Demokratie ist Macht

Bericht über die Labor Notes-Konferenz / Von Heiner Köhnen

 

Vom 23.-25.4.99 fand in Detroit die 10. Konferenz der gewerkschaftlich orientierten Zeitung Labor Notes statt. Es nahmen über 1.100 GewerkschafterInnen vorwiegend aus den USA, aber auch aus Kanada, Mexiko, Argentinien, Uruguay, Brasilien, Puerto Rico, Frankreich, Belgien, England und aus der BRD teil, für die über 80 Workshops und Arbeitsgruppen organisiert waren. An der Konferenz nahmen auch Beschäftigte aus bundesdeutschen Benz-Werken und Mitglieder der „Autokoordination" teil, die im Rahmen eines Bildungsurlaubs von „TIE" und „Fesch" Kontakt und einen Informationsaustausch mit US-amerikanischen KollegInnen von DaimlerChrysler suchten.

Titel des zentralen Plenums der Konferenz war „Demokratie und Social Unionism – Wie Aktivisten der Basis ihre Gewerkschaften demokratisieren und eine neues Gewerkschaftsverständnis schaffen". Im Unterschied zu früheren Konferenzen wurden die Erfahrungen nicht traditionell organisierter Beschäftigten insgesamt stärker berücksichtigt. Die Präsenz von Gruppen wie den Black Workers for Justice, AktivistInnen der Bauernbewegung oder Latino-AmerikanerInnen, aber auch von VertreterInnen einiger Workers’ Center in den großen Plenen hob dies hervor. Übergeordnete Themenblöcke der Arbeitsgruppen waren, die „Zusammenarbeit mit der Kommune" „Gewerkschaftsdemokratie", „Neue Gewerkschaftsstrategien" und „Solidarität über Grenzen hinweg", in denen u.a. Probleme wie die Organisierung illegaler Beschäftigter, Rassismus und sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz oder die Situation von prekär Beschäftigten behandelt wurden.

Gesamttitel und Hauptthema der Konferenz „Demokratie ist Macht" (1) war für die Organisatoren von Labor Notes strategisches Programm und Beitrag für das Überleben der Arbeiterbewegung zugleich. Die 80er und 90er Jahre waren in den USA vor allem eine Zeit des gewerkschaftlichen Niedergangs und der unternehmerischen Reorganisation: Neoliberale Politik, ein massiver Rückgang des gewerkschaftlichen Organisa tionsgrades, industrielle Restrukturierung, Outsourcing von Arbeitern in gewerkschaftlich nicht organisierte Betriebe mit schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen und Methoden der Schlanken Produktion prägten die Realität der Beschäftigten. In den gewerkschaftlich organisierten Sektoren unterstützten die Gewerkschaften in der Regel diesen Umbruch, indem sie über Partnerschaftsvereinbarungen hofften, zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und einen großen Teil des Status Quo für die Beschäftigten zu erhalten. Eine Gewerkschaft wie die United Auto Workers (UAW) blieb so zwar eine Organisation relativ hochbezahlter Beschäftigter, allerdings zum Preis von immer weniger organisierten Mitgliedern und einem immer größeren Ausschluß anderer.

Nach dem Führungswechsel beim US-amerikanischen Gewerkschaftsbund AFL-CIO 1995 schien es in den US-Gewerkschaften kurzfristig so, als ob andere Zeiten anbrechen würden. Die neu gewählte Gewerkschaftsführung um den AFL-CIO-Präsidenten John Sweeney propagierte ein neues, gegen die bisherige Politik der freiwilligen Zugeständnisse an die Unternehmen gerichtetes Selbstverständnis und die Organisierung der wachsenden Masse der zumeist aus Immigrantinnen aus Lateinamerika und Asien bestehenden Arbeiterinnen in den gewerkschaftlich nicht organisierten Niedriglohnindustrien. Die „neue Politik" der AFL-CIO-Führung bestand dabei vor allem in einer Kampagne zur Organisierung der Unorganisierten, in einer Konferenz über die Arbeitsbedingungen von weiblichen Beschäftigten und in einer öffentlichen Kampagne zum Thema Existenzminimum. Es gelang ihr darüber hinaus, die Gewerkschaftsbewegung zurück in die amerikanische Öffentlichkeit zu bringen, die die Kampagnen zum Teil wohlwollend begleitete und vielen Gewerkschaftsaktivisten damit einen hoffnungsvolleren Ausblick auf die Zukunft vermittelte.

