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Keine gemeinsame Sache?

Perspektiven gewerkschaftlicher Erwerbslosenarbeit

Von Dorothee Fetzer und Günter Brauner*

 

Im März 2001 wurde die neue Gewerkschaft ver.di gegründet – mit 2,9 Millionen Mitgliedern die nunmehr größte Einzelgewerkschaft der Welt. Etwa eine Viertelmillion der Mitglieder ist erwerbslos. Dies ist einen Blick auf deren Einbindung in die neue "Mammutorganisation" wert. Mit der "Richtlinie zur Erwerbslosenpolitik" erhalten erwerbslose Mitglieder einen so genannten Personengruppenstatus, d.h. ihre spezifischen Interessen werden durch besondere Strukturen und Arbeitsinhalte berücksichtigt. So sollen auf allen Ebenen der Organisation Erwerbslosenausschüsse eingerichtet werden, Erwerbslose in den ehrenamtlichen Vorständen und Konferenzen vertreten sein und Erwerbslosenkonferenzen stattfinden. Ziele und Aufgaben werden definiert als Einflussnahme auf Gesetzgebung und Politik, um insbesondere die materielle Existenz der Erwerbslosen sicherzustellen und Niedriglohnarbeit und Dequalifizierung zu verhindern. Erwerbslose sollen an der innergewerkschaftlichen Willensbildung beteiligt sein, der gewerkschaftliche Zusammenhalt von beschäftigten und erwerbslosen Mitgliedern soll aufrechterhalten und gefestigt sowie erwerbslose Mitglieder bei der qualifikationsgerechten Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützt werden. Weiterhin sollen Beratungsstrukturen entwickelt, mit den Gewerkschaftsvertretern in den Arbeitsamtsausschüssen zusammengearbeitet und auf Orts- und Bezirksebene eine gemeinsame, wohngebietsbezogene Arbeit gemacht werden. Die Richtlinie bietet somit eine Grundlage, um die Belange von erwerbslosen Mitgliedern innerhalb von ver.di zum Thema zu machen und Anlaufstellen, Treffs, Beratung usw. einzurichten. Sie ist auch eine Ausgangsbasis für die Thematisierung inhaltlicher Forderungen, wie z.B. Existenzsicherung während Erwerbslosigkeit. Inwieweit mit dieser Richtlinie Einfluss auf die Gesamtpolitik des Gewerkschaftsriesen genommen werden kann, bleibt abzuwarten.

Formal zumindest wurden einige wichtige organisationspolitische Forderungen der gewerkschaftlichen Erwerbslosengruppen erfüllt. Bereits 1984, auf der ersten bundesweiten Arbeitstagung gewerkschaftlicher Erwerbslosengruppen, wurde für die Einzelgewerkschaften wie für den DGB der Personengruppenstatus mit entsprechender Gremienvertretung und materieller Ausstattung gefordert. Auch die Zusammenarbeit mit Betriebs- und Personalräten, mit GewerkschaftsvertreterInnen in den Selbstverwaltungsorganen der Arbeitsämter sowie die Forderung nach Aufbau einer gewerkschaftlichen Arbeitslosenberatung mit dem Ziel kollektiver Rechtswahrnehmung fanden sich bereits damals unter den Forderungen, ebenso wie die nach Öffnung der Einzelgewerkschaften für Erwerbslose, d.h.: Vollmitgliedschaft mit allen Rechten und Pflichten. Diese Forderung ist bei vielen Einzelgewerkschaften angesichts rasant angestiegener Erwerbslosigkeit, die sich – allen Beteuerungen und Bemühungen zum Trotz – nach wie vor bei knapp vier Millionen eingependelt hat, seit geraumer Zeit umgesetzt.

