen stärkeren Orientierung an Familienstrukturen bzw. am Bekanntenkreis, den Hintergrund für die verbreitete Skepsis gegenüber gewerkschaftlichen Organisationen. Im Latino Workers Center, einer Selbsthilfeeinrichtung von Betroffenen, setze man daher auf die Zusammenarbeit von Kirchen, Gewerkschaften und Bürgerrechtsorganisationen und auf eine doppelte Aufklärung: über die Rechte in Betrieben und in Gesellschaft. Vor allem bei den Undocumented People gehe es – als Voraussetzung aller gewerkschaftlichen Organisierungsarbeit – zunächst darum, zu vermitteln, dass diese sich nicht als Verbrecher begriffen: "Wenn ihre Arbeit hier nachgefragt wird, dann muss sie auch legalisiert werden", so Monica Santana kurz und bündig zur strategischen Lösung des Problems. Der Kampf gegen die "Illegalisierung" und die damit verbundenen Sanktionen gegen Unternehmer und Beschäftigte stehe daher seit 1996 im Mittelpunkt ihrer Kampagnenarbeit. Die Auseinandersetzung um die Rechte am Arbeitsplatz sei daher unmittelbar verbunden mit dem Kampf für das Recht auf Arbeit, auch das illegal Eingewanderter. Nach jahrelangem Einsatz einer Vielzahl von MigrantInnen-Initiativen und Workers Centers für die Legalisierung von MigrantInnen deute sich seit Februar d.J. eine überraschende Kehrtwendung im AFL-CIO an. Dessen Exekutivausschuss habe eine Stellungnahme verfasst, in der ein Ende der – mit Unterstützung des AFL-CIO beschlossenen – gesetzlichen Sanktionen gegenüber denjenigen Unternehmern gefordert wurde, die "Illegale" beschäftigen. Außerdem sprach man sich für eine allgemeine Amnestie aller Undocumented People aus. Unterdessen habe eine Koalition aus rund 160 Organisationen zum 1. Mai in insgesamt 16 Staaten zu Demonstrationen und Kundgebungen für eine "Generalamnestie für alle Undocumented People" und für den gesetzlichen 8-Stunden-Tag aufgerufen (siehe nebenstehenden Kasten).

Die folgende Diskussion bezog sich erstaunlicherweise weniger auf die radikale Forderung einer Legalisierung von Sans Papiers – obwohl man sich einig war, dass deren rechtlicher Status von grundsätzlicher Bedeutung für die Auseinandersetzung der Gewerkschaften mit dem Phänomen gestiegener Arbeitskräftemobilität und die damit zusammenhängende Problematik der Einwanderungsgesetzgebung sei. Einig war man sich auch in der Einschätzung, dass rassistische Diskriminierungen, obwohl in den allermeisten Ländern auf der gesetzlichen Ebene beseitigt und trotz zum Teil expliziter legislativer Maßnahmen zur Aufhebung von Diskriminierungen (wie "Affirmative Action-" und "Equal Opportunities"-Programmen), gerade in Krisenzeiten immer wieder "neu geschaffen" oder wenigstens "benutzt" würden. Doch während einige meinten, innerhalb der Betriebe und unter Lohnabhängigen selbst sei Rassismus kaum ein Thema, andere eher die Problematik des Ausschlusses von AsylbewerberInnen und Flüchtlingen aus dem Geltungskreis von Grundrechten für vordringlich hielten, verwiesen wiederum andere darauf, dass das Thema Rassismus die meisten Gewerkschaften noch gar nicht richtig erreicht habe. Entsprechend blieb die Frage offen, ob die Gewerkschaften sich vermehrt ‘nach außen’ wenden und ein asyl- und sozialpolitisches Mandat übernehmen sollten – hier berichtete ein Kollege aus England über eine Kampagne der TGWU gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in Lagern und gegen die Abschaffung von Geldmittelleistungen zu Gunsten von Naturalien und Gutscheinen –, oder ob sie ihren Blick für die Probleme innerhalb der eigenen Strukturen schärfen sollten.

Ein zweiter unausdiskutierter und ebenfalls kontroverser Punkt blieb der Anspruch, ein eigenes organisatorisches Netzwerk für Schwarze zu bilden. Während einige Kollegen der BWFJ, aus Canada und Groß Britannien die Bildung einer solchen eigenständigen organisatorischen Plattform, möglichst auf europäischer Ebene, mit Verweis auf die spezifischen Stigmatisierungen Schwarzer für vordringlich hielten, meinte Mamadou Ly, Schwarzafrikaner und Mitglied der SUD Rail: "Wenn wir uns, als wir nach Frankreich kamen, separiert hätten, wären wir heute nicht da, wo wir sind: Wir hätten keine SUD, keine Kontakte, keine Kooperationen." (Zur Gründungsgeschichte der SUD und der Arbeit seiner Gewerkschaftssektion siehe auch das Interview mit Mamadou in express 1/98).