Nach kurzer Zeit wurde allerdings auch deutlich, daß sich weder die Politik des AFL-CIO noch die der Einzelgewerkschaften wirklich verändert hatte. Im Spiel der „großen Politik" verfolgte der AFL-CIO weiterhin eine finanzielle Unterstützung der Demokraten, obwohl diese unter Clinton (bspw. im NAFTA, bei der Weigerung, eine Gesetzesnovelle gegen den Streikbruch zu unterstützen, bei der Gesundheitsreform oder der Sozialpolitik) selbst die Lippenbekenntnisse einer arbeiterfreundlichen Politik aufgegeben hatte. Strategische industrielle Sektoren wie die Computer- oder Autozuliefererindustrie blieben weiterhin unorganisiert, ohne daß auch nur der Versuch gewerkschaftlicher Organisationskampagnen unternommen wurde.

Die neue AFL-CIO-Führung hielt die selben ‘freundschaftlichen’ Beziehungen zu den Unternehmen aufrecht und behielt die selben Methoden bei, die die Gewerkschaften nach Ansicht der meisten gewerkschaftlichen Reformer in den letzten beiden Dekaden in den Niedergang getrieben hatten. Sie unterstützte Partnerschaftsprogramme und Konzessionsforderungen der Unternehmen und hoffte damit, diesen zu vermitteln, daß gewerkschaftliche Anerkennung in ihrem eigenen Interesse sei. Partnerschaft mit Gewerkschaften führt in dieser Vorstellung zu höheren Löhnen, zu Arbeitsplätzen mit höherer Produktivität und Qualität und dadurch auch zu höheren Gewinnen. Das prominenteste Beispiel war die Kooperation des AFL-CIO mit Kaiser Permanente, einem der großen Gesundheitsfürsorge-Unternehmen Amerikas. Im Gefolge der Politik zur „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit" wurden Hospitäler und Abteilungen geschlossen, medizinische Versorgung wurde fremdvergeben, Personal gekürzt und ein Lohnstopp ausgerufen. Trotz dieser Politik gegen die Patienten und die Beschäftigten verkündete der AFL-CIO nicht nur die übliche Bereitschaft, das Unternehmen produktiver zu machen, sondern erklärte Kaiser zum bevorzugten Partner für die Verhandlungen über die Gesundheitsversorgung. Die Gewerkschaften akzeptierten des weiteren, keine Aktivitäten zu organisieren oder zu unterstützen, die dem Image des Unternehmen in der Öffentlichkeit schaden würden. Im Gegenzug versprach das Unternehmen, sich bei der gewerkschaftlichen Organisierungskampagne neutral zu verhalten.

Um eine Demokratisierung der Gewerkschaften selbst, verstanden als größere Kontrolle der Beschäftigten über ihre Aktionen, ging es in den Statements der neuen Führung nicht. Weiterhin sollten Mitglieder ‘geführt’, zu Aktionen ‘gerufen’ und von oben mobilisiert werden. Die Vorstellungen von gewerkschaftlicher Macht und Mobilisierung unterschieden sich so auch in diesem Punkt fundamental von denen der meisten gewerkschaftlichen Reformbewegungen.

Unberührt von der Rhetorik der Gewerkschaften verfolgten die Unternehmen auch Mitte den 90er Jahre weiterhin eine Politik des „downsizing", der Ausweitung von Niedriglohnbereichen und des „union busting". Nach Ansicht der Organisatoren der Konferenz lassen sich – unterstützt durch Beteiligungsprogramme – in diesem Zeitraum die größten Veränderungen der Arbeitsorganisa tion seit Beginn der Massenproduktion beobachten, gefolgt von einer massiven Verdichtung der Arbeit, der Entwertung der Qualifikationen und der massiven Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse: „Die Lohnarbeit ist heute in der Regel wesentlich stressiger, härter, gefährlicher und dauert länger als vor 10 Jahren". (2) Eine neue Qualität der Veränderungen besteht nach Ansicht von Labor Notes auch darin, daß die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen allen Industrien, Sektoren und regionalen Räumen gemeinsam sei. Das Anwachsen prekärer Arbeitsverhältnisse habe einen „sichtbaren, universalen Charakter, der die Unterschiede zwischen den Lohnabhängige verringere", so Moody.