Allerdings nicht bei der nun nur noch zweitgrößten Einzelgewerkschaft, der IG Metall. Da sieht es für Erwerbslose eigentlich noch duster aus. Nach wie vor ist es Erwerbslosen nicht möglich, als Vollmitglied dieser Gewerkschaft beizutreten. Wenn der Vorstand in Frankfurt zugestimmt hat, ist eine Sondermitgliedschaft ohne Rechte möglich. Anträge für Vollmitgliedschaft wurden zwar regelmäßig auf den vergangenen Gewerkschaftstagen eingebracht, jedoch ohne Erfolg. Auch der letzte Gewerkschaftstag im Oktober 1999 folgte mehrheitlich dem Vorschlag der Antragsberatungskommission, gegen die Vollmitgliedschaft Erwerbsloser zu stimmen, da die Satzung kein "Experimentierfeld" und die IG Metall kein "Sozialverband" sei. Der Stellenwert der Erwerbslosen kann auch an der Home-Page der IG Metall abgelesen werden. Die Zahlen und Informationen für die Erwerbslosen sind seit Erstellung im Jahr 1998 nicht aktualisiert worden (www.igmetall.de/arbeitslose/).

Ähnlich demotivierend stellt sich die Situation dar, wenn IG Metall-Mitglieder erwerbslos werden. Obwohl auf Druck von unten die Satzung geändert werden musste und nun auch Mitglieder außerhalb der Betriebe in die Arbeit vor Ort einbezogen werden sollen, wird der erwerbslose "Kollege Karl" in der Regel von "seiner" IG Metall nicht mehr wahrgenommen. Selten bekommt er die Mitgliedszeitung nach Hause geschickt, selten erfährt er, dass er seinen Beitrag reduzieren kann, nicht selten geht er auch seiner gewerkschaftlichen Funktionen verlustig, und oft entsteht bei ihm der Eindruck, dass man ihn los werden will, da er kein so genannter "Vollbeitragszahler" mehr ist und weniger in die Ortskasse einbringt, als er daraus möglicherweise fordern könnte (verwaltungsfiskalisch gesehen kostet jedes Mitglied 7,50 DM im Monat). Wer von den Unternehmen entlassen wird (oft genug mit Hilfe der Betriebsräte und der Gewerkschaft durch Sozialpläne) gilt auf einmal nicht mehr als KollegIn, sondern als "Sozialfall", der besonders betreut werden muss (aber nicht von seiner Gewerkschaft) und keine Handlungsfähigkeit mehr hat. Die traditionelle Konzentration der gewerkschaftspolitischen Arbeit auf den Betrieb macht das erwerbslose Mitglied mit einem Schlag zum nutzlosen und überflüssigen Teil der Gesellschaft und der Gewerkschaft. Denn Handlungsebene ist der Betrieb, wer dort nicht ist, kann nichts erschaffen, vorantreiben oder verändern und gehört demzufolge nicht mehr dazu.

Ausnahmen sind einige wenige Verwaltungsstellen und Bezirke, die sich zum größten Teil in den östlichen Bundesländern befinden und damit auf den Niedergang der Betriebe und die Veränderungen in ihrer Mitgliederstruktur reagieren mussten. Aus der Tatsache, dass nur noch 50 Prozent der Mitglieder über die traditionellen betrieblichen Wege zu erreichen sind – die andere Hälfte setzt sich aus Erwerbslosen, RentnerInnen, aber auch Beschäftigten in Betrieben ohne Betriebsrat, in Leiharbeitsfirmen oder kleinen "Klitschen" usw. zusammen – wurde im Bezirk Küste über die Notwendigkeit eines "zweiten Standbeins" diskutiert, in dem sich alle diese Mitglieder wiederfinden sollen. In Verwaltungsstellen wie z.B. Neubrandenburg und Rostock wurde die Arbeit entsprechend umorganisiert (Vertrauensleute- und Delegiertenwahlen in Wohngebieten). In der großen Tarifkommission sind die Erwerbslosen pro Bundesland (Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Niedersachsen) mit einem (Rederecht-)Mandat vertreten. Solche Ansätze sind jedoch bundesweit die Ausnahme. Umso bedauerlicher, dass die – bis dahin halbjährlichen – Austauschtreffen der "AG zweites Standbein" im Bezirk Küste schon seit einem Jahr nicht mehr stattgefunden haben. Wenn überhaupt, dann versuchen Einzelpersonen wacker vor Ort das Fähnlein der Erwerbsloseninteressen hochzuhalten.