Die damit nur angedeutete, heikle Kontroverse um separate Organisierungsbedürfnisse bzw. -notwendigkeiten entlang "rassistischer" Kriterien, die im Rahmen des Forums nicht wirklich kritisch verfolgt wurde, ließ sich allerdings zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen einer der freien Arbeitsgruppen transformieren: "Networking in Europe" – ein Desiderat der bisherigen Arbeit von TIE und ursprünglich von einigen Konferenz-TeilnehmerInnen mit eben jenem Appell zur Gründung eines "Schwarzen Netzwerkes" verbunden –, entwickelte sich zu einer angeregten Debatte über zentrale Probleme der aktuellen Situation in Europa. Ausgehend von den enormen Wahlerfolgen Haiders kreiste diese zunächst um die These von einem "Rechtsruck in Europa", der nun allerdings weniger an den "Extremfällen" politischer Wahlerfolge festzumachen sei, so der Einwand eines Teilnehmers, sondern sich in einem versteckten bzw. latenten Rassismus zeige. Mamadou Ly berichtete hier ergänzend von einer Umfrage unter Franzosen im Frühjahr dieses Jahres, nach der rund 70 Prozent der Befragten geäußert hätten, sie würden sich als rassistisch begreifen. Offenen Diskriminierungen sei aufgrund der vielfach vorhandenen exliziten Rechtsprechung in bzw. einer Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung mittlerweile in vielen Ländern der europäischen Union einfacher zu begegnen als früher, so ein Kollege aus England. Das Problem sei vielmehr, dass im Zuge der Homogenisierung europäischer Zuwanderungspolitik mit den entsprechenden Einwanderungsgesetzen Formen und Kriterien der Selektion geschaffen würden, mit denen ideologisch der Boden für ein generelles Aufleben von Aus- und Abgrenzungsbedürfnissen bereitet werde. Während einige dann die Frage stellten, in wie weit es sich dabei also um einen "Rassismus von oben", befördert von Staat und Kapital handele, verwiesen andere auf hohe Anteile rechtsextremer Einstellungen in den Gewerkschaften bzw. unter Lohnabhängigen. Und während man sich einig war, dass das Thema Migration und Anti-Diskriminierung eigentlich ganz oben auf der Agenda der europäischen "Innenpolitik" stehen müsse, herrschte doch eine gewisse Skepsis, ob die Anzeichen für ein koordiniertes europäisches Vorgehen in diesen Punkten, z.B. während der letzten Lissaboner Konferenz, Anlass für Optimismus seien. Die Vermutung liegt nahe, dass die "offene Gesellschaft" auch hier ihre "Feinde" selbst produziert. Angesichts der noch weitgehend ungeklärten, nur angerissenen Frage, wie denn nun die Phänomene des Standort-Nationalismus’, des Rechtsextremismus’ auch unter Lohnabhängigen und innerhalb der Gewerkschaften und zunehmende Arbeitsmigration innerhalb Europas bzw. nach Europa zusammenhingen, und wie sich Linke in den Gewerkschaften bspw. zum Umgang mit Illegalisierten positionieren sollten, wurde beschlossen, solche Fragen zum Hauptthema einer europäischen Konferenz zu machen. Dort soll sortiert werden, was bislang nur erst bruchstückhaft und angedeutet blieb, und es soll eine Verständigung über strategische politische Orientierungen sowie die eigene Praxis stattfinden.

Das Schlusswort der Diskussion und zugleich ein kleines analytisches Fazit sprach ein Kollege aus Vauxhall/GB: Als er vor 23 Jahren angefangen habe bei Vauxhall, habe es dort bei 14.000 Beschäftigten insgesamt einen Schwarzen im Management gegeben – und der sei für das Toiletten- und Reinigungspersonal zuständig gewesen. Heute gebe es immer noch einen Schwarzen im Management, der sei in einer etwas höheren Position, aber nur noch 4.000 Beschäftigte.

 
Dieser Artikel ist erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/2000

Anmerkung: * so der Name einer Band der Black Workers for Justice, die auch bei deren Organisierungsarbeit ‘zum Einsatz" kommt. Ihr improvisierter Auftritt während der Konferenz erntete großen Applaus.

 


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