Vor diesem Hintergrund sehen die Organisatoren der Konferenz das Überleben der Gewerkschaftsbewegung an eine Reform und Demokratisierung der Gewerkschaften geknüpft. Steigende Unruhe und eine Zunahme von Streiks in den Betrieben, über die auf der Konferenz berichtet wurde, gelten als Anzeichen, die eine solche Strategie unterstützen könnten: der Widerstand bei Staley, Wheeling-Pittsburgh, die Streiks bei GM, bei Dunlop, Boeing und bei UPS. Die Streiks und Auseinandersetzungen in den Betrieben gingen in der Regel nicht einfach um höhere Löhne, sondern um Probleme mit den neuen Produk tionsformen: Personalbemessung, Outsourcing und Fremdvergabe, eine zu hohe Arbeitsbelastung, bessere Gesundheitsversorgung, höhere Renten, um Neueinstellungen – mit anderen Worten: um Forderungen, die direkt gegen die Ideologie und Praxis der Schlanken Produktion gerichtet seien. Auch seien neben den bisherigen Reformbewegungen wie TDU oder „New Directions" zahlreiche neue Reformbewegungen (bspw. innerhalb der UAW, den United Steelworkers, der American Federation of Teachers oder der International Brotherhood of Electrical Workers) entstanden, deren Vertreter auch in großer Anzahl an der Konferenz teilnahmen.

Als Schlüssel für die Reform der Gewerkschaften und für den Aufbau von Bewegungen, die die Unternehmenskonzepte und die Dominanz konservativer Politik wirklich herausfordern, sieht Labor Notes eine „informierte und aktivierte Mitgliedschaft. Ob beim Sieg bei UPS, bei der Organisierung der Unorganisierten oder beim Aufbau breiterer Koalitionen für weiterreichende soziale Ziele – der Erfolg hängt von der Mobilisierung der Beschäftigten ab, auf denen die wirkliche Macht der Gewerkschaften basiert." (Moody 1999) Tenor mehrerer Arbeitsgruppen war, daß eine Erhöhung der gewerkschaftlichen Organisierung und gewerkschaftliche Erfolge nur durch eine Thematisierung und Konfrontation der gegenwärtigen Arbeitsbedingungen und durch die Entwicklung eines Gewerkschaftstyps erreicht werden könnten, der das gegenwärtige Arbeitsregime der Schlanken Produktion aktiv bekämpft und bisherige Spaltungen unter den Lohnabhängigen, hervorgerufen etwa durch Sexismus und Rassismus innerhalb der Gewerkschaften, thematisiert. Demokratisierung von Gewerkschaften wurde hierbei als strategisches Moment begriffen. Nur indem Beschäftigte ihre Aktionen selbst organisieren und über diese selbstverantwortlich entscheiden würden, könne betriebliche und gesellschaftliche Gegenmacht entstehen. Gefordert wurde daher u.a. eine „Kultur der direkten Kontrolle der Gewerkschaft durch die Mitglieder".

Selbstorganisation und eigenständige Aktivität ermögliche so gegebenenfalls eine Erfahrung von „Empowerment", mit dem auch weiterreichende Klasseninteressen auf die Tagesordnung gesetzt werden könnten.

 

Anmerkungen

1) Zur Konferenz veröffentlichte Labor Notes ein gleichnamiges Buch: Mike Parker/Martha Gruelle: Democracy is Power. Rebuilding Unions from the Bottom Up. A Labor Notes Book, 1999

2) Kim Moody: The Dynamics of Change, in: „The Transformation of US Unions", herausgegeben von Ray Tillman und Michael Cummings, 1999. Das Buch, das ebenfalls auf der Konferenz verkauft wurde, kann über Labor Notes bezogen werden.