 

Stiefkinder mit Stimmviehfunktion

Auch bei der neu aufgelegten Zukunftsdebatte "Warum sich die IG Metall verändern muss" entsteht der Eindruck, dass kaum jemand Zusammenhänge zwischen der auf hohem Niveau stagnierenden Erwerbslosenzahl und dem zunehmenden Druck auf die Beschäftigten herstellen will – offenbar gilt schon der Begriff "Erwerbslosigkeit" als Unwort. In der Maiausgabe der "metall" wurde ein Fragebogen an die Mitglieder verschickt. Zum aktuellen Status wird dort gefragt: "Sind sie gewerblich, angestellt oder selbständig tätig?" Erwerbslosigkeit oder auch Seniorendasein interessiert anscheinend nicht. Dabei machen allein diese zwei Gruppen 33 Prozent der Mitglieder der IG Metall aus (Stand März 2001).

Inzwischen wird bei einigen FunktionärInnen über die mögliche Einführung der 40-Stunden-Woche oder eines Rentenkorridors bis zum 70. Lebensjahr diskutiert – wegen angeblichen Mangels an qualifiziertem Erwerbstätigenpotential. Die statistisch errechnete Wiederkehr der Vollbeschäftigungsgesellschaft der "Goldenen zwanziger Jahre" (in Baden-Württemberg wird sie schon jetzt behauptet) scheint realer zu sein als die jetzige Wirklichkeit mit acht Prozent Erwerbslosigkeit im Westen und 18,9 Prozent im Osten.

DGB-Chef Schulte hat sich in diesem Sinne unlängst über die 48-Stunden-Woche geäußert. Dabei tut sich gerade auch der gewerkschaftliche Dachverband mit den ca. zehn Prozent gewerkschaftlich organisierten Erwerbslosen schwer. Nach der Organisationsreform des

DGB’s spielen der Personengruppenstatus oder andere verbindliche Strukturen, wie z.B. Arbeitskreise für Erwerbslose, keine mitbestimmungs- oder entscheidungserhebliche Rolle mehr. Einzig der Landesbezirk Baden-Württemberg hat den als Material an den Bundesvorstand beschlossenen Antrag eingebracht: "Die Arbeitslosenarbeit muss reorganisiert, systematisiert, intensiviert und flächendeckend ausgebaut werden...". Dazu wird eine Bestandsaufnahme der gewerkschaftlichen Arbeitslosenarbeit gefordert.

Überhaupt verharren die Gewerkschaftsorganisationen in ihrer Rolle und ihrem Denken in einem tradierten Arbeitsbegriff. Eine Diskussion über den Begriff Arbeit, den Anteil und Stellenwert der Erwerbsarbeit findet nicht statt. Die Zukunftsdebatte der IG Metall und die Ziele in der Richtlinie von ver.di bieten allerdings den Erwerbslosengruppen eine Möglichkeit, sich mit ihren Themen (z.B. "Existenzsicherung", "keine Arbeit um jeden Preis", "was ist eigentlich Arbeit?") in die Diskussion einzubringen und die etwas anderen "Realitäten" dieser Arbeitswelt darzustellen.

Trotz ihres ungeliebten Status’ sind aktive Erwerbslose gern gesehen bei Demonstrationen und anderen öffentlichen Aktivitäten der Gewerkschaftsorganisationen, denn sie stellen oftmals mehr "Masse" als die KollegInnen aus den Betrieben. Während der inzwischen legendär gewordenen Aktionstage der Erwerbslosen im Wahljahr 1998 erhielten die Gruppen ungewöhnliche Unterstützung durch die Gewerkschaftsorganisationen – anlässlich der Gewerkschaftskampagne für "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" galt es offenbar, dieses Klientel gezielt zu umwerben. Fairerweise muss gesagt werden, dass bei diesen Aktionstagen auch schon mal die Beschäftigten aus den Betrieben die Mehrheit stellten. Aber damals war eben Wahlkampf. Mittlerweile findet allerdings die Politik der rot-grünen Bundesregierung und das Bündnis für Arbeit bei den erwerbslosen Mitgliedern nicht mehr so viel Zustimmung. So waren sie z.B. diejenigen, die sich bei den Gewerkschaftsaktionen gegen die Renten"reform" engagiert beteiligt haben, während der Widerstand in den Führungsetagen der Gewerkschaften eher verhalten war. Auch der zunehmende Druck, Arbeit zu egal welchen Bedingungen annehmen zu müssen, wird immer mehr auch von denjenigen Erwerbslosengruppen kritisch gesehen, die sich 1998 noch für ein Recht auf Arbeit stark gemacht hatten.

Diese Forderung hat sich mittlerweile in ihr Gegenteil verkehrt: Das Problem sei, so wird behauptet, nicht der Mangel an Arbeitsplätzen, sondern die Faulheit der Erwerbslosen. Kanzler Schröder hat sich dazu in BILD-Manier hervorgetan. Das Allensbacher Institut für Demoskopie hatte diese These aber bereits vorher über die Presse verbreiten lassen. Demnach seien laut neuesten Umfragen 66 Prozent im Westen und 40 Prozent im Osten von der Faulheit der Erwerbslosen überzeugt, wobei es 1994 im Westen erst 39 und im Osten elf Prozent gewesen sein sollen. Nach der Internetveröffentlichung (www.ifd-allensbach.de/news/prd_0106.html) ist die Zahl derjenigen, die die Meinung vertreten, dass es viele gebe, die nicht arbeiten wollen, im Osten jedoch von 83 auf 53 Prozent zurückgegangen.

 

Mehr Druck – weniger Arbeitslose?

Diese falsche Denkrichtung wird durch Äußerungen vieler gewerkschaftlicher SpitzenfunktionärInnen unterstützt. Im Januar diesen Jahres forderte Roland Issen, damals noch Vorsitzender der DAG, verstärkten Arbeitsdruck für Erwerbslose und argumentierte mit einem "echten" Arbeitsinteresse seitens der Erwerbslosen einerseits und einem verwerflichen Ausruhen in der ‘sozialen Hängematte’ andererseits. Trotz der darauf eingegangenen Proteste nahm er diese Äußerungen nicht zurück, sondern begründete seine Position mit der Möglichkeit einer Vollbeschäftigungsgesellschaft – da könnte nicht nur, da müsste natürlich jeder und jede einen Arbeitsplatz haben. Auch Klaus Zwickel hat bis heute seine auf dem letzten Gewerkschaftstag getätigte Äußerung, Solidarität sei keine Einbahnstraße, und deshalb müsse der Druck auf Erwerbslose erhöht werden, nicht relativiert und ging auf Nachfragen, wie das denn zu verstehen sei, nicht ein. Zur beabsichtigten Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe befragt, äußerte Zwickel stattdessen: "Dieser Ansatz ist richtig, jetzt muss man über die genaue Ausführung reden. Und dabei kann dann auch diskutiert werden, ob die Sanktionsmöglichkeiten gegen Arbeitslose ausreichen. Ich glaube nicht, dass sie schärfer sein müssen, allenfalls effektiver" (Neue Presse Hannover, 25. April 2001). Entgegen eindeutigen Gewerkschaftstagsbeschlüssen sowohl bei IGM wie bei ÖTV wird kein breiter Widerstand gegen die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe organisiert. Die Demontage dieser Sozialleistung, die für über 1,5 Millionen Erwerbslose die Existenzgrundlage darstellt, wird durch die rot-grüne Bundesregierung konsequent und vehement betrieben. Vorstöße der Kohl-Regierung in diese Richtung wurden durch die Opposition von SPD und Grünennn abgemildert.

Die Sichtweise, dass Erwerbslose nicht arbeiten wollen und zuviel Geld hätten, findet jedoch nicht nur bei den Vorständen, sondern auch unter beschäftigten KollegInnen Anklang: Warum sollten sie sich abrackern und mühen, während die "NichtstuerInnen" monatlich genau so viel oder mehr in der Tasche haben? Dass die Parole "Hauptsache Arbeit, egal zu welchem Preis und zu welchen Bedingungen" sich nicht nur gegen die Erwerbslosen, sondern auch gegen die Beschäftigten wendet, weil sie zur weiteren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und zur Erhöhung des Drucks führt, wird auch von GewerkschaftsfunktionärInnen ausgeblendet.

Im Rahmen des Bündnis’ für Arbeit wurden so genannte Niedriglohnmodelle (siehe den Beitrag von Bruno Kaltenbach in express Nr. 5/2000) beschlossen, d.h. die Subventionierung von "unzumutbarer" Arbeit. Wären die Arbeitsplätze in den Niedriglohnmodellen mit der Zumutbarkeit von Arbeit nach dem SGB III vereinbar, könnte das Arbeitsamt die Erwerbslosen massenhaft in solche Stellen einweisen und bei einer Weigerung, die Arbeit aufzunehmen, mit Sperrzeiten und Leistungsentzug bestrafen. Mit den Niedriglohnmodellen wird wissentlich und verstärkt "unzumutbare" Arbeit gefördert – und das, obwohl es in Sachsen inzwischen Stundenlöhne von 4,30 DM gibt. Auch an dem dubiosen Projekt "Tauris" sind GewerkschaftsfunktionärInnen beteiligt. In diesem Modellprojekt arbeiten Erwerbslose für 150 DM Aufwandsentschädigung zusätzlich zu Sozialhilfe bzw. Arbeitsamtsunterstützung 56 Stunden im Monat. Träger ist u.a. die Dresdner DAS (Dienstleistungen für Struktur- und Arbeitsmarktpolitik), deren Aufsichtsratsvorsitzender der Bevollmächtigte der IGM-Verwaltungsstelle Dresden ist. Auch der DGB-Kreisvorsitzende in Dresden ist dort in verantwortlicher Position tätig.

Dass Erwerbslose benutzt werden, um die Arbeitsbedingungen insgesamt zu verschlechtern zeigt sich zur Zeit bei VW in Wolfsburg, wo die Schaffung von Arbeitsplätzen dazu missbraucht werden soll, die 6-Tage-Woche mit 48 Stunden wieder einzuführen und alle Zusatzkosten in Form von Zulagen abzuschaffen. Sprechen sich Erwerbslose gegen solch ein Modell aus, werden sie als Drückeberger und Faulenzer in die Ecke gestellt. Gleiches gilt bei der Arbeitsaufnahme in Verleihfirmen, die immer mehr in die Vermittlungsbemühungen der Arbeitsämter einbezogen werden. In Nordrhein-Westfalen will die IG Metall ein Gütesiegel für Leiharbeitsfirmen vergeben. Ein Kriterium für die Güte lautet, dass 50 Prozent der von der Verleihfirma verliehenen Menschen vorher arbeitslos gewesen sein müssen. Doch wieso muss der Weg in einen Betrieb mit Festanstellung für Erwerbslose eigentlich über eine Verleihfirma gehen, in der in jedem Fall geringere Löhne gezahlt werden, auch wenn diese tariflich abgesichert sind? Auf soviel "Güte" können Erwerbslose eigentlich verzichten.

Haben die Gewerkschaften bei Einführung der Zumutbarkeitsanordnung und damit einhergehend der Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien für die Aufnahme einer Arbeit im Jahre 1982 noch mächtig Gegenwehr entfacht, werden sie angesichts des Arbeitswahns und -fetischismus’, den Politik und Wissenschaft ständig predigen, anscheinend immer blinder. Von der Umverteilung der Rationalisierungsgewinne in höhere Einkommen und Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleich ist nur noch "ein kräftiger Schluck aus der Pulle" übriggeblieben (wobei die Pulle schnell zum Flachmann reduziert wurde) – und von Humanisierung der Arbeit spricht schon lange keiner mehr. Stattdessen finden dann die Programme früherer gewerkschaftlicher Spitzenfunktionäre und jetziger Minister bzw. hauptberuflicher Politiker wie Riester ("Fördern und Fordern") oder Schartau ("Keine Arbeitslosigkeit mehr durch flächendeckende Transfergesellschaften") mehr Beifall, als gut ist. Bei den von der Bundesregierung geplanten Verschärfungen für Arbeitslose, die jetzt einen maßgeschneiderten Anzug für ihren weiteren Berufsweg verpasst bekommen sollen (was ist eigentlich mit der durch das Grundgesetz geschützten Berufsfreiheit?), wird die Schneiderei zumindest von ÖTV und IG Metall begrüßt. Dass es die Verpflichtung des Arbeitsamtes, nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit festzustellen, mit welchen Maßnahmen, Leistungen und Eigenbemühungen die Erwerbslosen wieder in Arbeit zu bringen sind, im § 6 des SGB III schon seit Jahren gibt und somit nur neue Stoffe angepriesen werden, stört dabei keinen. Nur bei den Sanktionen (Sperrzeiten bzw. Streichung der Sozialleistung) besteht noch etwas Uneinigkeit. So sei die ÖTV (ver.di auch?) mit dem Modell durchaus zufrieden, wolle aber erst neue Schneider eingestellt wissen, da die Fertigung der Anzüge doch die Kapazität der vorhandenen Schneider übersteige. Die IG Metall wolle über Sanktionen erst im Oberschneiderrat (da sitzen viele wichtige Schneider und legen die Maßeinheiten fest) reden. Der DGB will bei diesem Spiel um des "Kaisers neue Kleider" nicht mitmachen, da es an der Situation nichts ändere. Wie wahr, als wenn bei der Besetzung der 300.000 offenen Stellen von vier Millionen Arbeitslosen mit karierten Anzügen weniger übrig blieben als bei gestreiften Anzügen. Bei allen Programmen, die durch den "Arbeitswahn" begründet und begrüßt werden, wird nie, aber auch niemals gesagt, wo die vier Millionen Arbeitsplätze sind, die mit den maßgeschneiderten Anzügen besetzt werden sollen. Verschwiegen wird in der Regel auch, dass das für die Erwirtschaftung des Bruttoinlandsprodukts benötigte Arbeitszeitvolumen seit 1960 um ein Viertel gesunken ist.

 

Solidarischer Lastenausgleich à la Schartau

Ein Modellprojekt des nordrhein-westfälischen Arbeits- und Sozialministers soll denn auch verhindern, dass Arbeitslose überhaupt in der Statistik auftauchen: Alle, die über Sozialpläne aus einem Betrieb ausscheiden, sollen in "Transfergesellschaften" (TG) – früher firmierten diese unter "Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften" – qualifiziert, für die Verbesserung ihrer Mobilität trainiert und so wieder in den ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Dagegen ist im ersten Moment nichts einzuwenden – wenn es die Pferdefüße nicht gäbe. So sollen die Abfindungen für den Verlust des Arbeitsplatzes von den ArbeitnehmerInnen in die TG eingebracht werden. Um den Ehrgeiz der ArbeitnehmerInnen zur Wiedereingliederung anzuspornen, sollen diejenigen, die vor Ablauf eines Jahres (auf diesen Zeitraum ist die maximale Verweildauer in der TG begrenzt) wieder in einem Betrieb angestellt werden, einen entsprechenden Anteil ihrer Abfindung zurückerhalten. Je schneller wieder eine Arbeit gefunden wird, desto mehr bleibt also von der Abfindung übrig. Wer nach einem Jahr keinen neuen Job gefunden hat, landet dann doch beim Arbeitsamt (wo wegen § 6 SGB III nach einem weiteren halben Jahr wieder ein neuer Anzug angepasst wird) und ist nebenbei noch seine Abfindung los.

Hier findet neben der gesellschaftlichen Umverteilung von unten nach oben dann auch noch eine persönliche statt. Gut qualifizierte und gesundheitlich nicht beeinträchtigte Betroffene finden schneller wieder eine Stelle und erhalten einen größeren Teil ihrer Abfindung zurück, gering qualifizierte oder gehandicapte Betroffene finden in der Regel erst später oder gar keine Anstellung, und ihre Abfindung wird zur Finanzierung der TG und der kürzeren "Modul-Up-Qualifizierung" der ‘Leistungsfähigeren’ verwendet. Ein solidarisches System, ganz nach dem Motto: Wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, der braucht auch nicht leben!

* Dorothee Fetzer und Günter Brauner leben in Bremen und arbeiten in Erwerbslosenarbeitskreisen der IGM mit.

Erschienen in: express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 5/2001


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